Wissenschaftliche Karrieren, Chancen und Privilegien
BLOG: Heidelberg Laureate Forum
Nachdem er seinen Vortrag im Heidelberger Preisträgerforum beendet und Fragen dazu beantwortet hatte, gab David Patterson noch eine Zugabe: eine kurze Geschichte seiner ungeplanten Karriere als das, was er einen “zufälligen Berkeley-Professor” nannte. Dieser Teil seines Vortrags war in mehr als einer Hinsicht inspirierend. Die Idee, dass wissenschaftliche Kollegen schnurgerade sein müssen und dass jeder, dessen Karriereverlauf vom Optimum abweicht, bereits ein Problem hat, ist potenziell sehr schädlich. Nicht zuletzt entmutigt es Menschen, die Rückschläge erlitten haben, die sich in einer Sackgasse befinden oder darüber nachdenken, ihr Arbeitsfeld zu wechseln, kurz: diejenigen von uns, die sich in Situationen befinden, in denen sie Ermutigung und nicht Entmutigung brauchen.
Pattersons Karriere war in vielerlei Hinsicht zufällig. Er begann als Mathematikstudent und belegte erst dann einen Informatikkurs, als eine seiner Mathematikvorlesungen ausfiel und er sich nach Ersatz umsehen musste. Es folgte eine rasche Begeisterung für das neue Feld, mit dem er vorher noch nicht richtig etwas zu tun gehabt hatte. Patterson wurde Masterstudent in Informatik, weil ein Doktorand in seinem Institut die Initiative ergriff und ihm die entsprechende Stelle verschaffte. Er begann seine Doktorarbeit, weil die anderen drei Kollegen in seinem Büro Doktoranden waren und er sich daraufhin dachte: Warum ich nicht auch? Die Idee, die seine Karriere definieren würde, kam ihm, als er sich nach einer besonders unbefriedigenden Phase seiner Forschung eine Auszeit nahm. (Welche Idee? Die zum Bau von Prozessoren, die weniger und einfache grundlegende Befehle “fest verdrahtet” eingebaut haben, diese einfacheren Befehle aber dafür sehr schnell ausführen können – das Ergebnis, sogenannte RISC-Prozessoren, sind heute in den allermeisten Smartphones und Tablet-Computern im Einsatz.)
Sich bewusst zu sein, dass bei wissenschaftliche (und anderen) Karrieren immer auch der Zufall mit hineinspielt, ist wichtig. Auch da gilt natürlich: Chancen kann nur nutzen, wer richtig darauf vorbereitet ist, also über die nötigen Fähigkeiten und Qualifikatikonen verfügt. Aber für eine erfolgreiche Karriere ist beides vonnöten: Fähigkeiten und Chancen.
Das ist insbesondere für diejenigen Mitmenschen wichtig zu erkennen, die dazu neigen, sich selbst zu unterschätzen (wie es nicht wenige der besten Forscher tun, Stichwort Hochstapler-Syndrom). Zufallselemente sind immer dabei. Eine wissenschaftliche Karriere kann man nicht komplett durchplanen. Versucht man es, dann sind Enttäuschungen geradezu vorprogrammiert – und wenn man Pech hat, verpasst man gleichzeitig die besten unvorhergesehenen Chancen, die sich ergeben.
Das ist der eine Teil der Geschichte von David Patterson. Er wird hoffentlich dazu beitragen, zumindest einigen jungen Forschern, die am HLF teilnehmen (und vielleicht ja auch einigen, die die Aufzeichnung des Vortrags sehen), unbegründete Selbstzweifel zu nehmen.
Aber, wie ein Kommentator auf Twitter freundlicherweise anmerkte, nachdem ich dort einige der Aussagen von Patterson geteilt hatte: es gibt noch eine andere Seite der Medaille. Pattersons wissenschaftliche Karriere beruht, genau wie er es schildert, auf Chancen. Chancen, die Patterson ergriffen hat sind von der anderen Seite aus betrachtet: Chancen, die jemand Patterson geboten hat. Und die Frage ist berechtigt: Wäre das genau so gelaufen, wenn Patterson zwar dieselben Fähigkeiten und dieselbe Persönlichkeit besäße, aber zusätzlich noch schwarz, behindert, eine Frau oder queer oder auch mehreres davon zusammen gewesen wäre? Wohl kaum, und das sowohl in den 1960er und 1970er Jahren, als Patterson Karriere machte, als auch in vieler Hinsicht noch heute.
