Zeitumstellung: wenn das Gehirn aus dem Takt kommt
Es ist wieder so weit: gestern wurden die Uhren auf die Winterzeit (Standardzeit) zurückgestellt. Wie jedes Jahr ging damit auch wieder die Diskussion um den Sinn und Unsinn der Zeitumstellung los, welche bei den meisten Deutschen sehr unbeliebt ist. Diese Debatte könnte eigentlich längst vorbei sein – denn die medizinische Datenlage zur Zeitumstellung ist klar.
Schlaganfälle häufen sich nach der Zeitumstellung
Eine große finnische Studie untersuchte von 2004 bis 2013 den Effekt der Zeitumstellung auf die Schlaganfallrate (1). Fast 15.000 Patientinnen und Patienten gingen in die Untersuchung ein. Das Ergebnis: In den zwei Tagen nach der Zeitumstellung stieg die Schlaganfallrate um 8% im Vergleich zu den Kontrollwochen; bei älteren Menschen (>65Jahre) sogar um 20% und bei Krebspatienten um 25%, Frauen waren insgesamt häufiger betroffen. Wichtig zu erwähnen ist hierbei, dass die Gesamtmortalität, also die Sterblichkeit, nicht anstieg. Es wurden also zwar mehr Menschen wegen ischämischen Schlaganfällen in Kliniken eingeliefert, diese Fälle fielen jedoch nicht so ins Gewicht, dass davon die Sterblichkeitsrate beeinflusst worden wäre.
Da von den Zeitumstellungen global jedes halbe Jahr wieder 1,5 Milliarden Menschen betroffen sind, ist es allerdings fraglich, ob eine leicht erhöhte Schlaganfallzahl sich nicht doch aufrechnet – und falls nicht in Sterblichkeit, so doch vermutlich in Gesundheitskosten.
Auch Herzinfarkte nehmen nach der Zeitumstellung zu
Schlaganfälle sind ein Beispiel für kardiovaskuläre Erkrankungen, zu denen auch der Herzinfarkt zählt. 2008 erschien eine Studie im hochkarätigen New England Journal of Medicine, in dem auch Herzinfarkte etwas häufiger in den ein bis zwei Tagen nach der Zeitumstellung beobachtet wurden (2). Die Studie wurde 1987 bis 2006 erhoben und fand, wie schon die finnische Studie, dass Frauen ein größeres kardiovaskuläres Risiko hatten. Eine italienische Meta-Analyse, also eine vergleichende Auswertung mehrerer Studien mit insgesamt über 115.000 Patientinnen und Patienten, bestätigt ein um etwa 5% höheres Herzinfarktrisiko nach der Zeitumstellung (3).
Nur nach der Sommerzeitumstellung: Anstieg der Verkehrsunfälle
Eine Studie jüngeren Datums untersuchte Effekte der Zeitumstellung auf Verkehrsunfälle (4). In Registerdaten von über 700.000 Unfällen zwischen 1996 und 2017 wurde eine Häufung von 6% mehr Unfällen in der Woche nach der Umstellung auf die Sommerzeit gefunden. Die Effekte konnten nicht mit einem Straßenbeleuchtungseffekt erklärt werden, also der Tatsache, dass es bei der Umstellung auf die Sommerzeit morgens länger dunkel bleibt. Denn nach der Zeitumstellung fanden auch nachmittags mehr Unfälle als üblich statt. Die Ursache scheint also, nicht gerade überraschend, eher auf Schlafdefizite rückführbar zu sein.
Und die Schlafqualität leidet nachweisbar nach der Zeitumstellung: bei über 55.000 Probandinnen und Probanden sank die Gesamtschlafzeit in der Woche nach der Zeitumstellung durchschnittlich um 15 bis 20 Minuten pro Nacht; bei Schülerinnen und Schülern sogar um 30 Minuten (5). Von diesen Zahlen sollte man sich nicht täuschen lassen: eine halbe Stunde Schlafentzug hat bereits einen spürbaren Effekt. Neben einer reduzierten Gesamtschlafzeit berichteten die Probandinnen und Probanden darüber hinaus ganze zwei Wochen nach der Zeitumstellung noch von einer insgesamt verschlechterten Schlafqualität.
Die Neurobiologie der ‘Inneren Uhr’
Neurobiologisch (bzw. chronobiologisch) sind diese Erkenntnisse wenig überraschend, da lange bekannt ist, dass mindestens 10% des menschlichen Körpergewebes einen zirkadianen Rhythmus hat, also eine ‚Innere Uhr.‘ Das erklärt zum Beispiel, dass Schlaganfälle und Herzinfarkte normalerweise gehäuft in den frühen Morgenstunden auftreten. Und warum manche Menschen frühmorgens besser aus dem Bett kommen als andere, die wiederum abends besser funktionieren – obwohl Schule und Arbeitsleben hier keinerlei Rücksicht nehmen und auf die Frühaufsteher zugeschnitten sind.
