Von Säbelzahntigern zu Deadlines: Wissenschaftliche Einblicke in Alltagsstress
„Okay. Ich bin wie immer etwas gestresst“. Das ist die Antwort, die ich für gewöhnlich auf die Frage „Wie geht es Dir?“ gebe. Kennt man eigentlich so. Laut einer Umfrage der Techniker Krankenkasse von 2021 stehen mehr als ein Viertel der Deutschen unter häufigem Stress und 64% der Menschen sind manchmal gestresst. Das sind rund 30% mehr als in einer Umfrage aus 2013. Die häufigste Ursache ist dabei die Arbeit beziehungsweise die Schule, Ausbildung oder das Studium. Es ist nicht weit hergeholt, Stress als Alltagsphänomen zu beschreiben. In diesem Blogpost schauen wir uns an, was Stress eigentlich ist. Außerdem habe ich einen Wissenschaftler gefragt, wie Stress überhaupt erforscht wird und was wirklich helfen kann.
Guter und schlechter Stress
Nicht jeder Stress ist per-se schlecht. Wir können zwischen Eustress und Distress unterscheiden. Eustress ist „positiver Stress“ und wird durch positive Stressoren ausgelöst, in der Regel sind dies Aufgaben, die zwar herausfordernd sein mögen, die wir jedoch bewältigen können. Wir verspüren Tatendrang, Motivation, sind aktiv und ausgelastet, aber nicht überlastet. Tritt die Überlastung ein, kann Eustress rasch zu Distress werden. Kommen negative Faktoren hinzu, wie z.B. eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung, also die Ansicht, dass wir die Situation nicht bewältigen können, obwohl sie sehr wichtig oder dringlich sein mag, wird dies eine Belastung für Körper und Psyche. Vor allem chronischer Stress schadet unserer Psyche langfristig und kann auch körperliche Auswirkungen haben, z.B. indem er unser Immunsystem schwächt.
Stress hängt nicht nur vom Stressor ab
Ein Stressor ist die stressauslösende Situation oder der auslösende Stimulus. Wenn jedoch nur der Stressor unser Stresserleben bestimmen würde, dann würde dies bedeuten, dass jede Person auf den gleichen Stressor mit dem gleichen Stresslevel reagieren würde. Dem ist nicht so. Richard Lazarus führte eines der bedeutendsten Modelle in die Psychologie und Erforschung von Stress ein. In seinem Transaktionalen Stressmodell sieht er vor allem die subjektive Bewertung der Betroffenen als wichtigen Faktor an. Erst wenn die Situation als gefährlich und im zweiten Schritt als nicht zu bewältigen identifiziert wird, wird eine Stressreaktion ausgelöst.
Stress aus psycho-biologischer Perspektive
Unsere körperliche Stressreaktion ist eine evolutionär sehr alte Reaktion. Stress und Angst waren für (Säuge)Tiere schon immer überlebenswichtig. Wenn eine Gefahr auftritt, ist es wichtig, diese direkt zu erkennen und schnell reagieren zu können. Dafür reagiert der Körper lieber einmal zu viel als zu wenig. Unsere Kräfte werden mobilisiert, z.B. wird unsere Muskulatur besser durchblutet, falls wir schnell wegrennen müssen. In unserem Alltag sind wir glücklicherweise nicht mehr mit Säbelzahntigern konfrontiert, die uns fressen wollen. Dennoch reagieren wir sehr schnell und teils stark auf Stressoren, diese sehen nur anders aus: Statt dem Raubtier ist es vielleicht der Chef oder die Chefin mit der näher kommenden Deadline, die uns im Nacken sitzt. Es ist relevant zu verstehen, dass Stress wichtig und ganz natürlich ist, dennoch nicht unseren gesamten Alltag einnehmen sollte, denn das ist ungesund.
