Zum gefühlten Du – wie man zu Koryphäen Distanz abbaut


Bei mir hat es fast ein Jahr lang gedauert, bis ich vom Sie zum Du kam und auch so gefühlt habe. Der Betreuer meiner Diplomarbeit hatte mir kurz nachdem ich anfing in seinem Labor zu arbeiten gesagt: “Nenn mich doch einfach Michael“. Obwohl mir das “Du” verbal relativ schnell glückte, war nonverbal doch ein gößerer Schritt von Nöten, bis ich mich auch auf Augenhöhe fühlte und nicht nur so sprach.
Ich habe mich vorgestern Abend, am Tag der Eröffnung des Heidelberg Laureate Forums, an meine Zeit als Diplomand erinnert. Es war häufig der Respekt der Teilnehmer vor den Laureaten und die dadurch entstehende Distanz zwischen den Koryphäen und dem Nachwuchs zu spüren. Der von festlicher Musik untermalte, gladiatorengleiche Einzug der Laureaten in die Aula der Neuen Universität tat ihr übriges.
Zum Glück taten die Laureaten ihr bestes, um diese Distanz direkt wieder zu verkürzen. Schon beim gemeinsamen Abendessen im Marstall hier in Heidelberg saßen die Gewinner von Turing Award, Abelpreis und Fields Medaille mitten unter den Nachwuchswissenschaftlern, und bei der Konversation auf Englisch ist man natürlich sofort beim “Du”.
Weitere Distanz wurde gestern morgen in den Vorlesungen von John Hopcroft und Michael Atiyah abgebaut. Beide hielten unterhaltsame Vorträge über die Vergangenheit und Zukunft der Computerwissenschaften, beide wirkten vollkommen ohne Standesdünkel und beide sprachen vor allem direkt die Nachwuchswissenschaftler an, und hoben die sich ihnen bietenden Möglichkeiten hervor. Man konnte fast meinen, die Herren waren etwas neidisch auf die Jugend.
Beim Mittagessen gestern war dann von Distanz nichts mehr zu spüren. Fast schien es, als hätten die Teilnehmer der Tagung den Rat von Jan Poleszczuk, Teilnehmer des ersten Forums 2013, instinktiv beherzigt und einfach mal Fragen gestellt. Alle Laureaten, die ich an den Tischen in der Uni Cafeteria sah, waren jedenfalls in Gespräche vertieft, viele in scheinbar mehrere gleichzeitig.



Distanzwahrung ist wohl auch eine deutsche Tugend, es ist schon bemerkenswert, wie sich im Deutschen idR in der Dritten (!) Person Plural (!) angeredet wird.
Allerdings eine Tugend, die gerade für Berichterstatter, Journalisten oder Tagesschreiber nicht schlecht sein muss.
Leistende oder Mächtige sind in “unseren” Gesellschaftssystemen verblüffend oft volksnah, wer Politiker getroffen hat, mag hier zustimmen, aber auch (direkt) Leistende sind nicht so gerne distanziert, auf Leistung abhebend und polemisch.
Obwohl dies gar nicht so schlecht wäre, gelegentlich, denn distanzierende Polemik findet ihre Begründung darin, dass Erkenntnis in “n:m”-Beziehungen zu Erkennenden verwaltet wird, nicht anders zu verstehen ist im skeptizistischen Sinne, und so Erkenntnis immer auch Person meint, Dissens als Qualitätsmerkmal des distanzierenden Diskurses, auch des wissenschaftlichen.
MFG + schöne Woche noch,
Dr. Webbaer