Einige tausende Gene, die in den zirkadianen Zellen vorkommen, oszillieren periodisch in ihrer Aktivität. Die wohl wichtigste Periode ist dabei der 24h-Rhythmus. Gerade in den stoffwechselaktiven Organen wie Gehirn, Leber und Niere ist der Anteil der aktiven zirkadianen Gene hoch. Das wiederum hat große klinische Bedeutung: Leber und Niere sind die wichtigsten Organe, wenn es um die Verstoffwechselung und Ausscheidung von Medikamenten geht. „Nehmen Sie diese Medikamente möglichst immer zur selben Zeit ein“ ist ein Satz, den viele Menschen kennen dürften. Der Grund liegt in der Chronobiologie unserer Zellen. Von der Verabreichung von klassischen Medikamenten über Hormontherapien bis hin zur Chemotherapie hat das Timing mehr oder weniger großen Einfluss auf das Anschlagen der Moleküle in den Zielgeweben. Bereits minimale Einschnitte in unseren 24h-Rhythmus beeinflussen dabei das rhythmische Funktionieren unserer Organe. Zum Beispiel ein unüblich spätes Essen (der berüchtigte Mitternachtssnack (6)); oder eben eine Stunde Zeitumstellung.
Wen betreffen die Erkenntnisse der Schlafforschung?
Die Idee zur Zeitumstellung hat ökonomische Gründe. Es sollten Energie und damit letztlich Geld gespart werden – eine Hoffnung, die nicht von Erfolg gekrönt war, da Studien, zumindest für die USA, einen Rückgang des Stromverbrauchs von mageren 0,02% ergaben.
Vom Kosten-Nutzen-Verhältnis einmal abgesehen, ist die Haltung aller wissenschaftlichen Fachakademien zur Zeitumstellung glasklar: sie sollte abgeschafft werden, besser wäre eine permanente Einstellung auf die Standardzeit (also Winterzeit) (7). So wandten sich zum Beispiel die European Sleep Research Society, die European Biological Rhythms Society und die Society for Research on Biological Rhythms mit einem entsprechenden Aufruf an die EU-Kommission. Denn es ist längst Konsens, dass aus einer verminderten Schlafqualität eine Vielzahl negativer Effekte auf unsere Gesundheit entstehen. Zu den kurzfristigen zählen, neben den oben genannten kardiovaskulären Erkrankungen, verlängerte Reaktionszeiten und Konzentrationsprobleme und dementsprechend eine Zunahme an Arbeitsunfällen (8). Zu den Problemen durch chronische Schlafprobleme zählen Gewichtszunahme, Diabetes, Depression und Demenz.
Diese Erkenntnisse stammen übrigens zu großen Teilen aus Studien mit Arbeiterinnen und Arbeitern, welche Nachtschichten ableisten müssen. Wenn man sich nun einmal klar macht, welche Berufe das so betrifft – zum Beispiel Pflegekräfte, Ärztinnen und Ärzte, Polizistinnen und Polizisten, Feuerwehrleute – dann fallen insbesondere die vielbeschworenen ‚systemrelevanten‘ Berufe darunter. Also jene unverzichtbaren Berufe, ohne die schlicht nichts mehr laufen würde. Wenn sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Schlafmangel weiter durchsetzen, wird hier bildungs- und berufspolitisch noch einiges zu diskutieren sein.
Quellen
(1) Sipilä, J. O., Ruuskanen, J. O., Rautava, P., & Kytö, V. (2016). Changes in ischemic stroke occurrence following daylight saving time transitions. Sleep Medicine, 27, 20-24.
(2) Janszky, I., & Ljung, R. (2008). Shifts to and from daylight saving time and incidence of myocardial infarction. New England Journal of Medicine, 359(18), 1966-1968.
(3) Manzoli, L., Flacco, M. E., Bravi, F., Carradori, T., Cappadona, R., Fabbian, F., … & Manfredini, R. (2019). Daylight saving time and acute myocardial infarction: a meta-analysis. European Journal of Public Health, 29(Supplement_4), ckz187-082.
(4) Fritz, J., VoPham, T., Wright, K. P., & Vetter, C. (2020). A chronobiological evaluation of the acute effects of daylight saving time on traffic accident risk. Current biology, 30(4), 729-735.
(5) Kantermann, T., Juda, M., Merrow, M., & Roenneberg, T. (2007). The human circadian clock’s seasonal adjustment is disrupted by daylight saving time. Current Biology, 17(22), 1996-2000.
