Live-Mitschriften beim Heidelberg Laureate Forum

Am Donnerstagmorgen war beim Heidelberg Laureate Forum am unteren Rande der linken Projektion (die üblicherweise die Vortragenden zeigt) eine Live-Mitschrift zu sehen. Angesichts der Komplexität der behandelten Themen war die Mitschrift bemerkenswert gut. Fast alle Fachbegriffe waren richtig wiedergegeben – auch wenn “Gödel’s theorem” zu “goods theorem” wurde) – und der Text erschien sehr, sehr schnell.

Wir haben sowohl dieses Jahr als auch in den Vorjahren viel über verschiedene Bereiche der künstlichen Intelligenz und des Deep Learning gehört. War das hier bereits eine Anwendung solcher Techniken? Meine Neugier war geweckt. Von den Organisatoren erfuhr ich, dass die heutige Mitschrift ein Testlauf sei. Und ja, dabei käme auch das Internet zum Einsatz, aber die Hauptarbeit erledigten zwei menschliche Gehirne: die von Jennifer Schuck bzw. Teri Darrenougue. Jen sitzt in Arizona, Teri in Kalifornien, und die beiden transkribieren die HLF-Vorträge abwechselnd in 15-Minuten-Schichten. Den Ton hören sie quer über den Atlantik via Skype.

Wie die Mitschriften entstehen

Ich wollte herausfinden, wie das funktioniert, und hatte die Gelegenheit, Jen (passenderweise per textbasiertem Chat) zu interviewen. Das nächste Bild zeigt Jen am Donnerstagnachmittag, direkt nach dem Vortrag von Shwetak Patel:

Jen Schuck bei der Arbeit (Bild: J. Schuck)

 

Wenn Sie sich den Bildschirm genau ansehen, hat Dierk Schleicher gerade die Sitzung beendet und stellt die Blitz-Präsentationen der wissenschaftlichen Poster vor. Direkt vor Jen befindet sich das Kernstück der Hardware: eine Stenografiermaschine. Mechanische Versionen solcher Maschinen sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Einsatz. Maschinen dieser Art werden auch heute noch zur Dokumentation von Gerichtsverfahren oder Parlaments-Sitzungen verwendet – und eben zur Erstellung von Live-Mitschriften. (Tatsächlich haben sowohl Jen als auch Teri ursprünglich im Justizsystem angefangen.) Die Maschine vor Jen ist eine elektronische Version, die ihre Ergebnisse direkt an den Computer auf Jens Schreibtisch und von dort an die Medientechnik des HLF übermittelt.

Und jetzt bitte 80.000 Abkürzungen auswendig lernen

Stenografiermaschinen besitzen weniger Tasten als normale Tastaturen. Jens Modell hat nur 26 Tasten. Zum Ausgleich akzeptiert die Maschine, im Gegensatz zu herkömmlichen Tastaturen, auch Kombinationen von mehreren gleichzeitig gedrückten Tasten! Einige Kombinationen stellen Silben dar, so dass Mitschreibende direkt eingeben können, was sie hören. Aber das alleine wäre nicht schnell genug. Um bis zu 240 Wörter pro Minute zu erreichen, wie es Jen tut, muss man Abkürzungen verwenden – Zeichenkombinationen, welche die Software in Worte oder ganze Wortreihen umwandelt.

Jen kennt rund 80.000 solcher Abkürzungen auswendig, so dass sie längere Wörter oder Phrasen mit einer einzigen Tastenkombination schreiben kann. Teri und Jen haben weitere 300 Kombinationen gezielt für das HLF vorbereitet und in ihre Datenbanken eingef[gt. “ST*GD” steht zum Beispiel für “stochastic gradient descent”, eine im Alltag eher unübliche Wortkombination, die in der Vorlesung von John Hopcroft am Donnerstagmorgen aber recht häufig zu hören war. Für die ungewöhnlicheren Wörter hat Jen für jeden Vortrag eine Liste als Gedächtnisstütze vor sich. Wo die Präsentationen vorab verfügbar waren, haben die beiden ihre Transkription auf dieser Grundlage vorbereitet. Wo kein zusätzliches Material zur Verfügung stand, recherchierten die beiden anhand des Vortragstitels, welche Fachausdrücke zu erwarten waren. Je mehr Informationen die beiden haben, desto besser ist die Mitschrift.

Medaillen, künstliche Intelligenz und Zahlen

Als ich die Gedächtnisleistung der beiden als olympiareif lobe, erzählt mir Jen von Intersteno, dem internationalen Treffen der Stenografen, zu dem auch Wettbewerbe gehören.  Jen gewann auf der diesjährigen Intersteno in Cagliari, Sardinien, eine Bronzemedaille für das schnelle Transkribieren (Kategorie Stenografiemaschinen) und zwei Jahre zuvor auf der Intersteno in Berlin sogar eine Goldmedaille in derselben Disziplin.

Vor allem angesichts der Fortschritte bei der künstlichen Intelligenz und beim Deep Learning, beide Gegenstand einer Reihe von HLF-Vorträgen in diesem Jahr, habe ich Jen direkt gefragt. Fürchtet sie, dass sie bald durch Software ersetzt werden wird? Das, sagt Jen, sei in den letzten 20+ Jahren in ihrem Beruf heiß diskutiert worden. Aber zumindest auf absehbare Zeit glaubt sie, dass hochwertige Mitschriften nach wie vor auf die Hilfe von Menschen angewiesen sind – wenn diese Menschen auch womöglich in der Zukunft nicht dieselbe Rolle spielen wie heute. Sie hofft natürlich, dass ihr das Arbeitsgebiet noch eine Weile erhalten bleiben wird.

Aber zurück in die Gegenwart: Für diejenigen HLF-Teilnehmer, die keine englischen Muttersprachler sind, bieten die Transkripte des heutigen Donnerstags sicherlich zusätzliche Hilfe. Sie würden auch gehörlosen Teilnehmern helfen, den Vortrag zu verfolgen (vor zwei Jahren hatten wir dafür spezielle Gebärdensprachdolmetscher). Insgesamt haben Jen und Teri an diesem Donnerstag Vorträge mit einer Gesamtlänge von 225 Minuten transkribiert, mit rund 34.000 niedergeschriebenen Wörtern. Zumindest nach dem, was ich davon gesehen habe, war der Testlauf ein Erfolg – und ich hoffe, dass die Organisatoren die allgemeine Barrierefreiheit des HLF erhöhen, in dem sie diesen Service ab dem 8. HLF 2020 flächendeckend einführen.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

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