Das wichtigste System unserer Stressreaktion ist die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (kurz HHNA). Die HHNA ist unter anderem für die Ausschüttung von Cortisol, einem Stresshormon, zuständig. Beginnen wir vorne: Der Hypothalamus ist ein wichtiges Zentrum in unserem Gehirn, das vegetative Vorgänge steuert. Die Hypophyse ist eine Hormondrüse im Gehirn, die spezielle Teile des Körpers beeinflusst. Hier beeinflusst sie die Nebennierenrinde, den äußeren Bereich der Nebenniere. Diese produziert verschiedene Hormone, darunter Cortisol. Wenn Cortisol ausgeschüttet wird, erkennt das Gehirn dies über weitere Botenstoffe und stoppt die Anregung zur Bildung des Stresshormons wieder. Cortisol beeinflusst viele Körperbereiche und Funktionen, darunter den Atemrhythmus, den Herzschlag oder auch den Schlaf. Erstmal ist dies sogar positiv für unseren Körper. Doch auch hier gilt: Hält der Stress zu lange an, kann der Cortisol-Spiegel aus dem Gleichgewicht geraten und vielfältige Probleme verursachen.
Interview: Stress-Forschung und Interventionsforschung
Ich habe mit Dr. Aljoscha Dreisörner gesprochen, einem Wissenschaftler an der Universität Wien, wo er aktuell Teil eines Teams ist, welches Alltagsstress erforscht. Dr. Dreisörner kam über Umwege in die Psychologie, wie er selbst berichtet. Der studierte Betriebswissenschaftler ist auf der Suche nach einem Beruf, der ihn mit mehr Sinn erfüllt, auf das Konzept Selbstmitgefühl gestoßen. Zu diesem Thema hat er als Stipendiat an der Goethe-Universität Frankfurt promoviert. Selbstmitgefühl beschreibt einen Ansatz, sich selbst ein guter Freund/eine gute Freundin zu sein (hier mehr). Nach seiner Promotion ist er an die Uni Wien gewechselt. Dort arbeitet er an einer neu geschaffenen Forschungsplattform mit dem Namen „The Stress of Life“ („SOLE“). Sein Schwerpunkt ist die Interventionsforschung, er befasst sich also mit der Frage, wie Menschen im Alltag mit Stress besser umgehen können.
Das hat er zu dem Thema zu sagen:
Anthes: Was macht die Erforschung von Alltagsstress eigentlich so spannend?
Dreisoerner: Der Gedanke hinter der Erforschung von Alltagsstress ist im Wesentlichen, dass sehr viel der bisherigen Forschung im Labor geschehen ist, an Tiermodellen und an Menschen. Der Vorteil von Laborversuchen ist, dass man eine sehr kontrollierte Umgebung hat, um die Wirkung von Stress auf die Gesundheit oder das Wohlbefinden zu untersuchen. Allerdings ist das keine realistische Umgebung. Das heißt, die Kernfrage zur Erforschung von Alltagsstress ist, ob sich die Ergebnisse, die wir aus dem Labor kennen, ebenfalls in den Alltag übersetzen lassen. Und natürlich braucht es für den Alltag andere Interventionen als für das Labor. Z.B. etwas, das ich in der U-Bahn oder an einem stressigen Abend einsetzen kann. Das sind andere Fragestellungen als die, die ich unter kontrollierten Bedingungen analysieren kann.
A: Wie würden Sie dann solchen Fragestellungen nachgehen? Sprich, wie können Sie solchen Alltagsstress in der Umwelt denn erforschen?
D: In der Psychologie gibt es dafür im Wesentlichen eine Methode, die heißt Ecological Momentary Assessment, EMA. Das funktioniert in der Regel so, dass Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer auf einem elektronischen Gerät psychologische Fragen beantworten. Zum Beispiel: „Wie gestresst sind sie gerade in diesem Moment von 0 bis 100?“. Der Vorteil von diesen Messungen ist, dass dann die Leute in ihrem natürlichen Umfeld befragt werden und nicht unter künstlichen Bedingungen. Und sie werden eben genau in dem Moment gefragt, wo uns auch die Daten interessieren, so müssen wir uns nicht auf vielleicht verzerrte Erinnerungen verlassen. So messen wir Stress im Alltag. Zusätzlich lassen wir die Leute sehr häufig in kleine Plastikröhrchen spucken. Damit sammeln wir ihren Speichel und analysieren diesen auf die Konzentration von Cortisol. Cortisol ist im Wesentlichen das wichtigste Hormon zur Ermittlung des Stresspegels oder der akuten Stressbelastung von einem Organismus.