Hätte der Doktorand, der Patterson seine Masterarbeit verschaffte, den anderen Patterson unter diesen Umständen noch aktiv gefördert? Möglicherweise, aber unter denen, die schwarz, behindert, weiblich und/oder queer sind, gibt es viele, bei denen es in solchen Fällen genau anders verlief, und die nicht ermutigt, sondern entmutigt und behindert wurden. Wer unter Hashtags wie #metoo, #metwo oder #meQueer abseit all der externen Kommentare zu jenen Themen noch die Schilderungen der selbst Betroffenen findet, für die jene Hashtags ursprünglich gedacht waren, findet recht schnell zahlreiche Beispiele.
Hätte Patterson sich unter jenen anderen Umständen entschieden, eine Doktorarbeit zu machen, weil seine drei Bürokollegen eben genau das taten? Gut möglich. Aber es ist eine Sache, Leute zu sehen, die im wesentlichen so sind wie man selbst und sich dann zu sagen: “Hey, wenn die das können, kann ich das auch”. Es ist eine andere Situation, wenn jene drei Leute (und im Grunde genommen fast alle Menschen in deinem Institut), offensichtlich anders sind als du (sie weiß, du schwarz, sie nicht behindert, du behindert, sie männlich, du weiblich und so weiter) und zu entscheiden, dass du trotzdem dasselbe tun kannst wie sie.
Wenn wir noch weiter zurückgehen: Was wäre, wenn du bereits aktiv davon abgehalten worden wärst, in der Schule entsprechende Leistungskurse, Vertiefungskurse, vielleicht sogar Informatikunterricht allgemein zu belegen? Wenn du als Behinderte/r nahegelegt bekämst, doch bitte nicht jenen Kurs mit begrenzter Teilnehmerzahl zu belegen, weil du ja später sowieso keinen richtigen Job bekämst? Auch dazu finden sich zahlreiche Erlebnisberichte auf Twitter.
Das tut Pattersons Bedeutung in der Informatik keinen Abbruch. Im Gegenteil: dadurch, dass er die Rolle der glücklichen Umstände und Chancen für seine wissenschaftliche Karriere so souverän beschreibt, hebt er sich wohltuend von manch anderem erfolgreichen Menschen ab, der die Zufallselemente in seiner Biographie vergisst, sich statttdessen eine Lebensgeschichte zurechtstrickt, in der alles Erreichte auf seine eigenen Leistungen zurückgeht, und der dabei typischerweise auch außer Acht lässt, dass er den ganzen Parcours auf der einfachstmöglichen Schwierigkeitsstufe durchlaufen hat.
Wir werden nie erfahren, wer sonst noch als Turing-, Fields- oder Abel-Preisträger am Heidelberger Preisträgerforum hätte teilnehmen können, hätten die betreffenden Menschen eine ähnliche Förderung und ähnliche Chancen wie Patterson bekommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre die Gruppe der HLF-Laureaten vielfältiger, als sie es tatsächlich ist. Die Konsequenz sollte sein, darauf hinzuarbeiten, Möglichkeiten für jeden zu schaffen, der daran interessiert ist, Forschung in Mathematik, Informatik, anderen wissenschaftlichen Fächern, Ingenieurwesen oder Technologie zu betreiben, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder Grad der Behinderung. Und da gibt es leider noch viel zu tun.
P.S.: Hier sind einige ähnliche HLF-Blogartikel: zur Paneldiskussion über Frauen in der Wissenschaft (auf englisch), zur diesjährigen Ausstellung Frauen in der Mathematik (ebenfalls auf englisch) sowie aus dem letzten Jahr darüber, wie man das Informatikstudium chancengerecht gestaltet sowie über die Gebärdensprache-Dolmetscher beim letzten HLF. (Und ja, wenn man sich die unterrepräsentierten Gruppen anschaut, hat diese Beschäftigung mit dem Thema derzeit noch eine deutliche Schieflage.)
Hallo Markus,
ein sehr schöner Beitrag, der ein erfolgreiches Beispiel zufälliger Karrieren mit einer kritischen Reflektion von Selbstzuschreibungen von Karrieren als rein leistungsbasiert verbindet!
Leider gibt es nah wie vor wenig wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Frage, inwieweit bei wissenschaftlichen Karrieren eine Bestenauswahl stattfindet, wie stark sie also tatsächlich leistungbasiert sind. (Das halte ich wiederum für keinen Zufall ;-)).
Ich habe im Laufe der letzten Jahre mal ein paar Zahlen dazu zusammengetragen und bei verschiedenen Gelegenheiten vorgetragen, wo dies als Impuls für Weiterentwicklungen gewünscht war (siehe z.B.: http://www.researchgate.net/publication/327581929), und die Reaktionen waren überwiegend ermutigend. Ich bin gespannt, inwieweit sich die Zahlen in den nächsten Jahren verändern…
Beste Grüße
René