Neuroinflammation und Neurodegeneration: Der Teufelskreis der Immunantwort
Man stelle sich das Gehirn als eine weitläufige Stadt vor, durchzogen von verworrenen Straßen, Gassen und Wegen. In dieser Stadt gibt es Viertel, die eng miteinander verbunden sind, während andere voneinander abgeschottet existieren. Manche Ecken sind bewohnt, andere liegen still und verlassen da. Doch nun steht die Stadt in Flammen. Was einst als kleiner Brand begann, so winzig, dass er kaum Beachtung fand, hat sich unaufhaltsam ausgebreitet. Heute lodern die Flammen in mehreren Stadtteilen, und kein Gebiet kann sich mehr als sicher betrachten. Aber wie begann dieses Feuer? Es wurde von der Stadt selbst entfacht, ursprünglich, um Ratten aus ihren Verstecken zu treiben. Doch das kontrollierte Feuer geriet außer Kontrolle, und nun droht die Stadt in ihren eigenen Flammen unterzugehen.
Diese Metapher beschreibt Neuroinflammation: eine Entzündung im Gehirn, die vom eigenen Immunsystem ausgelöst wird.
Wie funktioniert das Immunsystem im Gehirn?
Blut-Hirn-Schranke (BHS)
Durch die Blut-Hirn-Schranke ist es vielen großen Immunzellen, wie zum Beispiel den Makrophagen (Fresszellen), nicht möglich, ins Gehirn zu gelangen und dort Erreger zu bekämpfen. Die BHS besteht aus dem Endothel der Kapillaren, Basalmembran, Perizyten, Mikroglia und den Fortsätzen von Astrozyten. Die Kapillaren haben also ein zweischichtiges Abtrennungssystem: eine besonders dicke Wand zum einen und eine Schicht von Astrozyten außenherum zum anderen. Das hat zur Folge, dass keine polaren Stoffe diese Schranke überqueren können. Dazu gehören Erreger und Immunzellen. Aber auch wasserlösliche Substanzen wie Aminosäuren und Zucker müssen durch aktiven Transport die Schranke überwinden. Gase wie Sauerstoff und Kohlenstoffdioxid hingegen können die Schranke ungehindert passieren.
Diese BHS ist wichtig und funktioniert so, weil die Zellen des Immunsystems mit großen Mengen an Zellgiften arbeiten, um befallene Zellen und Erreger kaputtzumachen. Im Rest des Körpers ist das auch kein Problem, denn Zellen können nachproduziert werden. Allerdings ist das im Gehirn ein riesiges Problem. Denn wenn Neurone zerstört werden, dann werden nicht einfach neue gebildet, die die alten ersetzen. Nein, vielmehr geht eine Menge an gespeicherten Informationen verloren, und das wäre eine Katastrophe für die Funktionalität des Gehirns. Deswegen überqueren Immunzellen in den meisten Fällen möglichst nicht die BHS.
Interaktion Gehirn und Immunsystem
Aber das bedeutet keineswegs, dass das Gehirn völlig abgeschottet ist vom Immunsystem unseres Körpers. Denn in den Blutgefäßen am Gehirn wimmelt es nur so von Immunzellen. Und viele Studien zeigen, dass das Immunsystem in starker Interaktion mit dem Gehirn steht. Denn Zytokine, die vom Immunsystem gebildet werden, können die BHS überwinden und Reaktionen auslösen. Wenn nämlich das Immunsystem des Gehirns überfordert ist mit Erregern, dann kann es durch Ausschütten von Zytokinen den Immunzellen des Körpers das Überqueren der BHS erleichtern. Umgekehrt kommt es auch vor, dass das Immunsystem des Körpers schwer arbeitet, und diese Information teilt es auch dem Gehirn mit, denn dann kann es das Verhalten des Menschen anpassen. Beispielsweise werden Menschen bei heftigen Krankheiten wie der Grippe sehr zurückgezogen und schlafen viel, um Energie zu sparen. Diese Funktionen und noch andere werden vom Gehirn gesteuert. Das Immunsystem des Körpers ist zwar rigoros getrennt vom Gehirn durch die BHS, aber es findet dennoch ein reger Austausch statt.
