Lecanemab gegen Alzheimer – Heilung oder Hype?

Ein Medikament gegen Alzheimer war von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) im Juli 2024 abgelehnt worden, im November widerruft die Behörde ihr Urteil und empfiehlt das Medikament – mit Einschränkungen. Was ist da los?

Lecanemab: Antikörper gegen Proteinablagerungen

Ein neues Medikament hat dieses Jahr große Hoffnungen im Kampf gegen die Alzheimerdemenz ausgelöst. Lecanemab heißt der Wirkstoff, der das Fortschreiten von Alzheimer stoppen soll. So komplex die Erkrankung ist, so simpel klingt zunächst der therapeutische Mechanismus. Antikörper, die aus Mäusen gewonnen werden, werden so verändert, dass sie sich zielgenau gegen die Ursache richten, welche für Alzheimer verantwortlich gemacht werden: das Beta-Amyloid, eine Proteinablagerung im Gehirn, die mit Alzheimer korreliert. Damit wäre Lecanemab die erste kausale Therapie für Alzheimer und ein wissenschaftlicher Meilenstein.

Die Pharmaunternehmen, die Lecanemab entwickelten, hatten ihre groß angelegte klinische Studie zur Wirksamkeit jüngst mehreren Arzneimittelbehörden vorgelegt (1). Darunter auch die EMA – welche aber im Juli zunächst die Zulassung verweigerte.

Die Wirkung von Lecanemab

Warum blockierte die EU, während das Medikament in mehreren Ländern wie Großbritannien, den USA, Japan oder China bereits zugelassen wurde? Die Begründung der EMA lag in der Risiko-Nutzen-Abwägung.

Schaut man sich die Kernergebnisse der Pharma-Studie an, wird auch klar warum. Der therapeutische Effekt wurde mit einem Score gemessen, der den kognitiven Abbau für Alltagsaktivitäten quantifizieren soll, der Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes. Diese Skala reicht von 0 bis 18, wobei 0 eine symptomfreie Demenz anzeigt und 18 die schwerstmögliche Demenz. In der Studie der Hersteller wurden 1795 Patientinnen und Patienten mit beginnender, milder Demenz über 18 Monate mit Lecanemab oder Placebo behandelt. Das Ergebnis: Mit Placebo verschlechterten sich die Scores der Betroffenen um 1,66, mit Lecanemab nur um 1,21 – also eine um 0,45 Punkte weniger starke Verschlechterung. Normalerweise verschlechtern sich Patienten pro Jahr um ein bis zwei Punkte.

Das Fazit der Fachwelt war, dass Lecanemab eine Verlangsamung von Alzheimer um vielleicht ein halbes Jahr bieten könnte. Jedoch nur für Patientinnen und Patienten im Frühstadium mit milden Symptomen. Doch auch bei diesen bekämpft Lecanemab nur die Verschlechterung. Bestehende Symptome verändert Lecanemab nicht mehr und auch fortgeschritten Erkrankte profitieren von Lecanemab nicht.

Eine Sammlung von Expertenstimmen zur EMA-Entscheidung findet sich auf Science Media Centre, wo sich Robert Howard, Professor am renommierten University College London, wie folgt zitieren lässt: “Angesichts der Evidenz einer nur geringen Wirksamkeit, die für eine Person mit Alzheimer einfach nicht spürbar wäre und die nach keinem objektiven Maßstab als klinisch sinnvoll angesehen werden kann, und der realen Risiken von Schäden durch Hirnschwellung und Blutungen, hat die EMA meiner Meinung nach die richtige Entscheidung getroffen” (2).

Erwähnenswert ist auch, dass zwei der Länder mit Lecanemab-Zulassungen die Länder der Herstellerunternehmen sind, nämlich die USA und Japan. In den anderen Ländern mit Zulassungen ist das Medikament übrigens trotzdem noch nicht auf dem Markt.

Die Nebenwirkungen von Lecanemab

Der Effekt, auch wenn es ihn offensichtlich gibt, war also sehr klein. Die von den Herstellern dokumentierten Nebenwirkungen unter Lecanemab waren hingegen groß:

  • 26% der Behandelten erlebten Schüttelfrost, Übelkeit, Ausschläge (wie bei Impfungen)
  • 17%: kleine und (seltener) größere Hirnblutungen ohne klinische Symptome
  • 13%: Hirnödeme ohne klinische Symptome (also Schwellungen des Hirns)
  • 3%: schwere Hirnödeme mit neurologischen Ausfällen
  • 0.7%: schwere Hirnblutungen mit neurologischen Ausfällen

Dass Hirnblutungen und Hirnödeme verlässlich als Nebenwirkungen von antikörperbasierten Alzheimermedikamenten auftreten, ist seit Jahren bekannt. Frühere Therapien scheiterten genau an diesen Nebenwirkungen, weil sie dort noch schwerer waren. Unter Lecanemab sind sie zwar vergleichsweise schwächer – der EMA waren sie bis Juli wohl aber doch noch zu häufig.