A: Das heißt, Sie beobachten einerseits die alltägliche Entwicklung von Stress, andererseits aber auch, was mit diesen Werten, den psychologischen Werten und den Cortisolwerten passiert, wenn die Person z.B. eine Übung durchführen würde, um ihren Alltagsstress zu reduzieren. Verstehe ich das richtig?
D: Genau. Hier lässt sich zwischen akutem Stress und längerfristigem Stress unterscheiden. So könnte es sein, dass jemand gerade einen stressreichen Moment erlebt hat, zum Beispiel musste er zur Bahn rennen und schafft es gerade so, die Bahn zu erreichen und setzt sich dann hin. Dann könnte die Person sagen: „Okay, liebes Smartphone, ich bin jetzt gerade gestresst.“ Wir könnten dann eine Intervention anbieten, zum Beispiel Musik hören. Und dann würde man 20 Minuten später noch mal messen und schauen, wie es dieser Person nun geht. Das ist das kurzfristige Stressempfinden. Das langfristige Stressempfinden können wir beeinflussen, indem wir längerfristige Trainings anbieten. Zum Beispiel, indem sie einen Lehrgang besuchen, einen Tagesworkshop zu Achtsamkeit, zu Yoga, zu Stressmanagementkompetenz oder zur Verbesserung der Emotionsregulation. Das würden sie dann über mehrere Tage oder mehrere Wochen machen. Wir würden dann vorher und nachher messen, wie sich interessante Variablen verändert haben und das mit einer Kontrollgruppe, die nichts von den genannten Dingen getan hat, vergleichen.
A: Gibt es Interventionen, die Sie erforschen, die gezeigt haben, dass das langfristige Stressniveau tatsächlich effektiv gesenkt werden kann?
D: Wir haben an der Uni Wien im Team von Professor Urs Nater eine App entwickelt, die gerade in der zweiten Pilotierungsphase ist. Also in einer größer angelegten Effektivitätsstudie, die verschiedene Module verwendet, mit der eben Stressmanagementkompetenz verbessert wird. Das funktioniert über eine App mit acht Modulen, die alle dazu da sind, das Stressmanagement akut oder langfristig zu verbessern. Zum Beispiel haben wir da Yogavideos drin, Naturgeräusche, oder dass Leute eine selbst gewählte Playlist an Musik hören. Dann gibt es Briefe zur Steigerung des Selbstmitgefühls, geführte Achtsamkeitsmeditationen und Atemübungen. Man bekommt so einen Einblick in viele verschiedene Methoden, mit Stress besser umgehen können.
Was ich sehr häufig einsetze, sind Berührungsinterventionen. Also, das können beispielsweise Umarmungen von geliebten Menschen sein. Zum Beispiel von dem Partner/der Partnerin, den Eltern oder von einem guten Freund oder einer guten Freundin. Und wir haben auch erste Befunde, die zeigen, dass, wenn Menschen sich selbst umarmen, zum Beispiel indem sie sich die rechte Hand auf das Herz und die linke Hand auf den auf den Bauch legen für 20 Sekunden bis 1 Minute und innehalten, der Cortisolspiegel sinkt. Das kann helfen. Und langfristig, was auch noch helfen kann, sind Schreibübungen zur Steigerung des Selbstmitgefühls.
A: Ich finde vor allem diese Studie zur Selbstberührung, von der Sie jetzt auch erzählt haben, sehr spannend. Können Sie mir etwas was dazu erzählen?
D: Die Studie hatte damals ein gutes Timing, wir haben sie während der COVID-19-Pandemie durchgeführt, wo ja Berührungen von anderen in einer gewissen Weise nicht möglich waren. Wir wissen, dass Berührungen von anderen Menschen unsere Fähigkeit, mit stressigen Situationen umzugehen, verbessern können. Die Idee war zu schauen, ob sich auch die verminderte Stressreaktivität auch bei Selbstberührung nachweisen lässt. Wir haben knapp 160 Leute ins Labor eingeladen, die alle einen Versuch durchgeführt haben, der eine stressige Situation hervorrufen soll. Diese Situation ist ein Standardparadigma in der Psychologie, der sogenannte Trier Social Stress Test. Dabei wird einer Person gesagt, dass sie sich auf den Traumjob beworben hätte und dass sie vor einer Jury für fünf Minuten eine kleine Rede halten soll. Danach sollen die Teilnehmenden in einer Matheaufgabe in 17er-Schritten von 2043 herunterzählen und immer, wenn sie einen Fehler machen, müssen sie von vorne beginnen. Dabei sitzt das deklarierte Auswahlkomitee in weißen Kitteln mit einer Kamera vor einem und verzieht keine Miene, starrt einen sogar eher böse an, das stresst die Teilnehmenden zusätzlich.
