Vergessen verstehen

Vergiss mein nicht – oder doch? Ende März fand das jährliche Treffen der Cognitive Neuroscience Community in San Francisco statt. Bei der Konferenz stellen verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Symposien vor, woran sie die letzten Jahre oder Jahrzehnte gearbeitet und herausgefunden haben.
Eine Vortragsreihe handelte vom Vergessen.

Warum kann man sich erinnern?

Bevor man etwas vergessen kann, muss es eine Erinnerung geben. Aber wie funktioniert das?
Das Themengebiet des Erinnerns ist sehr komplex und es wird seit Jahrzehnten daran geforscht.

Arten des Erinnerns.

Im Allgemeinen kann man Erinnerungen wie folgt einteilen: Zunächst wird Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis unterschieden. Das Langzeitgedächtnis umfasst explizites und impliztes Gedächtnis. Zum expliziten Gedächtnis zählen das episodische Gedächtnis, also Erfahrungen oder Ereignisse, die man erlebt hat und sich bewusst daran erinnern kann und das semantische Gedächtnis, welches das Speichern von Wissen und Fakten umfasst.

Das implizite Gedächtnis, oder die unbewusste Erinnerung, umfasst prozedurale Erinnerungen, wie etwa das Muskelgedächtnis und Priming. Priming bedeutet, das Erinnerungen aufgrund eines vorherigen Stimulus abgespeichert werden. Beispielsweise kann man sich Worte besser merken, wenn sie zusammenpassen wie z.B. Brot und Butter, als wenn sie nicht zusammengehören, wie Brot und Arzt.

Das Kurzzeitgedächtnis sorgt dafür, das man sich für kurze Zeit kleine Mengen an Informationen merken kann. Zu den kurzlebigsten zählt das Arbeitsgedächtnis (engl.: working memory), welches nur einige Sekunden umfasst. Es hilft dabei, sich auf eine unmittelbar anstehende Sache in diesem Moment, eine Aufgabe oder Gedanken zu fokussieren.

Wo und wie wird gespeichert?

Darstellung des menschlichen Gehirns. Wichtige Bereiche hier sind die Amygdala (lila), der Hippocampus (blau) und der Cortex, die für das Erinnern wichtig sind.

Verschiedene Arten von Gedächtnis werden an verschiedenen Orten im Gehirn abgespeichert. So werden explizite Erinnerungen im Hippocampus, Neocortex und der Amygdala abgelegt.

Die Basalganglien liegen tief im Gehirn und haben wichtige Aufgaben im Kontext von Emotionen und Belohnung; daneben sind sie auch für das motorische Gedächtnis zuständig. Der Präfrontale Cortex ist Teil des Neocortex und sitzt direkt hinter der Stirn. Unter anderem ist dieser für das Kurzzeitgedächtnis verantwortlich.

Auf zellulärer Ebene ist eine Erinnerung die Reaktivierung bestimmter neuronaler Gruppen.
Synaptische Plastizität, also die langanhaltende Veränderung der interneuronalen Vernetzung, erlaubt die Reaktivierung verschiedener neuronaler Gruppen.
Use it or lose it! Je öfter eine bestimmte Vernetzung genutzt wird, desto stärker wird sie und bleibt erhalten. Wohingegen kaum bis gar nicht genutzte Verbindungen schwächer werden und eventuell ganz zu Grunde gehen, sodass die Information vergessen wird.

Vergessen mit Absicht

Im Arbeitsgedächtnis

Meistens möchte man sich an möglichst viel erinnern, wie schöne Familienfeste oder das ganze Biologie Buch für die morgige Klausur. Gedanken im Arbeitsgedächtnis werden nach einigen Sekunden unbewusst vergessen, um effektiv denken zu können.
Bei manchen Menschen, welche unter einer Krankheit leiden, wie einer Zwangsstörung, ploppt ein Gedanke immer wieder auf und verbleibt im Arbeitsgedächtnis. Alles dreht sich um diesen Gedanken und diejenige oder derjenige kann diesen Gedanken nicht fallen zu lassen.

Es gibt drei Mechanismen im Arbeitsgedächtnis, die dafür sorgen können, etwas zu vergessen: Ersetzen, unterdrücken und löschen.
Marie Banich, eine Vortragendende des Symposiums der der Cognitive Neuroscience Community, forscht seit Jahren am Vergessen und dem Arbeitsgedächtnis. Natürlich ist es schwierig, nachzuweisen, dass eine Person ihre Gedanken verändern kann. Banich und ihre Kolleginnen und Kollegen konnten aber in Bildgebenden Verfahren (fMRT) die Hirnaktivität von Probandinnen und Probanden beobachten, wenn diese ihre Gedanken komplett, nur bestimmte Dinge vergessen oder den jetzigen Gedanken ersetzen sollten.
Sie konnten zeigen, dass bei einem Prozess, der den Gedanken ersetzen sollte, besonders die Regionen am Hinterkopf aktiv waren. Darunter gehörte auch der visuelle Cortex.
Auch Regionen im Frontallappen und im Parietallappen zeigten besondere Aktivität: Wenn ein bestimmter Gedanke vergessen werden sollte, stieg die Aktivität im frontopolaren Cortex. Wenn alle oder nur bestimmte Gedanken vergessen werden sollten, wurde das SMA, der Supplementär-motorische Cortex aktiver. Außerdem werden weitere Hirnbereiche aktiver, wohl um sicher zu stellen, dass tatsächlich alles aus dem Arbeitsgedächtnis verschwunden ist.

