Michael Atiyah – ein Vorbild für junge Wissenschaftler

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Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

Die letzten Vorbereitungen für das diesjährige Heidelberg Laureate Forum (HLF) werden bereits bis ins kleinste Detail getroffen, schließlich steht es unmittelbar vor der Tür und die Erwartungen und Hoffnungen sind bei allen Teilnehmern entsprechend groß. Eine Woche lang kommen zwei Generationen Wissenschaftler aus den Bereichen Mathematik und Computerwissenschaften in Heidelberg zusammen — die renommierten, hoch anerkannten Laureaten und 200 Nachwuchswissenschaftler in ebendiesen Disziplinen — um sich in einem kunterbunten Mix aus Kulturen über Forschung, Perspektiven und zukünftige Herausforderungen auszutauschen. Generell kann man ja tatsächlich sagen, dass das HLF eine sehr zukunftsbezogene Veranstaltung ist. Innovation und Wandel spielen hier als Kernelemente vieler Vorträge und Gespräche eine tragende Rolle. Und dennoch ist es nie überflüssig, einen Blick zurück zu werfen, bevor man sich an die Zukunft wagt. Fest steht nämlich, dass das 7. HLF im Vergleich zu den bisherigen sechs in einem Aspekt anders sein wird: Es wird auf Grund seines Todes das erste Mal sein, dass Sir Michael Atiyah nicht dabei ist.

Doch wer war dieser Michael Atiyah, der vergangenes Jahr mit seiner Ankündigung, die Riemannsche Vermutung und damit das wohl anspruchsvollste offene Problem der Mathematik gelöst zu haben, für manch einen Medienrummel — sogar außerhalb mathematischer Kreise — sorgte? Er war natürlich weit mehr als das. Nach einer Generation renommierter Mathematiker, die nach der Wende ins 20. Jahrhundert vor allem daran arbeiteten, die Grundlagen der Mathematik auf sicheres Terrain zu bewegen, gehörte Atiyah zu denen, die sich anschließend die Ärmel hochkrempelten und sich an praktische Probleme herantasteten. Und wie er das tat! Nun könnte man eben all diese mathematischen Erfolge Atiyahs und die Würdigungen, die ihm deswegen zuteil wurden, hier anführen. Jedoch ließe sich all diese Information auch bei einer kurzen Recherche selbst herausfinden. Es sind all diese Aspekte, die Atiyah zu großer Berühmtheit führten und ihn zu dem Mathematiker machten, der er war. Und dennoch: Der Person Michael Atiyah wird man mit einer solchen Auflistung nicht gerecht.

Doch kann man so etwas, also die Bedeutung seiner Person in vollem Umfang darzustellen, überhaupt erreichen? Vermutlich nicht gänzlich. Und wahrscheinlich bin ich selbst auch nicht die geeignetste Person für ein solches Unterfangen. Ich werde hier aber versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten und dabei eher auf sein Auftreten eingehen, da vor allem das dazu führte, dass er beim HLF eine so bedeutende Rolle spielte. Ich möchte hier Facetten seiner Person, seines Wesens und seiner Natur schriftlich festhalten, und somit all denen etwas von Atiyah weitergeben, die nicht das Vergnügen hatten, sich mit ihm zu unterhalten oder ihn live zu erleben.

Ein Bild spricht ja bekanntlich mehr als tausend Worte und ein kurzer Austausch mit Atiyah sprach wohl mehr als tausend Bilder. Als Young Researcher beim HLF versucht man bei der Interaktion mit den Laureaten meistens, von deren Lebenserfahrung zu lernen und stellt entsprechend ein Meer an Fragen. Die erfahrenen Mathematiker und Computerwissenschaftler antworten sehr gerne darauf und so entstehen bemerkenswerte und vielschichtige Gespräche. Atiyah war in dieser Hinsicht schon ein bisschen anders, da er direkt den Spieß umdrehte, kaum Fragen zuließ und selbst die jungen Wissenschaftler bis ins kleinste Detail befragte. Sei es über Persönliches oder über den akademischen Werdegang. Alles weckte sein Interesse und über alles schien er zu grübeln und zu sinnieren. Anschließend kamen seine Kommentare dazu und so konnte es passieren, dass seine Tipps und Bemerkungen hinsichtlich der Forschungsarbeit eines jungen Wissenschaftlers so tiefgründig und weitreichend waren, dass daraus ruhig eine ganze Doktorarbeit hätte entstehen können. Als junger Forscher war diese zuvorkommende Art Atiyahs von unschätzbarem Wert, da seine Fähigkeit, Potenzial in jedem zu finden und jeden einzelnen als ungeschliffenen Diamanten zu sehen, in einer akademischen Welt, in der man sich nicht selten mit Selbstzweifeln plagt, besonders ermutigend ist.