In unserer Studie gab es vor dem Stress-Test dann eben eine Intervention. Die gesamte Gruppe wurde in drei Gruppen geteilt. Die erste Gruppe hat die Selbstberührung durchgeführt, wie ich sie eben beschrieben habe. Rechte Hand auf das Herz, linke Hand auf den Bauch. Ein weiteres Drittel wurde von einer Studienassistentin umarmt. Und ein weiteres Drittel war dann die Kontrollbedingung, die einen Papierflieger gebaut hat. Dann kamen die Leute alle in das Gesprächszimmer, wo sie mit der Aufgabe konfrontiert wurden. Wir konnten zeigen, dass es keine Unterschiede in der Herzrate und in dem subjektiven Stressempfinden zwischen den verschiedenen Versuchsbedingungen gab, allerdings ist der Cortisolspiegel in den beiden Berührungs-Bedingungen deutlich weniger angestiegen. Damit konnten wir zeigen, dass die körperliche Stressreaktion durch Berührung von sich selbst und von anderen abgeschwächt werden konnte. Und das war für uns damals sehr interessant, weil die Berührungsinterventionen sowohl die Selbstberührung als auch die Umarmung nur 20 Sekunden gedauert haben. Also total kurz.
A: Spannend! Wir alle kennen Alltagsstress. Mit Ihrer Expertise in Selbstmitgefühl und Ihrer Erfahrung in der Stressforschung, was würden Sie sagen, wie wir Alltagsstress besonders gut begegnen können?
D: Gute Frage. Ich möchte hier vermeiden, typische billige Antworten zu geben. In der Coaching-Szene und in der positiven Psychologie wird gerne von so Pflasterlösungen gesprochen. Von wegen: „Du müsstest einfach ein bisschen meditieren, dann geht das schon weg“… Wir sollten uns erst mal vergegenwärtigen, dass die Leben von Menschen in der Anzahl und der Intensität von Stressoren extrem unterschiedlich sind. Manche Menschen haben Vorerkrankungen oder psychische Störungen. Manche Menschen haben Betreuungsverantwortung. Viel Arbeit oder weniger Arbeit, einen stressigen Job oder Freizeitverpflichtungen. Stresserleben hat auch sehr viel mit uns selbst oder unserer Genetik zu tun, z.B. wie stressreich wir diese Dinge bewerten oder wie reizbar wir generell sind. Psychologische Techniken helfen, allerdings sollten Leute nicht irgendwelche Wunder erwarten. Das ist ganz wesentlich. Wir haben einen Einfluss auf unser Wohlbefinden und auch darauf, wie wir mit Stress umgehen, aber wir haben es auch nicht komplett in der Hand.
Mit diesem Vorwort: Was ist die beste Art und Weise, mit Alltagsstress umzugehen? Das sind erst mal die Basics. Wie viel Zeit verbringe ich am Schreibtisch? Mache ich regelmäßig Sport? Gibt es ein gewisses Maß an Bewegung in meinem Alltag? Ernähre ich mich gesund? Wie viel Zeit verbringe ich auf Social Media oder am Smartphone? Das hat alles einen unglaublich hohen Einfluss auf unsere individuelle Belastung. Also wie gestalte ich mein Leben insgesamt, welche Gesundheitsgewohnheiten habe ich. Das ist das Fundament. Zusätzlich gibt es gewisse Dinge, von denen wir aus der Wissenschaft relativ sicher wissen, dass sie stresslindernd sind. Ich nenne sie einfach mal in der Reihenfolge, von der ich denke, dass es die Wichtigsten sind.
