Neuronale Stammzelltherapie – wie man Nervenzellen erneuern könnte

Hirntumore, Parkinson, Alzheimer, Schlaganfall oder Querschnittslähmungen: Erkrankungen des Nervensystems haben stets ein massives Zellsterben zur Folge. Je nachdem, wo dieser Zelluntergang stattfindet, äußert sich die Erkrankung auch symptomatisch anders, da unterschiedlich spezialisierte Zellen auch verschiedene Aufgaben ausführen. Um den jeweiligen Funktionsausfall zu kompensieren, bietet es sich also an, die ausgefallenen Zellen zu ersetzen. Hier kommt die Neuronale Stammzellforschung ins Spiel: die ersten Erfolge einer neuronalen Ersatztherapie sind im Experiment bereits geglückt, für Patientinnen und Patienten werden die nächsten Jahre entscheidend sein.

Experimentelle Erfolge bei Multiple Sklerose und Rückenmarkverletzungen

Im letzten Artikel ging es um die allgemeinen Charakteristiken, Definitionen und Mechanismen von Stammzellen. Dort war der pessimistische Ausblick, dass der Stammzelltransfer bei Nervenzellen generell viel komplexer ist, als in anderen Zellen des Körpers (z.B. Blutzellen, bei denen die therapeutische Forschung bereits am Menschen angekommen ist). Mehrere Forschungsdurchbrüche der letzten Jahre verschieben die Aussichten aktuell jedoch zugunsten der neurologischen Patientinnen und Patienten.

Ein etwas strittiges Experiment zum Beispiel zeigte, dass eine Stammzelltherapie bei Rückenmarksverletzungen Lähmungen rückgängig machen kann. Ein Forschungsteam in den USA fügte Rhesusaffen Wirbelsäulenverletzungen zu, sodass eine ihrer Hände immobilisiert wurde. Im Anschluss therapierte das Team die Affen mit (menschlichen) neuronalen Stammzellen. Die Stammzellen bildeten nachweislich funktionierende Netzwerke im Rückenmark aus, mit dem Ergebnis, dass ein Großteil der Affen die Hand wieder benutzen konnte (1). So brutal das Experiment anmutet, so groß sind die Chancen, daraus langfristig Therapieoptionen für Querschnittsgelähmte Personen abzuleiten.

Noch näher am Menschen ist die Multiple Sklerose Forschung: Ende 2023 meldete ein italienischer Forschungsverbund, dass 15 Patientinnen und Patienten ein Jahr lang mit neuronalen Stammzellen behandelt wurden – ohne Komplikationen und Nebenwirkungen (2). Nun wäre bereits das allein wäre ein kleiner Erfolg gewesen. Die Stammzellgabe ging jedoch, erfreulicherweise, mit einer Stabilisierung der normalerweise schubartig fortschreitenden Erkrankung einher. Und: je höher die Dosis der Stammzellinjektion war, desto geringer war der Abbau des Nervengewebes im Gehirn der jeweiligen Patientinnen und Patienten. So brisant diese Effekte sind, so faszinierend ist die zugrundeliegende Forschung.

Wie man Neurone austauscht

Die vorbereitende Entdeckung fand 2006 in Japan statt. An der Universität Kyoto gelang dem Arzt Shinya Yamanaka erstmals die Verwandlung von adulten, differenzierten Mäusezellen in pluripotente Stammzellen – der Nobelpreis für diese induzierten, pluripotenten Stammzellen (iPSC) folgte 2012.

Die Folge dieser Entdeckung war, dass es zunächst denkbar, später dann möglich wurde, körpereigene Zellen eines Patienten zu entnehmen, diese in Stammzellen zu verwandeln und im ‚zellulären Krisengebiet‘ wieder zu transplantieren – ein großer Schritt in Richtung Personalisierter Medizin. Doch ausgerechnet im Nervengewebe wollten die neu geschaffenen Stammzellen nicht so richtig funktionieren – sie starben häufig oder waren dysfunktional. Die Entwicklung lief daher lange schleppend, ein klinischer Nutzen für die Neurologie schien in weiter Ferne.

Eine kleine Revolution aus München

Der Weg aus dieser wissenschaftlichen Sackgasse wurde womöglich vor wenigen Jahren an meinem eigenen Campus der LMU in München gefunden. In einer Serie bahnbrechender Artikel gelang es der Hirnforscherin Magdalena Götz und ihrem Team zu verstehen, welcher ursprüngliche Zelltyp notwendig sein könnte, um daraus funktionsfähige Neurone zu gewinnen. Erst vor drei Monaten veröffentlichten die Münchner ein Papier, in dem die molekularen Übeltäter beschrieben werden, welche eine erfolgreiche Reprogrammierung von Stammzellen zu Neuronen verhindern (3).

Magdalena Götz strebte eine klinische Anwendung ihrer Forschung eigentlich nie an und war ursprünglich auf die Entwicklung und Reifung des Gehirns spezialisiert. Jedoch entdeckte sie vor einigen Jahren, dass Gliazellen im sich entwickelnden Nervensystem als Stammzellen fungieren. Früher wurde dieser Zelltyp etwas stiefmütterlich als ‚Stützzellen‘ abgestempelt (weil sie im gesamten Nervengewebe die Räume zwischen den Neuronen ausfüllen). Heute wissen wir, dass ihre Aufgaben vielfältig sind: Immunabwehr, elektrische Isolierung, Narbenbildung oder der Elektrolythaushalt sind nur einige der vielen Funktionen der vielen Typen von Gliazellen. Als Stammzellen der Gehirnentwicklung erhalten sie nun womöglich ihre bis dato größte Rolle: Götz und ihr Team fanden heraus, dass die frühen, stammzellartigen Gliazellen in hochfunktionale Neurone konvertiert werden konnten – an sich bereits ein Meilenstein.

