Klare und angewandte Mathematik

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Laureates of mathematics and computer science meet the next generation
Heidelberg Laureate Forum

Tim Conrad, HLF14-Teilnehmer: Wenn ich die vielfältigen Eindrücke der Vorträge der vergangenen Tage Revue passieren lasse, fallen mir einige Dinge auf, die – zumindest in meinem Alltag – nicht mit der gleichen Wichtigkeit vorkommen. Da war zunächst einmal der Vortrag von Michael Atiyah über die Schönheit der Mathematik. Eine der zentralen Aussagen daraus: Formeln und Beweise sollen „elegant“ und „schön“ sein.

Wie genau sich jetzt ein schöner Beweis von einem hässlichen unterscheidet konnte ich auch in mehreren Diskussionen mit anderen HLF Teilnehmern nicht klären – jeder hat da wohl seine eigene Vorstellung. Worauf wir uns aber schließlich einigen konnten war, dass es wohl etwas mit Klarheit und intuitiver Nachvollziehbarkeit einzelner Schritte zu tun hat. Immer wieder werden bei solchen Diskussionen die sogenannten Computerbeweise für (meistens) sehr hässliche Beispiele angeführt und bemerkt, dass ein Mensch den gleichen Beweis doch sicherlich „eleganter“ und kürzer hätte darstellen können.

In eine ähnliche Richtung zielte auch Leslie Lamport, der in seinem Beitrag sehr emotional und überzeugend darüber referierte, wie wichtig insbesondere Klarheit und Verständlichkeit in der mathematischen Kommunikation seien (wiederum hauptsächlich im Zusammenhang mit Beweisen). Dieser Vortrag gefiel mir besser, eben weil ich hier die klare Botschaft und den direkten Nutzen sehe. Natürlich sollte es mir – wie von Lamport gefordert – möglich sein, mathematische Argumente eines Kollegen zu verstehen, ohne dass ich bei jedem seiner Schritte mühsam Sekundärliteratur wälzen muss, um nachzuvollziehen, welche Regeln jetzt gerade angewendet wurden – und ob das überhaupt zulässig ist. Kurzum: jeder Schritt sollte genug zusätzliche Hinweise enthalten, damit das Gesamt(kunst?)werk einfach zu überprüfen und damit verständlich ist. Dass dies leider nicht allen Wissenschaftlern gelingt, lässt sich in aktueller Fachliteratur nachvollziehen.

Michael Atiyah Credit: hlff / Flemming
Michael Atiyah Credit: hlff/Flemming
Leslie Lamport Credit: hlff / Kreutzer
Leslie Lamport Credit: hlff/Kreutzer
William Kahan Credit: hlff/Flemming
William Kahan Credit: hlff/Flemming

Gerade im Zusammenhang mit den „Geschichten aus dem Alltag“ von William Kahan nimmt dieses Thema sogar ein bedrohliches Ausmaß an. Er beschreibt unter anderem anhand von sehr besorgniserregenden Beispielen was passieren kann, wenn mathematische Algorithmen und deren Umsetzung in Steuerungssoftware von komplexen Maschinen (Raketen, Flugzeuge, Reaktoren, …) nicht mehr vollständig verstanden und überprüfbar sind. (In Kurzform: Flugzeug stürzt ab, Rakete explodiert, Reaktor explodiert.) Viele dieser Beispiele sind auf seiner Homepage beschrieben und abrufbar.

Dieser Vortrag war auch von einem anderen Gesichtspunkt außergewöhnlich. Denn er hatte eine angewandte Komponente, in der die Mathematik in unserem täglichen Leben direkte Konsequenzen hat bzw. haben kann. Wir alle kennen ja die üblichen Beispiele aus der sogenannten angewandten Mathematik: Kompression von Musik im MP3 Format, Simulation von Klimamodellen oder computergestützte Diagnostik in der Medizin. (Weitere Beispiele sind z.B. hier zu finden.) Diese „Nähe zur Anwendung“ ist bisher nur in wenigen Vorträgen zu finden.

Hier meine persönliche „Best of Anwendungen“ Liste:

(1) Manuel Blum erklärte, wie man mit Mathematik gute Passwörter für verschiedene Webseiten erzeugen kann. (Ich bin allerdings skeptisch, dass das im Alltag so toll funktioniert.)

(2) Wendelin Werner konnte zeigen, wie man durch eine Veränderung im zugrundeliegenden mathematischen Wahl-System erreichen kann, dass die eigene Stimme (gefühlt) tatsächlich etwas wert ist.

Wer jetzt denkt: „Wie jetzt – eine Best-Of Liste mit zwei Einträgen? Wohl nie bei den Vorträgen gewesen?“ Dem kann ich entgegnen: Doch, doch – natürlich war ich bei allen Vorträgen – so etwas lässt man sich nicht entgehen. Aber die theoretisch ausgerichteten Beiträge haben einfach überwogen. Ich will (jetzt und hier) keine Diskussion von „reiner“ versus „angewandter“ Mathematik starten. Meiner Meinung nach sollten wir – gerade in Deutschland – stolz darauf sein, dass es in beiden Bereichen großartige und weltweit anerkannte Wissenschaftler gibt und auch zahlreiche Förderprogramme. Es ist einfach nur eine Beobachtung der diesjährigen Situation beim HLF, und jeder, der sich doch auf die eine oder andere Seite schlagen will, der sollte einmal über das folgende Zitat von Henry O. Pollack nachdenken: „Applied mathematics is mathematics for which I happen to know an application. This, I think, includes almost everything in mathematics.“


Tim Conrad
Tim Conrad

Tim Conrad arbeitet als Abteilungsleiter im Forschungscampus MODAL der Freien Universität Berlin und des Zuse-Instituts Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Entwicklung von mathematischen Methoden zur Analyse von biomedizinischen Daten, damit Volkskrankheiten wie Krebs und Diabetes früher erkannt und besser behandelt werden können. Als Gewinner des Klaus-Tschira-Preises darf er dieses Jahr bereits zum zweiten Mal am HLF teilnehmen.

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