Die mit Abstand wichtigste Komponente sowohl für Gesundheit, Wohlbefinden und Stress ist soziale Unterstützung, soziale Identität, soziale Eingebundenheit. Es gibt eine Längsschnittstudie von der Harvard University, die über 80 Jahre gegangen ist und zu dem eindeutigen Ergebnis kam, dass die Sterblichkeit, das Wohlbefinden und Krankheit am besten vorhergesagt wird durch die Anzahl und die Qualität der sozialen Beziehungen. Das Beste, was Leute machen können, um ihr Stressleben zu verbessern, ist Zeit in Freundschaften und in Familien zu investieren, um sich ein gesundes soziales Netzwerk aufzubauen.
An zweiter Stelle, würde ich sagen, ist Bewegung. Bewegung ist unglaublich wichtig und ein wenig ist besser als nichts. Der Unterschied von keinmal Sport auf einmal Sport in Bezug auf Wohlbefinden und Gesundheit ist gigantisch. Manche Bewegungswissenschaftler sagen, dass es gut ist, wenn wir eine Kombination aus Kraftsport und Ausdauersport ausüben.
Das Dritte, das mir einfällt, sind irgendwelche Formen von Achtsamkeitspraktiken. Die stresslindernde und Resilienz-fördernde Wirkung von Achtsamkeit ist sehr gut belegt. Man kann sich z.B. jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen für fünf bis zehn Minuten hinsetzen, die Augen schließen und sich auf seinen Atem fokussieren. Und immer, wenn man abgelenkt wird, kommt man wieder zurück zu seinen Atem. Das ist der Grundsatz der klassischen Atemmeditation. Diese Übung hat nach wenigen Wochen bereits nachhaltige Effekte, von denen wir auch wissen, dass es die graue Materie im Gehirn erhöht, den Selbstfokus verstärken und Gefühle von Angst verringern kann.
Es gibt noch viele weitere Dinge, aber meine Empfehlung ist es, eine gute Basis für ein Leben zu schaffen, das Stress zulässt, ihn aber auch handhabbar macht.
A: Vielen Dank. Und vielleicht, wenn man mal wieder merkt, dass ab und zu ein stressiger Moment kommt, kann man sich auch an diesen Blogpost erinnern und daran denken, dass man nett zu sich selbst sein kann. Wie war das? Rechte Hand auf das Herz, linke Hand auf den Bauch?
D: Rechte Hand auf das Herz und linke Hand auf den Bauch.
Ich bedanke mich bei Herrn Dr. Dreisörner für seine Zeit und das spannende Interview.
Quellen
Ehlert, U., & Känel, R. V. (2010). Psychoendokrinologie und Psychoimmunologie. Springer-Verlag.
Lazarus, R. S., & Alfert, E. (1964). Short-circuiting of threat by experimentally altering cognitive appraisal. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 69(2), 195-205. https://doi.org/10.1037/h0044635
Folkman, S. (2013). Stress: Appraisal and Coping. In: Gellman, M.D., Turner, J.R. (eds) Encyclopedia of Behavioral Medicine. Springer, New York, NY. https://doi.org/10.1007/978-1-4419-1005-9_215 Deutsches Ärzteblatt. (2021, December 1). Menschen in Deutschland stehen häufiger unter stress. Ärzteblatt.de. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/129627/Menschen-in-Deutschland-stehen-haeufiger-unter-Stress
Was für ein spannender und lehrreicher Beitrag, danke Frau Anthes!
Ich musste beim Lesen ein paar Mal über mich selbst die Augen verdrehen. Solche Erkenntnisse wie “kurzfristige Interventionen helfen bei kurzfristigen Stressoren, bei langfristigem Stress muss man auch langfristig was ändern” scheinen oberflächlich sehr intuitiv. Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie die Deadlines näher rücken, wie ich mehr und mehr Meetings habe, mehr Projekte unter einen Hut bringe, und genervt bin, dass ein ruhiger Nachmittag oder ein entspanntes Wochenende nicht so erholsam sind, wie ich sie gerne hätte. Dass eine kurzfristige Entlastung mich nicht langfristig leistungsfähiger macht. Was für ein Anspruch…
Gleichzeitig merke ich, dass ich gerade eine Sportverletzung habe und nicht mehr Joggen gehen kann – das ist auf der einen Seite frustrierend, und auf der anderen Seite normalerweise die Zeit, in der ich mir selbst verspreche, nicht am Laptop oder Handy (oder im Büro) zu sein – Zeit, die ich nur mit mir selbst verbringe. Ich glaub das ist auch ein Aspekt, der Sport und Bewegung zu so guten Resilienzfaktoren macht: Mir persönlich ist es unmöglich, beim Joggen zu Multitasken, ich kann es nicht Mal probieren. Das ist Zeit, die für meine Entspannung so wichtig ist.
