Wie man wissenschaftliche Durchbrüche generiert

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Könnte so etwas in der Mathematik passieren? Die Geschichte des Werdegangs von Stefan Hell ist, im positiven Sinne, ein wissenschaftliches Märchen: der junge Forscher mit seiner ungewöhnlichen Leitidee – eine Idee die, wenn sie umgesetzt würde, ein grundlegendes Gesetz der Optik umstürzen würde, das seit Jahrhunderten als Lehrbuchwissen gilt. Es folgen Jahre der Verbannung in ein dunkles und kaltes Land (Finnland), dort der Durchbruch, und am Ende das wissenschaftliche Äquivalent von das-halbe-Königreich-und-die-Prinzessin-zur-Frau: eine prestigeträchtige Position und der Nobelpreis. Mit der von Hell entwickelten Methode lässt sich die Beugungsgrenze für herkömmliche (Licht-)Mikroskope überwinden, so dass nun auch Strukturen kleiner als die magische Grenze von 200 Nanometern optisch auflösbar sind – in Hells eigenen Worten: es öffnete sich eine neue Welt.

Stefan Hell während des ersten interdisziplinären 'Lindau Vortrags' in Heidelberg ©HLF/C.Flemming
Stefan Hell während des ersten interdisziplinären Vortrags im Austausch mit den Lindauer Nobelpreisträgergagungen in Heidelberg ©HLFF/C.Flemming

Könnte so etwas in der Mathematik passieren? Verglichen mit mathematischen Theoremen sind physikalische Gesetze so etwas wie Eisberge: Unter der Lehrbuch-Version des Gesetzes – in modernen, bachelortauglichen Büchern auswendiglerngerecht in farbig unterlegter Box vom Haupttext abgesetzt – verbirgt sich eine Vielzahl von Annahmen über die Voraussetzungen. In einem guten Lehrbuch findet man diese Annahmen vollständig in den dem Gesetz benachbarten Textabschnitten; in einem schlechten Lehrbuch findet man sie vielleicht zumindest zum Teil. Ändert man auch nur eine dieser Voraussetzungen, dann könnte es sein, dass auch das Gesetz nicht mehr in derselben Form anwendbar ist.

Im Falle der Forschungen von Hell, wo es um die praktische Verallgemeinerung der Gesetze ging, welche das Auflösungsvermögen von Lichtmikroskopen beschränken, sind es die vielen kleinen, verwischten Bildchen der einzelnen Moleküle des Beobachtungsgegenstandes, die sich überlagern und das insgesamt schärfebegrenzte Bild erzeugen. Die von Hell entwickelte Methode der STED-Mikroskopie verwendet eine spezielle Konfiguration von Lasern, um alle bis auf einige dieser Moleküle “abzuschalten”, so dass nur einige wenige der Moleküle im Bildfeld tatsächlich leuchten. Das “abschalten” durch stimulierte Emission hängt direkt mit den Quanteneigenschaften der Moleküle zusammen; für ein Rezept, um ein vor Entdeckung der Quantentheorie formuliertes Gesetz zumindest in einigen Situationen auszuhebeln, sicher eine angemessene Zutat. Dann kann man die Probe abscannen und dabei Strukturen unterhalb der Beugungsgrenze abbilden. Nicht, weil sich die elementaren Eigenschaften des Lichts geändert hätten, die in das Gesetz eingeflossen sind, sondern weil eine bei der Allgemeinfassung unausgesprochenen Voraussetzungen – unzählige Moleküle strahlen fortlaufend um die Wette Licht aus – sich verändert hat.

Könnte so etwas in der Mathematik passieren? In gewisser Weise passiert es, und zwar routinemäßig. Wenn alles läuft, wie es soll, dann liefert jedes vollständig aufgeschriebene Theorem seine Voraussetzungen mit; jeder, der das Theorem liest, kann sehen, worauf es beruht. Sich eine der Voraussetzungen vorzunehmen, sie abzuschwächen und zu schauen, ob sich der Beweis doch noch führen lässt – in leicht abgewandelter oder vielleicht sogar ganz anderer Form als zuvor – ist eine mathematische Standardtaktik. So gesehen hat Hells Vorgehensweise etwas sehr mathematikpraktisches an sich. Anderseits gilt auch: Wo eine Methode so häufig angewandt wird, kommt ihr kein besonderer Status zu. Und wo alle Voraussetzungen offen genannt wurden, arbeitet es sich gleich anders als bei den physikalischen Eisbergtauchern.