Im Langzeitgedächtnis

Vergessen aus dem Langzeitgedächtnis ist wichtig für die mentale Gesundheit und Produktivität. Denkt man beispielsweise an Menschen, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder Angstzuständen leiden, wird deutlich, dass das Vergessen helfen, kann ein normales Leben zu führen.
Der „amnesic-shadow“, der amnesische Schatten, bezeichnet das Vergessen von episodischen Erinnerungen bevor oder nach dem aktiv Erinnerungen unterdrückt werden. Es können auch Erinnerungen betroffen sein, die nichts mit dem zu tun haben, was die oder der einige zu unterdrücken versucht.
Dieser amnesische Schatten und die gewollte Unterdrückung von Erinnerungen hängen mit der reduzierten Aktivierung des Hippocampus zusammen. Der Hippocampus ist weit vernetzt mit anderen Gehirnregionen wie dem Neocortex, dem visuelle Cortex und weitere. Durch diese Verbindung können Erinnerungen aktiviert und gehemmt werden. Gleichzeitig wird während des Unterdrückens von Erinnerungen nicht nur der Hippocampus gehemmt sondern auch die Kommunikation des Hippocampus zu anderen Bereichen des Gehirns (wie z.B. zum Neocortex) wird reduziert.

Bei Menschen, die unter Schizophrenie, PTBS, Depressionen oder Angsstörungen leiden, konnte gezeigt werden, dass der Hippocampus übermäßig aktiv ist. GABAerge Interneuronen (GABA ist ein inhibierender Botenstoff im Gehirn) sind dysfunktional, was möglicherweise den Hippocampus zunehmend aktivert.
Bei gesunden Menschen trägt die Inhibition durch GABAerge Neuronen zur Unterdrückung von Erinnerungen bei.

Fazit

Es gibt verschiedene Arten von Erinnerungen, die in verschiedenen und teilweise überlappenden Gehirnregionen verarbeitet und gespeichert werden.
Sowohl Arbeitsgedächtnis als auch Langzeitgedächtnis haben verschiedene Strategien, Erinnerungen nicht wieder aufzubringen.  


Weiteres Lesenswertes, unter anderem auf molekularer Ebene des Erinnerns und Vergessen gibt es unter:
https://www.spektrum.de/news/gedaechtnis-warum-wir-vergessen/1580324

Referenzen

Banich, M. T., Mackiewicz Seghete, K. L., Depue, B. E., & Burgess, G. C. (2015). Multiple modes of clearing one’s mind of current thoughts: Overlapping and distinct neural systems. Neuropsychologia, 69, 105. https://doi.org/10.1016/J.NEUROPSYCHOLOGIA.2015.01.039

How are memories formed? – Queensland Brain Institute – University of Queensland. (n.d.). Retrieved April 3, 2023, from https://qbi.uq.edu.au/brain-basics/memory/how-are-memories-formed

Schmitz, T. W., Correia, M. M., Ferreira, C. S., Prescot, A. P., & Anderson, M. C. (2017). Hippocampal GABA enables inhibitory control over unwanted thoughts. Nature Communications 2017 8:1, 8(1), 1–12. https://doi.org/10.1038/s41467-017-00956-z

Symposium Sessions – Cognitive Neuroscience Society. (n.d.). Retrieved April 7, 2023, from https://www.cogneurosociety.org/symposium-sessions/

What makes memories stronger? – Queensland Brain Institute – University of Queensland. (n.d.). Retrieved April 3, 2023, from https://qbi.uq.edu.au/brain-basics/memory/what-makes-memories-stronger

Where are memories stored in the brain? – Queensland Brain Institute – University of Queensland. (n.d.). Retrieved April 3, 2023, from https://qbi.uq.edu.au/brain-basics/memory/where-are-memories-stored

Yan, Y., Hulbert, J. C., Zhuang, K., Liu, W., Wei, D., Qiu, J., Anderson, M. C., & Yang, W. (n.d.). Reduced Hippocampal-Cortical Connectivity During Memory Suppression Predicts the Ability to Forget Unwanted Memories. https://doi.org/10.1101/2022.02.08.479070

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Mein Name ist Ina Mayländer und studiere zurzeit Neurowissenschaften im Masterprogramm an der Universität zu Köln. Während meines Bachelorstudiums der Biowissenschaften in Heidelberg, habe ich meine Begeisterung für das Gehirn finden dürfen. Ich möchte das Geschehen in der Wissenschaft um das hoch komplexe Organ verständlich an interessierte Leser weitergeben.