Ich finde toll, dass die Forschung so rasante Schritte nach vorne macht und wir alle von den Erkenntnissen profitieren können. Und ich glaube eine Sache, die ich aus dem Beitrag mitnehmen muss ist, mich nicht davon stressen zu lassen, dass ich grade weniger Sport machen kann. Dann heißt es eben für ein paar Wochen: “Rechte Hand auf das Herz und linke Hand auf den Bauch.”
Es freut mich, dass Sie sich etwas mitnehmen konnten! Ich wünsche eine schnelle Genesung und viel Selbstmitgefühl 😉
Hallo, Frau Anthes.
Auf die Frage “Wie geht es Dir ?” erwartet der Fragende, der ja ein Bekannter ist, keine Selbsanalyse, sondern ein freudiges Lächeln und ich würde raten zu “Wenn ich dich sehe, immer gut “.
Damit ist der Stress, falls überhaupt vorhanden, schon mal kalt gestellt.
Ich will jetzt nicht unnötig wiederholen, aber mit der Einteilung in Distress und Eustress ist einem Polizeibeamten nicht geholfen. Der hat Dauerstress, rein berufsmäßig. Wir haben gerade das Paradebeispiel von “Burnout” in der Verwandtschaft und da helfen theoretische Ratschläge nicht mehr aus.
Interessant ist der Ausflug zur Uni in Wien und wie die Probanden da geprüft werden. Mit dem Runterzählen und dann wie die Prüfer sich dabei verhalten.
Die haben übrigens auch eine Betreuungsverantwortung, die sie nicht wahrnehmen. Ich persönlich finde solche Tests fies, entweder man wird danach
auch fies oder man behält eine schlechte Erinnerung. Und das ist schädlich für Psychologen, die ja eigentlich feinfühlend sein sollen, wollen und auch bleiben wollen.
Lieber Herr N., zum ersten Absatz: Sie kennen mich und mein Umfeld nicht und müssen mir nicht wiederholt die Welt erklären, vielen Dank. 🙂
Auch ein Polizeibeamter erlebt in seinem Leben Eustress, dann kommt dieser eben nicht von seiner Arbeit. Dauerstress auf der Arbeit ist ein Problem, das vielen Menschen kennen und deswegen brauchen wir faktisch mehr Psychotherapieplätze. Und auch wenn Psychotherapie deutlich mehr und viel komplexer ist als Ratschläge (sonst können wir uns die mind. 10 jährige Ausbildung sparen), wird zumindest jeder Verhaltenstherapeut und jede Verhaltenstherapeutin zu Beginn diese Basics abklopfen weil wir aus der Forschung wissen, dass das die Grundlage ist.
Zuletzt ist eine ethische Belehrung nicht nötig, dafür haben wir alle jahrelang studiert und haben zuletzt eine Ethikkommission, die den Forschungsvorhaben vorher das OK geben muss. Wir haben in Experimenten keine “Betreuungsverantwortung” und die Voraussetzung, um in der Psychologischen Forschung tätig zu sein ist nicht “Feinfühligkeit”. Ohne dass ich diese Dr. Dreisoerner absprechen möchte. Ich war als Bachelorstudentin tatsächlich Teilnehmerin in genau diesem Experiment und jede Person ist allen ethischen Richtlinien nachgekommen, das war nicht “fies”. Psycholog/in ist nicht gleich Psychotherapeut/in, das ist ein Unterschied.
VG
Ich weiß gar nicht wie viel Neues ich beitragen kann aber ich finde diesen Kommentar als Psychologin ein bisschen fehlgeleitet.
Das fängt im ersten Absatz an – in einer solchen Welt, in der ich mit Freund:innen nicht auch über Belastung reden kann, will ich nicht reden. Menschen als sozial orientierte Individuen profitieren davon, dass sie sich auf ihr Umfeld verlassen können. Das ist ein Pfeiler der Resilienz – würde man also lügen oder die Dinge schönreden, so nimmt mensch sich selbst einen protektiven Faktor weg, der eine:n vor Stress schützt.