Man kann festhalten: Einige Voraussetzungen sind leichter zu hinterfragen als andere. Und es ist schon vorgekommen, dass einige Voraussetzungen lange Zeit nicht hinterfragt wurden – bis es dann doch soweit war und sich neue Welten eröffneten. Der bekannteste Fall dürfte Euklids fünftes Axiom der Geometrie in der Ebene sein; in einer moderneren Version von John Playfair: Gegeben eine Gerade und einen Punkt, der nicht auf dieser Geraden liegt. Dann gibt es genau eine Gerade durch den gegebenen Punkt, welche die erste Gerade nirgends schneidet. Es hat mehr als 2000 Jahre gedauert, bis Gauß, Bolyai, Lobatschewski und andere diese Voraussetzung fallengelassen und andere, nicht-euklidische Geometrien gefunden haben – so dass sich die Schulgeometrie als nur ein kleiner Teil einer viel reicheren mathematischen Struktur herausstelle. (Auf der Erweiterung durch Riemann baute Albert Einstein später seine Allgemeine Relativitätstheorie auf.)

Fallen euch noch weitere Beispiele ein? Dann schreibt bitte in den Kommentaren etwas dazu! Und wer Hells Eröffnungsvortrag sehen möchte, hat hier zumindest per Video die Gelegenheit dazu.

 

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

3 comments

  1. 1. Russell-Paradox und die Typentheorie
    2. Gödels zweiter Unvollständigkeitssatz und die Kontinuumshypothese
    3. Das Extensionalitätsaxiom (EXT) beispielsweise sagt aus, dass zwei Mengen genau dann gleich sind, wenn sie die gleichen Elemente haben. Dies hört sich zwar ziemlich trivial an, muss jedoch in das Axiomensystem aufgenommen werden, da es keine Möglichkeit gäbe, diese Behauptung nur anhand der anderen Axiome zu beweisen.

  2. Axiomen-Editing (Löschen eines Axioms, Verschmelzen von Axiomenensystemen?) kann also in der Mathematik zu neuen Gefilden (Welten) führen ähnlich wie in der Physik wo eherne Gesetze scheinbar umgestossen werden können indem man andere Physik zum Zuge kommen lässt.
    Das lässt fragen: Gibt es noch andere Analogien zwischen Physik und Mathematik? Gibt es beispielsweise In der Mathematik eine Entsprechung zur Vereinheitlichung in der Physik? Sind also ganze mathematische Gebiete in anderen allgemeineren aufgegangen? Darüber nachzudenken fällt mir selber schwer, weil ich ausser der Schulmathematik kaum etwas kenne. Die Frage müsste also von jemandem beantwortet werden, der die Übersicht über alle – oder mindestens viele – Entwicklungslinien in der Mathematik hat. Diese Leute kann man wohl an einer Hand abzählen.

  3. Die Mathematik ist nicht nur etymologisch herleitbar als Kunst des Lernens (erkennender Subjekte) zu verstehen, sie kann insofern auch anders aufgebaut sein, als eine verhältnismäßig neue Kunst, Vieles hat sich erst in den letzten Jahrhunderten bis Jahrzehnten ergeben, die dreiwertige Logik, wie sie heutzutage in allen DBMSen implementiert ist, ist z.B. keine 100 Jahre alt, sie ist auch nicht sonderlich intuitiv, findet aber Entsprechung in physikalischen Versuchen, zumindest gedankenexperimentell, und das gute alte Höhlengleichnis liefert potentiell Handhabe, dass auch alles anders (insbesondere: formuliert oder mathematisiert) sein könnte.
    Old Gödel hat wohl zudem nachgewiesen, dass bestimmte mathematische Axiomatiken, an Hand der Arithmetik, aus sich heraus instabil sein können, was abär nicht so super-überraschend ist.

    @ Holzherr: Die grundsätzliche Analogie sozusagen zwischen Physiklehre und Mathematik stellt der Veranstaltungscharakter der Suche nach Erkenntnis dar, der jeweils von den Erkenntnissubjekten abhängt, wenn auch in anderen Erkenntnissystemen.
    Wobei das eine Erkenntnissystem tautologisch ist und das andere weltlich, wobei es auch andere Suche nach Erkenntnis gibt, bspw. im Sittlichen, auch bspw, das Hirn meinend, dieses ist nicht rein naturwissenschaftlich anzugehen.

    MFG
    Dr. W (der im Abgang noch anzumängeln hat, dass die CAPTCHAs hier austimen, dies muss nicht sein)

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