(6) Damiola, F., Le Minh, N., Preitner, N., Kornmann, B., Fleury-Olela, F., & Schibler, U. (2000). Restricted feeding uncouples circadian oscillators in peripheral tissues from the central pacemaker in the suprachiasmatic nucleus. Genes & development, 14(23), 2950-2961.
(7)
Rishi, M. A., Cheng, J. Y., Strang, A. R., Sexton-Radek, K., Ganguly, G., Licis, A., … & Sullivan, S. S. (2024). Permanent standard time is the optimal choice for health and safety: an American Academy of Sleep Medicine position statement. Journal of clinical sleep medicine, 20(1), 121-125.
Rishi, M. A., Ahmed, O., Barrantes Perez, J. H., Berneking, M., Dombrowsky, J., Flynn-Evans, E. E., … & Gurubhagavatula, I. (2020). Daylight saving time: an American Academy of Sleep Medicine position statement. Journal of clinical sleep medicine, 16(10), 1781-1784.
To_the_EU_Commission_on_DST.pdf
(8) Barnes, C. M., & Wagner, D. T. (2009). Changing to daylight saving time cuts into sleep and increases workplace injuries. Journal of applied psychology, 94(5), 1305.
Interessierte Fragen:
Und was lernen wir daraus für die Ferienflüge in Zielgebiete einer anderen Zeitzone, hin in den Uralub und zurück in den Alltag?
Gibt es Untersuchungen über Effekte bei Menschen, die über Zeitzonengrenzen hinweg täglich zur Arbeit und wieder nach Hause pendeln?
Gibt es Untersuchungen über Effekte bei Menschen, die in Gebieten mit erheblicher Abweichung der Sonnenzeit von der Zeitzonen-Uhrzeit leben?
Nachtrag:
Nicht die Zeit wird umgestellt, sondern die Uhren, die Uhrzeit wird verstellt.
Ebenso gibt es keine ‘Winterzeit’, sondern, wie im Zusatz korrekt angegeben, die Standard- oder Normalzeit.
Nach Abschaffung der Sommerzeit kann man sich von einer einheitlichen europäischen (EU) Zeitzone verabschieden
David Wurzer schrieb (28. Okt 2024):
> Es ist wieder so weit: gestern wurden die Uhren auf die Winterzeit (Standardzeit) zurückgestellt. Wie jedes Jahr ging damit auch wieder die Diskussion um den Sinn und Unsinn der Zeitumstellung los,
… In der Tat. …
> welche bei den meisten Deutschen sehr unbeliebt ist.
Woher könnte das denn irgendwer wissen ??
Ich wurde dazu jedenfalls (noch) nicht befragt — und ich kenne übrigens auch niemand, der mir gegenüber zu erkennen gegeben hätte, dazu mal befragt worden zu sein — und für mich, zum Beispiel, gibt es gute und überwiegende Gründe sowohl für die Sommerzeit im Sommer, als auch für die Winterzeit im Winter. Des Weiteren empfinde ich persönlich die damit verbundenen halb-jährlichen Unstellungen als Lappalien, und finde deren (in Deutschland geltenden) Termine günstig gewählt.
> Eine große finnische Studie [ https://scilogs.spektrum.de/hirn-und-weg/zeitumstellung-wenn-das-gehirn-aus-dem-takt-kommt/#:~:text=Eine%20gro%C3%9Fe%20finnische%20Studie%20untersuchte%20von%202004%20bis%202013%20den%20Effekt%20der%20Zeitumstellung%20auf ] untersuchte von 2004 bis 2013 den Effekt der Zeitumstellung auf […]
Da diese Studie offenbar nicht Barriere-frei lesbar ist:
– Welche Gruppen wurden ausgewählt und verglichen ?
– Gab es methodische Maßnahmen zur Verblindung dieser Studie ?
Man sollte nicht jede Umfrage in Zweifel ziehen, bei der man nicht selbst befragt worden ist – da bliebe am Ende nicht viel übrig. Die Sachlage ist relativ klar, entsprechende (auch repräsentative) Umfragen finden Sie mit einer einfachen Google Suche:
https://caas.content.dak.de/caas/v1/media/83224/data/bae623ab680ce5683c828b9440de1ccc/241025-download-zeitumstellung.pdf
https://yougov.de/politics/articles/45452-drei-viertel-der-deutschen-wollen-abschaffung-der-
Hier die finnische Studie nochmal im pdf. Die anonymisierten Patientendaten stammen aus dem finnischen Nationalregister, in dem alle je aufgetretenen Schlaganfälle dokumentiert werden. Es handelt sich hier also nicht um ein zu verblindendes prospektives Experiment, sondern um eine statistische Auswertung aller aufgetretenen Fälle, wo sich eben eine Häufung zwei Tage nach der Zeitumstellung beobachten lässt, im Vergleich zu allen anderen Tagen.