3 Kommentare

  1. Wir lernen etwa ab dem 2. Lebensjahr uns mit Sprache auszudrücken und uns als eigenständiges ICH-Individuum von der Umwelt abzugrenzen. Solche ICH/MEIN-codierten Erlebnisse werden als AUTOBIOGRAPHISCHES GEDÄCHTNIS bezeichnet.
    Der Zugang zu diesen ICH-/MEIN-codierten Erlebnissen ist kulturell verschieden: die unterste Grenze des Erinnerns liegt zwischen 2,5 und 6 Jahren. Die Lehrmeinung ´infantile Amnesie´ besagt, dass frühere Erlebnisse dem bewussten Erinnern nicht zugänglich sind.

    DOI: 10.1080/09658210050156822
    Crosscultural and gender differences in childhood amnesia

    DOI: 10.1080/09658211.2021.1918174
    What is your earliest memory? It depends
    http://www.sciencedaily.com/releases/2021/06/210614110824.htm
    Earliest memories can start from the age of two-and-a.half

    Das war der Stand der offiziellen Wissenschaft.

    Im Rahmen der sogenannten ´Nahtod-Erfahrung´(NTE) sind aber Erlebnisse ab dem 5. Schwangerschaftsmonat LEBENSLANG dem bewussten(!) Erinnern in der gleichen Reihenfolge zugänglich – wie sich die physikalischen Sinne entwickeln:
    Tastsinn/Hautkontakt > Hören > Sehsinn > Geburt(indirekt) > erste Sozialerfahrungen > … …
    (Buch-Quelle: ´Kinseher Richard: Pfusch, Betrug, Nahtod-Erfahrung´)
    D.h. das EPISODISCHE GEDÄCHTNIS beginnt ab dem 5.Schwangerschaftsmonat.

    Dass Erlebnisse ab dem 5. Schwangerschaftsmonat lebenslang dem bewussten Erinnern zugänglich sind – bedeutet dass die dafür notwendigen neuronalen Strukturen LEBENSLANG UNVERÄNDERT vorliegen müssen.
    D.h. die Lehrmeinung ´infantile Amnesie´ und Theorien über das ´Vergessen´ gehörten eigentlich diskutiert.

    NTEs und der dabei erlebbare bewussste Zugang zu unseren frühesten Erlebnissen – und an was man sich erinnern kann – werden von der Gehirn-/Gedächtnisforschung aber bisher immer noch ignoriert. Das ist schade, denn die gesamte Fachliteratur zum Gedächtnis müsste umgeschrieben werden.

  2. Zitat: Je öfter eine bestimmte Vernetzung genutzt wird, desto stärker wird sie und bleibt erhalten. Wohingegen kaum bis gar nicht genutzte Verbindungen schwächer werden und eventuell ganz zu Grunde gehen, sodass die Information vergessen wird.

    Ja, wobei die synaptische Plastizität nicht nur das Vergessen, bezugsweise Erinnern beeinflusst, sondern sogar die Wahrnehmung. Im Artikel Perceptual manifestations of fast neural plasticity: Motion priming, rapid motion aftereffect and perceptual sensitization wird darüber berichtet, dass die Wahrnehmung von Bewegung sich nach entsprechenden Training ändern kann indem die synaptische Verschaltung sich so ändert, dass gewisse Bewegungen besser wahrgenommen werden.

    Training/Übung ändert etwa bei Musikern die Verarbeitung und Sensitivität für auditorische Signale und lässt sie Gehörtes besser wahrnehmen. Ihr Hirn wird dabei quasi umprogrammiert.

    Ich denke, das gleiche gilt sogar für die Qualität des Gedächtnisses: durch Training kann es besser werden. Und die Person, die immer wieder Dinge vergessen muss, weil die Erinnerung an diese Dinge sie belasten würde, die lernt wohl auch besser und schneller zu vergessen. Wobei einem das Gedächtnis auch immer wieder einen Streich spielt und zwar in beide Richtungen: es tauchen unerwünschte Erinnerungen auf und es gehen Dinge vergessen, die man nicht vergessen wollte.

    Mir selbst passiert es oft, dass mir Fakten/Namen/Dinge zwar bewusst sind, dass ich aber genau in dem Moment, wo ich die Details aus meinem Gedächtnis abrufen will, blockiert bin und dann im Internet nachschauen muss um etwa herauszufinden wer „What I can‘t create, I do not understand“ gesagt hat.

    • Absolut. Menschen, die erblinden, “programmieren” auch ihr auditorisches System um und werden in kurzer Zeit zu extremen Hörleistungen fähig – auch das ist Plastizität.

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