Schönheit in der Mathematik
BLOG: Heidelberg Laureate Forum
Christoph Pöppe, Journalist und Teilnehmer beim #hlf14: Im Zweifel ist sie wichtiger als die Wahrheit, sagt Michael Atiyah – fast.
Man mag es ihren Formeln nicht auf den ersten Blick ansehen; aber Mathematiker haben einen ausgeprägten Sinn für Schönheit. Und die meisten würden nicht zögern, den klassischen Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, als schön zu bezeichnen.
Angenommen, es gäbe nur endlich viele Primzahlen. Dann multipliziere sie alle miteinander und zähle 1 dazu. Die Zahl, die dabei herauskommt, ist nicht durch eine der angeblich endlich vielen Primzahlen teilbar, denn sie lässt bei der Division durch jede von ihnen den Rest 1; also ist sie entweder selbst eine Primzahl oder durch eine Primzahl teilbar, die nicht in der Liste steht. Also gibt es mehr Primzahlen, als in der angeblich erschöpfenden Liste stehen, was zu beweisen war.
Sir Michael Atiyah, Jahrgang 1929 und Träger der beiden höchsten Auszeichnungen, die es für Mathematiker gibt (Fields-Medaille und Abelpreis), nähert sich dem Thema “Schönheit” mit Hilfe von Beispielen. In seinem Hauptvortrag auf dem zweiten “Heidelberg Laureate Forum” führt er neben dem genannten Beweis ein weiteres Resultat aus der Zahlentheorie an: Eine Primzahl der Form 4n+1 ist stets Summe zweier Quadrate, eine Primzahl der Form 4n+3 nie.
Der Beweis verdient nicht unbedingt einen Schönheitspreis, die Aussage selbst aber sehr wohl. Ein drittes Beispiel ist der Parkettierungsbeweis des Satzes von Pythagoras, weil man ihn durch einfaches Bilderbetrachten nachvollziehen kann.
Es ist nämlich gar nicht so einfach, Schönheit in der Mathematik zu umschreiben. Atiyah zählt ein paar Kriterien auf: Eleganz, Klarheit, Einfachheit (aber derart, dass sie große Komplexität bewältigt), Originalität, Überraschungseffekt, Tiefe, Bedeutsamkeit. Jedoch zwischen den Zeilen wird klar, dass er ein Stück Mathematik nicht deswegen schön nennt, weil es nach diesen Kriterien eine gewisse Mindestpunktzahl erreicht. Das spürt man einfach.
Atiyah würde bei seinen Fachkollegen mit dieser Behauptung durchaus Zustimmung finden. Der legendäre Paul Erdös hat das Bild in die Welt gesetzt, Gott habe ein Buch, in dem für jede mathematische Behauptung der eleganteste, einfachste, überraschendste … Beweis verzeichnet ist. Entsprechend war der höchste Lobpreis, den Erdös für einen Beweis aussprechen konnte: “Der ist aus dem Buch!” (Die irdische Näherung an das Buch beginnt übrigens mit obigem Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen gibt.)
Die Physiker denken da ganz ähnlich. Nicht wenige sind schon über Maxwells Gleichungen der Elektrodynamik in Verzückung geraten, allen voran Ludwig Boltzmann, der Goethes Ausspruch “War es ein Gott, der diese Zeilen schrieb?” auf die Maxwell-Gleichungen uminterpretierte. Und Atiyah zitiert den mathematischen Physiker Hermann Weyl mit dem Ausspruch “In meiner Arbeit habe ich stets das Schöne mit dem Wahren zu vereinbaren versucht, aber im Konfliktfall habe ich mich normalerweise für das Schöne entschieden”.
Würde Atiyah selbst diesen Satz unterschreiben? So weit geht er dann doch nicht. Aber er verweist auf zwei historische Auseinandersetzungen: einmal die zwischen Hermann Weyl und Albert Einstein (siehe auch Thilo Kuessners Blogbeitrag zum selben Thema), in der Einstein Weyls schöne Theorie zwar als physikalisch falsch widerlegte, diese aber wenige Jahre später im Zusammenhang mit der Quantentheorie eine Rechtfertigung fand. Zum anderen hatte Atiyah selbst 1964 gemeinsam mit Raoul Bott den nach ihnen beiden benannten Fixpunktsatz gefunden – und Recht behalten, nachdem Experten den Satz zunächst als falsch bezeichnet hatten.
Wenn man das weiterdenkt, kommt man zu einer überaus optimistischen Auffassung: Die Mathematik (die Physik, die Welt …) ist schön. Daher hat etwas Schönes eine gute Chance, wahr zu sein, selbst wenn es zunächst nicht so aussieht, und für die Suche nach der Wahrheit ist die Suche nach der Schönheit zumindest eine gute Näherung.
Und der Beweis der keplerschen Vermutung durch Thomas Hales? Der ist so hässlich, dass selbst sein Autor ihn nicht mehr anfassen mag. In der Tat glaubt Atiyah, dass hier das letzte Wort noch nicht gesprochen sei, ebenso bei den Beweisen, die auf massiver Computerhilfe beruhen, mit dem klassischen Beispiel des Vierfarbensatzes.
Aber ob denn die Mathematik nicht nach ewigen Wahrheiten strebe und Schönheit dagegen eine sehr subjektive Angelegenheit sei? Ja, aber, antwortet Atiyah und kontert mit einem geradezu idealistischen philosophischen Ansatz. Wahrheit sei für sein Bewusstsein etwas Externes, das er sich erst erarbeiten muss, Schönheit dagegen sei ein unmittelbares Erlebnis und zähle damit zu den Dingen, deren er sich absolut sicher sein kann.
Christoph Pöppe studierte Mathematik mit Nebenfach Physik in Münster und Heidelberg; er promovierte 1982 über die Lösungen einer ganz merkwürdigen nichtlinearen Wellengleichung. Nach einigen Jahren in der Forschung (darunter Forschungszentrum Jülich und University of Minnesota) wurde er plötzlich 1989 “Spektrum“-Redakteur. Seine ungebrochene Liebe zur Mathematik lebt er nicht nur in seinen Beiträgen für die Zeitschrift aus, sondern gelegentlich auch in Sommerkursen der Deutschen SchülerAkademie und umfangreichen geometrischen Basteleien, für die er manchmal auch größere Gruppen zusammenruft. Die Deutsche Mathematiker-Vereinigung verlieh ihm 2004 ihren Medienpreis “für Verdienste um die Darstellung der Mathematik in der Öffentlichkeit”.
> Und der Beweis der keplerschen Vermutung durch Thomas Hales? Der ist so hässlich, dass selbst sein Autor ihn nicht mehr anfassen mag.
Hales fummelt aber doch noch daran rum: https://code.google.com/p/flyspeck/wiki/AnnouncingCompletion