Mikrogliazellen
Wie verteidigt sich das Gehirn gegen Erreger, wenn es doch weitestgehend abgeschottet ist vom Immunsystem des Körpers? Tatsächlich hat das Gehirn selbst eigene Immunzellen, die Mikroglia. Diese funktionieren ähnlich wie Makrophagen und „fressen“ Zell-Müll und Erreger, falls doch mal einige die BHS überwinden konnten. Die Mikroglia gehören zu der Familie der Gliazellen im Gehirn, und sie haben im Ruhezustand verästelte Fortsätze, wodurch sie ein verzweigtes Verteidigungsnetz bilden. Wenn sie auf Erreger treffen, geben sie Zellgifte ab, wie Zytokine und Sauerstoffradikale. Diese Stoffe werden minimal produziert, damit sie dem Gehirn nicht schaden. Wenn Mikrogliazellen aber dauerhaft aktiviert sind, dann geben sie zu viel dieser Zellgifte ab, und das Gehirn kann Schaden nehmen. Dadurch können sie neurodegenerative Erkrankungen bedingen oder zumindest verschlimmern.
Was ist Neuroinflammation?
Neuroinflammation beschreibt eine Entzündungsreaktion im Nervengewebe, die durch das Immunsystem des Gehirns, insbesondere durch die Aktivität von Mikrogliazellen, ausgelöst und aufrechterhalten wird. Diese Entzündungsreaktion stellt einen physiologischen Abwehrmechanismus dar, der darauf abzielt, das Gehirn vor potenziellen Bedrohungen wie Infektionen oder Verletzungen zu schützen. Unter normalen Bedingungen kann eine moderate Entzündung sogar positive Effekte haben, indem sie die neuronale Plastizität fördert, Reparaturprozesse im Gewebe unterstützt und neuroprotektive Funktionen ausübt.
Jedoch besteht die Gefahr, dass sich diese Entzündung chronisch manifestiert, auch ohne das Vorhandensein von Erregern oder anderen schädlichen Faktoren. In solchen Fällen entwickelt sich eine übermäßige und andauernde Entzündungsreaktion, die zu erheblichen negativen Konsequenzen führen kann, darunter kognitive Beeinträchtigungen, eine Verringerung der neuronalen Plastizität sowie dauerhafte Nervenschäden.
Diese chronischen Entzündungen stehen stark mit neurodegenerativen Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, Huntington’s Disease, Amyotrophe Lateralsklerose und Demenz in Verbindung. Lange Zeit ging man davon aus, dass Neuroinflammation in Folge einer solchen Krankheit entstehen würde, allerdings gibt es mittlerweile viele Studien, die belegen, dass die Entzündungen den Verlauf einer neurodegenerativen Erkrankung tatsächlich erschweren. Man geht heute davon aus, dass Neuroinflammation eine große Rolle in der Entwicklung dieser neurodegenerativen Krankheiten spielt.
Wie entsteht Neuroinflammation?
Das Immunsystem hat die Aufgabe, Pathogene zu entfernen, das Gewebegleichgewicht aufrechtzuerhalten und Verletzungen zu heilen. In den meisten Fällen ist die Immunantwort gezielt und wird nach Erreichen ihres Ziels vom Körper deaktiviert. Sobald der Erreger beseitigt, die Verletzung geheilt oder das Gleichgewicht wiederhergestellt ist, endet die Immunreaktion. Doch wenn der auslösende Reiz bestehen bleibt, kann das Immunsystem überfordert werden, was zu einer chronischen Entzündung führt. Solche persistierenden Reize können intern, etwa durch angesammelte Proteine, oder extern, wie durch Krankheitserreger, entstehen. Auch genetische Faktoren können chronische Entzündungen begünstigen.
Neurodegenerative Krankheiten sind eng mit Entzündungen im Gehirn verknüpft. Diese Erkrankungen schädigen bestimmte Hirnregionen, verändern Proteinkonzentrationen und beeinträchtigen neuronale Funktionen, worauf das Immunsystem mit Entzündungsreaktionen antwortet. Gleichzeitig fördert eine chronische Entzündung jedoch genau diese schädlichen Veränderungen im Gehirn. Es entsteht ein Teufelskreis.
Was tun gegen Neuroinflammation?