Und dann geht es weiter. Dauerhaft unter Stress zu stehen und einen Burnout zu erleiden, ist doch schrecklich, das sehen Sie grade in der Verwandschaft. Was könnte man da machen? Klar, sich entspannen, eine Auszeit nehmen… das reicht aber doch nicht. Viel mehr muss ein Mensch irgendwann lernen, wo die eigenen Grenzen sind, wie viel gemacht werden kann und wo man dann einen Schritt zurücktreten muss, um sich selbst zu schützen. Da ist die Psychoedukation absolut relevant für. Theoretische Ratschläge sind hier also (selbstverständlich nicht in der Sekunde, in der jemand mit einem Anliegen zu einem kommt, sondern in einer stabilen und aufnahmefähigen Verfassung) absolut notwendig, um sich zu beschützen.
Und dann haben Sie zuletzt glaube ich die Studie leider missvershanden. Sie sprechen von der “Betreuungsverantwortung” von “Prüfern” – die Studienteilnehmenden sind doch nicht in einer Prüfung. Es handelt sich in aller Regel um Studierende, die einen Aufruf zur Studienteilnahme gelesen haben. Dafür kriegen sie meist entweder Geld oder sammeln Punkte für die Uni. Auf dem Aufruf würde etwas stehen wie “Ausschlusskriterien: aktuelle psychische Störung im Bereich X/Y/Z” oder ähnliches, damit die Teilnehmenden auch wissen, dass es eventuell belastend sein kann und sie sich nur auf die Studie einlassen, wenn sie sich stabil genug fühlen. Und dann sind da ja keine Prüfer:innen, das ist eine Simulation und jede:r weiß das. Ich finde so schade, dass Sie die Tests nur fies finden. In der Regel sind das keine sehr angenehmen Erfahrungen, aber die Wissenschaft macht ja enorme Fortschritte. Keine Ethikkomission lässt leichtfertig Menschen unter Stress setzen. Aber wir brauchen ja Ergebnisse aus dem Labor, um Menschen im Alltag tatsächlich zu helfen.
Und noch Mal unterstreichend: Als Psychologin ist meine Aufgabe nicht, feinfühlend zu sein. Das ist ein Anspruch den man gerne an bestimmte Menschen haben darf. An Freund:innen, die Familie, und auch Kolleg:innen usw. Aber niemand im professionellen Kontext ist einem das schuldig, und das ist doch ein hohes Maß an uns. Unser Job ist es, ganz stark vereinfacht, Menschen zu verstehen. Warum man manche Sachen auf eine Weise wahrnimmt, und was wir daraus schließen, vielleicht was wir jetzt verändern können. Und das auf fast unzählbar vielen Ebenen. Es ist also viel mehr analytisches Denken und verstehen, als “was mit Menschen”. Und wenn wir bei psychologischen Psychotherapeuten bleiben, dann gibt es selbstverständlich welche, die sehr feinfühlend sind. Andere Patient:innen wollen vielleicht anders behandelt werden, und sind froh, dass nicht alle Therapeut:innen genau gleich sind. Das wär auch ein schrecklich hoher Anspruch an die zigtausend niedergelassenen Psycholog:innen in Deutschland.
Einen so reflektierten Artikel augenscheinlich sehr oberflächlich zu lesen und sich dann darüber fast schon lustig zu machen… das finde ich persönlich fies. Entweder wird man nach dem lesen auch fies, oder man behält eine schlechte Erinnerung. Und das ist schädlich für Blogleser:innen und Kommentator:innen, die ja eigentlich feinfühlend sein sollen, wollen und auch bleiben wollen.
Die schwerwiegendsten Stressoren dürften Anspruch und Erwartung sein, sowohl an sich selbst als auch gerade fremde.
Hier wird auch darüber im Sinne einer Selbstoptimierung nachgedacht, nicht, wie ich mit Anspruch und Erwartung umgehe, sondern, wie ich mich davon erhole.
Gerade als soziale Wesen in einer völlig durchkommerzialisierten Welt, verleiten/triggern Ansprüche und Erwartungen mit Erfolgsfaktoren.