David Wurzer schrieb (29.10.2024, 14:16 Uhr):
> Man sollte nicht jede Umfrage in Zweifel ziehen, bei der man nicht selbst befragt worden ist – da bliebe am Ende nicht viel übrig.
Gewiss.
In den Fällen, in denen es für die Abstimmenden aber “um etwas geht”, weil aus den Abstimmungs-Ergebnissen Konsequenzen gezogen würden, die diese Abstimmenden ggf. selbst beträfen und denen sie sich ggf. auch zu beugen hätten, ist sogar der bloße Anschein von Zweifelhaftigkeit bekanntlich jeweils durch ein Referendum überzeugend auszuräumen.
> Hier die finnische Studie [ https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1389945716302222?fr=RR-2&ref=pdf_download&rr=8da41bed398958d8 ] nochmal im pdf.
Die nun angegebene Link ist aber ganz offensichtlich (auch) nicht zur pdf-Datei (des Artikels) an sich;
sondern (zumindest für mich) doch nur zu genau der (inhaltlich) selben Webseite, die auch schon durch die Link im obigen SciLog-Artikel erreicht wird.
Na — auch gut; die direkten Antworten auf meine obigen Fragen (vielen Dank dafür!) sind ja Aufschluss-reich genug:
> Die anonymisierten Patientendaten stammen aus dem finnischen Nationalregister, in dem alle je aufgetretenen Schlaganfälle dokumentiert werden. Es handelt sich hier also nicht um ein zu verblindendes prospektives Experiment, sondern um eine statistische Auswertung aller aufgetretenen Fälle, wo sich eben eine Häufung zwei Tage nach der Zeitumstellung beobachten lässt, im Vergleich zu allen anderen Tagen.
Das bestätigt meine Erwartungen.
p.s.
Ohne Äpfel mit Birnen vergleichen zu wollen, oder etwa Werbung für Glücksspiel zu machen, bin ich nun doch auch neugierig,
ob unter jenen (“Tippern”), die sich an großen, Europa-weit ausgespielten Lotterien beteiligen, rund um den jeweiligen “Tag einer Ziehung” ähnliche Häufungen feststellen ließen. …
Frank Wappler,
“Weiteren empfinde ich persönlich die damit verbundenen halb-jährlichen Unstellungen als Lappalien,”
Kleinigkeiten können sensible Menschen verunsichen. Mich persönlich stört die Umstellung , abends essen wir um 19.30 Uhr. Der Magen hat sich daran gewöhnt.
Jetzt muss ich eine Stunde warten. Der Magen hat kein Verständnis für die Winterzeit. Und dann knurrt er auch mal.
Es ist nicht das Gehirn, das aus dem Takt kommt, es ist der Magen.
Und alle Kühe werden mir zumuhen !
N schrieb (29.10.2024, 20:37 Uhr):
> […] Mich persönlich stört die Umstellung , abends essen wir um 19.30 Uhr. Der Magen hat sich daran gewöhnt.
Jetzt muss ich eine Stunde warten. Der Magen hat kein Verständnis für die Winterzeit.
Demnach ist es nicht das bloße (forcierte Um-)Stellen von Uhr-Anzeigen an sich, das störend wirkt; sondern:
Dass “sich dies und das”, worauf wir selbst keinen Einfluss haben (oder keinen nehmen wollen) danach richtet:
Arbeits-, Öffnungs-, Schließ-, Fahr-, Sende-, Versorgungs-, Ruhe-, Mahl- bzw. Fütterzeiten fallen mir da (auch) sofort ein.
Gewisse Flexibilität in solchen Konventionen, u.a. auch angepasst an die veränderliche Länge des lichten Tages, könnte ja in manchen Fällen ganz angenehm sein — bedeutet ggf. aber leider auch “den Untergang der Mittel-Europäischen Zivilisation”.
Na — dann soll sie doch! (so allmählich) …
Frank Wappler,
Sogar die Blumen richten sich beim Blühen nach der Tageszeit.
Wenn Sie der Flexibilität das Wort reden, dann bin ich für die Wiedereinführung der Ortszeit bei den Ortsansässigen und bei den Reisenden, die dürfen dann weiterhin die MEZ nehmen, wegen der Fahrpläne.
Der Untergang des Abendlandes wurde ja schon vor 120 Jahren von Oswald Spengler geweissagt. Wer ein Ferienhaus auf Honolulu hat, den interressiert das auch nicht.