Atiyah sprach ständig davon, wie wichtig die nächste Generation Mathematiker und Computerwissenschaftler sei und welche Verantwortung sie übernehmen müsse. Es mag übertrieben klingen, doch fühlte es sich wirklich so an, als würde er eine Woche lang die Figur eines Großvaters der Young Researcher übernehmen. Denn es war nicht so, als wolle er die Nachwuchswissenschaftler mahnen oder warnen, sondern ihnen vielmehr ihre Bedeutung für die Zukunft klarmachen, indem er sie beim HLF in den Vordergrund stellte. Es gab sehr viele kleine Gesten, mit denen Atiyah dies erreichte. Als Beispiel möchte ich hier eine persönliche Erfahrung anführen, die ich mit ihm während des Bayerischen Abends beim HLF erlebte. Wir wurden von den Organisatoren eingeladen, zu dieser Gelegenheit traditionelle Kleidung unseres Heimatlandes zu tragen und da ich selbst einer deutschen Volkstanzgruppe in Argentinien angehöre, ließ ich es mir nicht nehmen, meine Tracht samt Lederhose und traditionellem Hut anzuziehen und anschließend zusammen mit der Gruppe, die dort eine Tanzvorführung präsentierte, selbst zu tanzen. Nach der Amboss-Polka kam Atiyah zu mir, um mir für meinen Auftritt zu gratulieren. Er tat dies aber, indem er angetanzt kam und dabei versuchte, die Bewegungen des Schuhplattlers nachzumachen. Seine Begleitung sagte mir später, dass es für sie witzig sei, dass man immer wieder behaupte, Michael Atiyah würde andere Menschen inspirieren, wenn es doch in diesem Fall ich war, der ihn inspiriert hatte. Seit langem war er nicht so lebensfroh und energisch gehüpft und seit langem hatte er nicht mehr so getanzt, wie dort auf dem Bayerischen Abend. Zu guter Letzt ist diese kleine Geschichte nicht nur ein Beispiel dafür, wie er mit kleinen, subtilen Gesten andere würdigte, sondern auch dafür, dass das HLF für ihn wie eine Verjüngungskur war, in der er sich mit Lebenslust und Jugend umgab und sich ein bisschen davon mitnahm. Mich nannte er seit diesem Abend the Bavarian dancer from Argentina.

Es war aber nicht notwendig, mit ihm zu interagieren, um zu merken, was für ein Mensch er war. Es reichte schon aus, ihn einfach nur zu beobachten und ihm zuzuhören, wenn er was zu sagen hatte, was überdies recht häufig passierte. Kein Thema in der Mathematik oder in den Computerwissenschaften schien ihm uninteressant zu sein und zu allem gab es etwas, was er beitragen konnte. Bis zum letzten Tag zeigte er sich fasziniert von der schöpferischen Kraft der Mathematik, fast schon wie ein stolzer Vater, der der Geburt seines Kindes beiwohnt. Dieser Enthusiasmus und diese Energie hatten etwas Jugendliches, was bestimmt auch erklärt, warum er sich so wohl unter jungen Wissenschaftlern beim HLF fühlte und warum diese ihn so sehr schätzten. Ein weiterer Grund dafür ist sicherlich auch die Art und Weise, wie er über Mathematik sprach. Weit entfernt vom gängigeren mathematischen Diskurs, der sich in Fachwörtern verliert und an dem der gewöhnliche Nicht-Akademiker kaum teilhaben kann, schien Michael Atiyah dank seiner Liebe zu dieser Wissenschaft beinahe schon eine poetische Redensweise angenommen zu haben. Sein Gedicht Dreams etwa spiegelt dies perfekt wider. Auch sprach er zum Beispiel vom Schlüssel zum geheimen Garten der Mathematik, den er besäße und dass er ab und zu jüngere Mathematiker einlade, kurz in den Garten hineinzuschnuppern. Auf jeden Fall war es immer erfrischend, ihm zuzuhören.

Vieles vom dem, was hier geschildert wird, trifft natürlich nicht nur auf Michael Atiyah zu, sondern auf eine Vielzahl der Teilnehmer am HLF, nicht ausschließlich Laureaten. Jedoch kann mit Gewissheit gesagt werden, dass Atiyah wohl diese Eigenschaften in ihrer Gesamtheit verkörperte. Es ist, was ihn für jüngere Wissenschaftler so besonders machte, aber in keine Beschreibung seines Werks passt. So ist dies auch eine Danksagung für den positiven Einfluss, den er auf so viele Menschen hatte. Ich bin froh, dass ich das große Glück habe, einer von diesen Menschen zu sein. Und ich weiß schon jetzt, dass er beim HLF sehr vermisst wird.

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Demian Nahuel Goos is a half-German, half-Argentinian assistant instructor and PhD student in mathematics at Universidad Nacional de Rosario in Argentina, where he also does research in its nuclear research institution. Moreover, he is a teacher in German as a foreign language and a soccer referee. In search of ways to communicate mathematics in a more appealing way, he does artwork about math and mathematicians.   Demian Nahuel Goos ist ein deutsch-argentinischer Assistant Instructor und Doktorand in Mathematik an der Universidad Nacional de Rosario, Argentinien, wo er auch an dessen Kernforschungsinstitut in der Forschung tätig ist. Des Weiteren unterrichtet er Deutsch als Fremdsprache und jobbt als Fußball-Schiedsrichter. Auf der Suche nach Wegen, Mathematik auf eine attraktive Art und Weise zu vermitteln, setzt er sich gerne künstlerisch mit Mathematik und Mathematikern auseinander.

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