Aktuell gibt es nicht das eine Medikament, mit dem man die Entzündungen im Gehirn gezielt ausschalten kann. Stattdessen ist die Forschung aktiv dabei, bei den verschiedenen neurodegenerativen Krankheiten nach Mechanismen zu forschen, an denen man ansetzen kann, um die Inflammation herunterzuregulieren. Hier gibt es vielversprechende Ansätze. Bei Alzheimer beispielsweise wird an Antikörper-Therapien gearbeitet, die spezifisch die typischen Plaques angreifen. Es gibt außerdem einige Entzündungshemmer, die momentan in der Testphase stecken, die wohl die BHS überwinden können und überaktive Mikroglia ausschalten. Das würde chronische Entzündungen hemmen und so den erschwerten Verlauf von beispielsweise Alzheimer oder Parkinson vorbeugen.
Zusammenfassung
Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass das Gehirn durch die BHS strikt getrennt ist vom Rest des Körpers. Das sollte auch das Immunsystem betreffen. Allerdings gibt es in den letzten 10-20 Jahren viele neue Forschungsergebnisse, die belegen, dass das Gehirn schon auch in Interaktion mit dem Immunsystem steht. Außerdem hat es auch seine eigenen Immunzellen, nämlich die Mikroglia. Diese können bei einer hohen Zahl von Erregern Entzündungsreaktionen hervorrufen. Das ist sinnvoll, um die Krankheiten zu bekämpfen oder Schäden zu reparieren. Aber manchmal, gerade im Zusammenhang mit neurodegenerativen Erkrankungen, überreagieren die Mikroglia, und die Zellgifte, die sie ausschütten, liegen in so großer Menge vor, dass sie auch die Neurone schädigen. Dadurch verschlimmern sie diese Krankheiten eher. Aktuell gibt es viele vielversprechende Forschungen
Quellen
DocCheck, M. B. (n.d.). Neuroinflammation – DocCheck Flexikon. DocCheck Flexikon. https://flexikon.doccheck.com/de/Neuroinflammation
Mikrogliazellen – das Immunsystem des Gehirns. (2024, August 22). Max Delbrück Center. https://www.mdc-berlin.de/de/news/archive/1996/19960226-mikrogliazellen_-_das_immunsystem_des_gehi
Neuroinflammation – Das besondere Immunsystem im Gehirn. (n.d.). dasGehirn.info. https://www.thebrain.info/node/1596
Neuroinflammation: Was bedeutet das? | NERVIXENTM. (n.d.). https://www.nervixen.de/neuroinflammation-pea
Redaktion: BMBF LS5 Internetredaktion. (2020, March 16). Übergang von akuter zu chronischer Neuroinflammation – DLR Gesundheitsforschung. Deutsche Zentrum Für Luft Und Raumfahrt e.V. – DLR Gesundheitsforschung. https://www.gesundheitsforschung-bmbf.de/de/ubergang-von-akuter-zu-chronischer-neuroinflammation-4167.php
Kann Acetylsalicylsäure die Blut-Hirn-Schranke überwinden,
und könnte sie Entzündungen im Gehirn verringern?
Soweit meine kurze Recherche ergeben hat; nein. Viele Medikamente können die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Das macht die Behandlung von Krankheiten im Gehirn zusätzlich schwierig. Aber ich lasse mich an diesem Punkt auch gerne belehren, wenn jemand da anderes gelesen hat?
Mal eine Offtopic-Frage: Wenn eine Ihrer Co-Autorinnen auf dem Blog ihren Abschied verkündet, werden dann noch Beiträge zu ihren Artikeln freigeschaltet? Ich habe letzte Woche einen Kommentar zum letzten Blogartikel von Frau Anthes geschrieben, aber eine Freischaltung ist bislang nicht erfolgt.
Die Autoren/innen sind selbst für die Kommentare zuständig. Die anderen sind ja nicht im Thema drin. Denke also nicht, dass der Kommentar noch freigeschaltet wird. Tut mir leid.
Wir schauen (halbwegs) regelmäßig, ob bei Blogbeiträgen unser Alumni-Autorinnen und Autoren neue Kommentare da sind, die wir freigeben können. Allerdings können wir, da wir den Artikel nicht verfasst haben, nicht inhaltlich auf diese Kommentare eingehen.