TEMPiS: Mit der Telemedizin gegen den Schlaganfall
Deutschland altert. Das bildet sich zum einen in den virulenten Debatten um den Fachkräftemangel oder die Sicherheit der Rente ab, welche durch die Berentung der Boomer für Jüngere zum Triggerpunkt geworden ist. Zum anderen wird eine vergreisende Gesellschaft auch zur Belastungsprobe für ihre Gesundheitsversorgung: neurologische Erkrankungen wie Schlaganfälle, Parkinson oder Demenz nehmen im Alter massiv zu. Im Vergleich zu anderen Alterskrankheiten haben diese den zusätzlichen Nachteil, in hohem Maß zur Pflegebedürftigkeit zu führen. So könnten sich unsere Probleme, Stichwort Fachkräftemangel, an den neurologischen Erkrankungen womöglich bündeln.
Was erstmal nach Krise klingt, kann auch eine Chance sein: dieser Innovationsdruck könnte Deutschland zu Pionierarbeit bei neuen Versorgungsstrategien drängen, welche digital und effizient die Lebensqualität im hohen Alter sicherstellen könnten. Einen Anfang macht die München Klinik: ihr Projekt TEMPiS ist heute das erfolgreichste telemedizinische Schlaganfallnetzwerk des Kontinents.
Was tun beim Schlaganfall?
In Deutschland ist ein Schlaganfall die dritthäufigste Todesursache und die häufigste Ursache für bleibende Behinderungen. Hochrechnungen zufolge treten hierzulande knapp 300.000 Schlaganfälle jährlich auf, die Hälfte aller Betroffenen ist dabei zwischen 65 und 85 Jahren alt (1). Bei der häufigsten Form, dem ischämischen Schlaganfall, verhindert ein Blutgerinnsel die angemessene Durchblutung des Gehirns. Das äußert sich binnen Sekunden in halbseitigen Lähmungen, z.B. einseitig herunterhängenden Augenlidern oder Mundwinkeln. Auch die Sprachfunktion ist häufig beeinträchtigt, und nicht selten erbrechen Patienten oder werden bewusstlos.
Je länger die Blutversorgung ausfällt, desto schlechter die Chancen, dass sich die betroffenen Hirnareale wieder erholen. Deshalb hat sich in der Schlaganfallmedizin schon lange ein Spruch eingebürgert: „Time is Brain“. Die Therapie, welche entweder in der medikamentösen Auflösung oder der mechanischen Sprengung des Gerinnsels besteht, muss also so schnell wie möglich erfolgen. Es geht um Minuten. Auch hierfür haben sich deshalb zwei Anglizismen etabliert: Door-to-Needle (für die medikamentöse Behandlung) und Door-to-Groin (für eine Intervention mit einem Katheter). Letzteres Intervall, also die Zeit zwischen der Ankunft der Patienten in der Klinik und dem Einschieben des Katheters in die Leiste (Groin), sollte unter 60 Minuten bleiben. Für die Zeit von Tür zur Nadel ist das schon lange – 30 Minuten sind hier ideal (2).
Dass solche Geschwindigkeiten selten erreicht werden, liegt auf der Hand. Schließlich muss zuerst ein Facharzt, meist der Neurologe oder die Neurologin, den Schlaganfall auch als solchen erkennen. Nur sind Neurologinnen und Neurologen auf dem Land eine eher exotische Spezies. In diese Versorgungslücke stößt das telemedizinische Projekt der München Klinik.
Was ist TEMPiS?
Im Jahr 2003, als die Rentner von heute, die Boomer, noch in ihren jungen 40ern waren, gründete die München Klinik vorausschauend ein telemedizinisches Netzwerk zur Schlaganfallversorgung im ländlichen Raum Südostbayerns: TEMPiS (telemedizinisches Projekt zur integrierten Schlaganfallversorgung). Die Idee: die neurologischen Experten zum Patienten bringen, und zwar digital (3).
Das Netzwerk besteht aus insgesamt 26 Kliniken, davon zwei Zentren in München und Regensburg und 24 Partnerkliniken. In den Zentren sind erfahrene neurologische Fachärzte rund um die Uhr erreichbar, falls ein potentieller Fall bewertet werden soll. Liegt im Rettungswagen der Verdacht auf einen Schlaganfall vor, muss nicht erst überlegt werden, wo es hingehen soll. Stattdessen wird die nächstgelegene Partnerklinik informiert und damit auch eines der Zentren. Wenn der Patient oder die Patientin in der Notaufnahme der Klinik eintrifft, kann dort der Neurologe oder die Neurologin aus dem Zentrum per Video zugschaltet werden und den Fall bewerten. Auch die Bildgebung, meist CT-Bilder aus der Notaufnahme, werden verschlüsselt in Echtzeit an die Zentren übertragen. Statt die Patientinnen und Patienten mehrfach verlegen oder weiter fahren zu müssen, weil auch die Expertise weiter entfernt ist, kommt die Expertise mit TEMPiS unmittelbar zu den Betroffenen. Eine Zeitersparnis, die Leben und Lebensqualität rettet.