Dabei gehen häufig Naturell, Typ, Wesen, Charakter (Eigenschaften) unter, da man sich diejenigen antrainieren möchte, will, die zum Bestehen in dieser Leistungsgesellschaft favorisiert werden.
Anpassung daran wird häufig nicht gelingen und dann kommt Versagensangst dazu.
Es ist doch paradox, dass wir in D weniger Arbeitszeit aufbringen als andere Länder, aber hohe Zahlen der Erwerbsminderung wegen psychischer Belastungen haben.
Damit haben alle leistungsorientierten Länder zu kämpfen.
Hauptsache Exportweltmeister und an der Spitze der Leistungsnationen.
Das wiederum widerspricht der Belastung und den Grenzen des Erdsystems.
Wenn das mal kein Grund für Stress ist.
Der Anspruch der Gesellschaft und der daraus entstehende (meist zu hohe) Anspruch an uns selbst verursachen tatsächlich sehr häufig Leid. Eine immer schnellere Gesellschaft, die immer mehr auf Optimierung aus ist, ist im Endeffekt so ungesund für viele Menschen und gleichzeitig werden Individuen ausgestoßen oder verachtet, wenn sie diesen Trends nicht standhalten können und sich Hilfe holen. Deswegen kann es so wichtig sein, bewusst dagegen anzuhalten und sich und andere darin zu bestärken, auch auf sich selbst zu achten. LG!
Ergänzung:
Ein Grundübel der Zeit ist das Kooperationsparadoxon.
Grundsätzlich kooperieren wir hinsichtlich der Arbeitsteilung. In der Regel ist es in Familien und Freunden auf Drang aufgebaut.
Geht es um den Gelderwerb, dann ist der Tausch/Kauf ebenfalls darauf aufgebaut.
Es wird jedoch zum Kooperationszwang, wenn am Ende des Tages Erfolg in Form des Gewinn in der Bilanz stehen MUSS!
Das zwingt uns, Dinge in der Zeit zu tun, die eben der Wesen der Meisten widerspricht.
Anpassung und Selbstoptimierung,Anspannung, an diese Anforderungen werden als Zwang empfunden und erzeugen Stress.
Optimiert wird das durch bezahlte, Kosten, Produkte wie Erholungsaktivitäten.
Herzlichen Glückwunsch!
A) Immer wenn wir etwas erleben (z.B. eine neue Situation), dann reaktiviert unser Gehirn eine dazu passende eigene Erfahrung aus dem Gedächtnis. Fachbegriff: predictive coding/processing – das ist unsere wichtigste Überlebensstrategie, da damit eine soforttige Reaktion möglich ist.
Eine ERFAHRUNG besteht in unterschiedlichen Anteilen aus den Komponenten a) Fachwissen, b) Körper-Reaktion, c) Immunsystem-Reaktion, d) Sinnes-Reaktion und e) Emotionen.
Erfahrungen sind das Ergebnis von Lernvorgängen.
D.h. wenn man bestimmte Situationen einübt/trainiert, dann kann man besser damit umgehen und hat somit sowohl weniger negativen Stress – wie auch eher positive Erfolgserlebnisse.
Weshalb Training/Üben/Lernen von bestimmten Situationen eine gute Strategie zum Stressvermeiden ist.
Weil Kollegen manchmal in durch Unsicherheit ausgelösten Stess kamen – habe ich an meinem Arbeitsplatz zu einigen selten ausgeführten Arbeitsschritten jeweils eine einfache Arbeitsanweisung geschrieben. Dies half ihnen dann, um negativen Stress zu vermeiden, da man mit Hilfe der Arbeitsanweisung eine gute Gedächtnisstütze hatte.
B) Der Zustand von Neuronen bevor wir einen neuen Reiz verarbeiten – entscheidet darüber, wie dieser Reiz dann verarbeitet wird. Fachbegriff: priming.
D.h. ein identischer Reiz kann zu völlig verschiedenen Reaktionen führen.
Das ist das Funktionsprinzip – wieso Selbstberührung vor einer Stresssituation hilft. Wir tun uns damit etwas Gutes und beeinflussen damit, wie wir dann auf eine neue Situation reagieren.