Die Konvertierung von Stammzellen zu Neuronen ist entschlüsselt

Als Götz und ihr Team Gliazellen von Patienten mit einem Proteindefekt in Neurone konvertierte, beobachteten sie obendrein, dass dies schlechter gelang als bei gesunden Kontrollprobanden (der Proteinfehler wird dabei als Ursache für einige Erkrankungen des Gehirns vermutet). Sie identifizierten sodann zwei molekulare Stressantworten der Patientenglia. Blockierten sie diese Stresssysteme medikamentös, so wurde ein Vielfaches an Gliazellen in funktionierende Neurone transformiert. Vor wenigen Tagen legte das Labor von Magdalena Götz nach: sie konnten die epigenetischen Faktoren entschlüsseln, die für eine funktionierende Reprogrammierung von Glia in Neurone notwendig sind (4). Damit ist die Wissensbasis fundiert genug, um allmählich in Richtung neuronaler Stammzelltherapie zu denken. Und womöglich innovativ genug, um für einen Nobelpreis in Frage zu kommen.

Abbildung 1: Zellarten des Nervengewebes und ihr Verhältnis zu Neuronen. Magdalena Götz und ihr Team fanden heraus, dass die Rolle Neuronaler Stammzellen während der Entwicklung von frühen Gliazellen übernommen wird. Diese entwickeln sich normalerweise zu Astrozyten, Microglia und Oligodendrozyten. Dem Team um Götz gelang es jedoch, funktionale Neuronen aus ihnen zu gewinnen. (Bild von Maciel-Barón et al.)

Welche Nebenwirkungen einer Neuronalen Stammzelltherapie wären zu befürchten?

Aktuell ist die größte Sorge der Forscherinnen und Forscher die Induktion von Hirntumoren. Denn bisher müssen die molekularen Signale (Transkriptionsfaktoren), welche eine Zelle zur Stammzelle umwandeln, über fehleranfällige Wege in das Erbgut der Zellen eingeschleust werden. Zum Beispiel per (inaktivem) Virus, welcher das Erbgut womöglich mehr verändert, als gewünscht ist. Diese überschüssigen Veränderungen könnten theoretisch Tumore verursachen. Doch dieses Problem ließe sich lösen, wenn sicherere Methoden zur Einschleusung gefunden würden – deshalb ist das auch ein heißes Thema der aktuellen Stammzellforschung. Auch wenn es bisher an klinischen Studien am Menschen mangelt: Das atemberaubende Tempo dieser Grundlagenforschung bringt eine heilsame Stammzelltherapie für viele neurologische Erkrankungen womöglich mittelfristig in Reichweite.

Quellen:

(1) Rosenzweig, E. S., Brock, J. H., Lu, P., Kumamaru, H., Salegio, E. A., Kadoya, K., … & Tuszynski, M. H. (2018). Restorative effects of human neural stem cell grafts on the primate spinal cord. Nature medicine24(4), 484-490.

(2) Leone, M. A., Gelati, M., Profico, D. C., Gobbi, C., Pravatà, E., Copetti, M., … & Vescovi, A. L. (2023). Phase I clinical trial of intracerebroventricular transplantation of allogeneic neural stem cells in people with progressive multiple sclerosis. Cell Stem Cell30(12), 1597-1609.

(3) Sonsalla, G., Malpartida, A. B., Riedemann, T., Gusic, M., Rusha, E., Bulli, G., … & Masserdotti, G. (2024). Direct neuronal reprogramming of NDUFS4 patient cells identifies the unfolded protein response as a novel general reprogramming hurdle. Neuron112(7), 1117-1132.

(4) Pereira, A., Diwakar, J., Masserdotti, G., Beşkardeş, S., Simon, T., So, Y., … & Götz, M. (2024). Direct neuronal reprogramming of mouse astrocytes is associated with multiscale epigenome remodeling and requires Yy1. Nature Neuroscience, 1-14.

Abb. 1: Maciel-Barón, L. Á., Moreno-Blas, D., Morales-Rosales, S. L., González-Puertos, V. Y., López-Díazguerrero, N. E., Torres, C., … & Königsberg, M. (2018). Cellular senescence, neurological function, and redox state. Antioxidants & redox signaling28(18), 1704-1723.

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Mein Name ist David Wurzer. Ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

3 Kommentare

  1. Am meisten erstaunt mich ja, dass es scheinbar genügt, die Nervenzellproduktion anzukurbeln um dann die alte Funktionalität wiederherzustellen. Das bedeutet, dass die neu enstandenen Nervenzellen scheinbar wissen, was sie zu tun haben um den Defekt zu beheben, dass sie sich also in richtiger Weise ausdifferenzieren und die „richtigen“ Verbindungen mit anderen Nervenzellen eingehen.

    Das könnte letztlich bedeuten, dass eine generelle Anregung des Nervenzellwachstums in älteren Erwachsenen ihr Hirn verjüngen könnte. Es wäre also denkbar, dass irgendwann ein 80-jähriger vom Tattergreis wieder zum Schnelldenker werden kann.

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