FIT is Brain
Liegt nun ein komplexerer Fall vor, bei dem eine Thrombektomie durchgeführt werden muss, also eine Katheterintervention, so ist dafür eine noch anspruchsvollere Spezialausbildung erforderlich. Die aber ist in vielen ländlichen Regionen ohne große Fach- oder Unikliniken rar. So müssen Patientinnen und Patienten nach der Diagnose in einer ersten Klinik häufig in eine spezialisierte, zweite Klinik verlegt werden. Der Zeitverlust dabei kann drastisch sein. Doch auch hierfür hat TEMPiS eine Strategie entwickelt: das Flying Intervention Team (FIT).
Statt die Patienten in spezialisierte Kliniken zu bringen, fliegen spezialisierte Neuroradiologen der München Klinik aus dem Zentrum per Helikopter in die Partnerklinik, in welche die Patienten als erstes eingeliefert wurden. Das Ziel ist, Zeit einzusparen, indem Prozesse parallel statt hintereinander geschaltet werden. In einer großen Studie konnte schließlich gezeigt werden, dass das FIT Projekt die Zeit Door-to-Groin erheblich reduzieren konnte: die Zeit von der ärztlichen Entscheidung für eine Thrombektomie bis zur tatsächlichen Behandlung betrug im Median 58 (51-71) Minuten mit dem Helikopter, im Vergleich zu 148 (124-177) Minuten mit der üblichen Verlegungsstrategie. Damit erfolgte eine Thrombektomie im Mittel also ganze 90 Minuten schneller, wenn die Spezialisten eingeflogen wurden. FIT is Brain.
Telemedizin bei Schwindel
Schwindel ist eines der häufigsten Symptome in der Notaufnahme, leider jedoch sehr unspezifisch. Eine gefährliche Ursache kann auch hier wieder der Schlaganfall sein. Um zu entscheiden, ob der Schwindel aus dem Innenohr oder dem Gehirn und damit womöglich von einem Schlaganfall kommt, sind die Augenbewegungen aufschlussreich. Deshalb setzen die Partnerkliniken bei Schwindelpatienten Videobrillen (Video-Okulographie) ein, welche die Augenbewegungen live an die Expertinnen und Experten der TEMPiS Zentren weiterleitet. Denen erlaubt die Videobrille eine sehr präzise Analyse der Augenbewegungen und damit eine verlässliche Einschätzung des Krankheitsbildes. So können mittels Telemedizin auch unauffälligere Schlaganfälle entdeckt und Spätfolgen verhindert werden.
Die Telemedizin fängt gerade erst an
Weil die Idee von TEMPiS so einfach ist, ist so auch so effizient – Telemedizin muss nicht KI sein. Die Facharztexpertise digital aus den Zentren in den ländlichen Raum zu bringen, kann schon einen guten Teil unserer Versorgungsprobleme abdecken. Die einzige Frage: warum diese Versorgungsform nach über zwanzig Jahren noch nicht zur Regelversorgung in allen Bundesländern geworden ist. Zwar gibt es mittlerweile eine Reihe ähnlicher Schlaganfallnetzwerke (z.B. TESS oder NEVAS), insgesamt aber fehlt es noch an Dynamik, gerade in nicht-neurologischen Fächern.
Im Medizinstudium jedenfalls ist TEMPiS bereits zu einer Standardfolie in den Vorlesungen zur Telemedizin geworden. Und liest man internationale Studien, so wird das Projekt selbst in den USA als Vorbild betrachtet. Vielleicht werden ja die Nachwehen der Covid-19 Pandemie die Aufnahme der Telemedizin in die Regelversorgung beschleunigen. Immerhin waren in den letzten Jahren mehrere interessierte Landes- und Bundesgesundheitsminister in der München Klinik zu Gast.
(1) Wie steht es um unsere Gesundheit? Bericht des Robert Koch Instituts Wie steht es um unsere Gesundheit? (rki.de)
(2) Stroke: when seconds count. American Heart Association. Learn More About Target: Stroke | American Heart Association
(3) TEMPiS – Telemedizinisches Schlaganfallnetzwerk Südostbayern