Abb. 1: Übersicht der Nebenwirkungen von Lecanemab verglichen mit dem Placebo (Herstellerstudie). Oben links: 88,9% der Probanden mit Lecanemab zeigten mindestens eine Nebenwirkung, gegenüber 81,9% der Probanden mit Placebo. Oben rechts: Unter Therapie mit Lecanemab kam es bei 14% der Patientinnen und Patienten zu ernsten Nebenwirkungen, unter Therapie mit Placebo bei 11,3%. Unten links: Reaktionen auf die intravenöse Infusion mit Lecanemab (ähnlich einer Impfreaktion) zeigten 26,4% aller Patientinnen und Patienten; auf die Infusion mit Placebo zeigten 7,4% eine Reaktion. Unten rechts: in der Bildgebung sichtbare Veränderungen mit Ödemen und Blutungen (“ARIA”-Nebenwirkungen) traten in 12,6% der Lecanemab-Behandlungen auf und in 1,7% der Placebobehandlungen. Übernommen aus der Originalstudie (van Dyck et al. 2022, NEJM).

Zweiklassenmedizin?

Warum also ist die EMA diesen Monat von ihrer Position abgerückt? Zunächst traf die Entscheidung der EMA, Lecanemab nicht zur Zulassung zu empfehlen, auf viel Unverständnis, vor allem bei Ärztinnen und Ärzten, die sich um ihre Patientinnen und Patienten sorgen. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie äußerte sich beispielsweise relativ drastisch und politisch: “Damit beschreitet Europa nicht nur einen Sonderweg, sondern befördert auch eine Zweiklassenmedizin. Wer es sich leisten kann, wird das Medikament über die internationale Apotheke beziehen und sich in Deutschland verabreichen lassen” (3). Auf diese Dimension des Problems kommen wir gleich noch zurück.

Genetische Risikogruppen

Verständlicherweise waren auch die Hersteller frustriert und baten um eine erneute Prüfung durch die EMA. Das Argument der Pharmaunternehmen war, dass das Risiko für schwere Nebenwirkungen bei einer bestimmten Gruppe von Alzheimerpatientinnen und -patienten viel höher sei, nämlich bei den homozygoten Trägern des Gens ApoE4 (homozygot bedeutet, dass in den Zellen der Betroffenen zwei gleiche Kopien des Gens auf den Chromosomen vorliegen, weil sowohl Mutter als auch Vater dieses Gen weitergaben). Nach Berücksichtigung dieser Subgruppe in ihren Analysen korrigierte sich die EMA: 12,6% der ApoE4-Gruppe wiesen Hirnödeme auf, aber nur 8,9% der Patientinnen und Patienten ohne das Gen. Bei den Hirnblutungen waren es 16,9% versus 12,9% (4).

Das bedeutet: Menschen ohne den genetischen Risikofaktor kommen für eine Therapie mit Lecanemab grundsätzlich in Frage – das wären etwa 85% aller Alzheimerpatientinnen und -patienten. Fachleute gehen deshalb von mehr als 200.000 neuen Patientinnen und Patienten pro Jahr aus, die mit Lecanemab therapiert werden könnten (5). Im Januar wird die EU-Kommission entscheiden, ob das Medikament tatsächlich auf den europäischen Markt kommt.

Gesundheitspolitische Nebenwirkungen

Das größte Problem einer Zulassung von Lecanemab dürften die horrenden Kosten des Medikaments sein. In den USA beziffern sich die jährlichen Kosten pro Patient auf 26.500$ nur für das Medikament. Im Deutschen Ärzteblatt wurden diese Kosten für die deutschen Krankenkassen auf eine halbe Milliarde Euro pro Jahr umgerechnet (5). Die Kassenbeiträge müssten demnach kräftig angehoben werden.

Die gesundheitsökonomisch stärkere Nebenwirkung dürfte jedoch sein, dass sich vermutlich bald Millionen von Patientinnen und Patienten, aber auch Angehörige den Gentests unterziehen wollen, die das ApoE4-Gen bestimmen und damit klären, ob man selbst oder die Verwandten für eine Therapie in Frage kommen. Dieser Gentest kostet aber auch wieder Geld – und vor allem Zeit, ebenso wie ein hausärztlicher Demenztest und eine anschließende Liquordiagnostik beim Facharzt. Wartezeiten bei psychiatrischen und neurologischen Fachärzten würden sich verlängern. Ein weiterer, gewichtiger Kostenfaktor ist die Begleitung der Therapie mit MRT und PET-Scans. Schließlich müssen starke Hirnblutungen und Ödeme ausgeschlossen werden – kontinuierlich. Je nach Versicherungsstatus sind das wiederum hunderte Euro pro Person und Scan. Da die Effekte einer Therapie durch Lecanemab jedoch so gering sind, wird sicherlich eine gesellschaftliche Debatte über das Kosten-Nutzen-Verhältnis ausbrechen. In Großbritannien sprach sich die zuständige Behörde im Hinblick auf den Staatshaushalt bereits gegen eine Kostenerstattung für die Patientinnen und Patienten aus.

Mit solchen Aussichten drängt sich die Frage auf, ob die Zweiklassenmedizin damit nicht über die Hintertür doch Einzug hält. Privatpatientinnen und -patienten haben ohnehin kürzere Wartezeiten und können auch bei Lecanemab einen zeitlichen Vorzug erwarten – bei einer Krankheit, bei der Monate einen Unterschied machen und bei der auch die Therapie Monate schenkt. Vielleicht liegt das Problem nicht in der Frage der Zulassung oder Nicht-Zulassung eines teuren Medikaments, sondern in einem System, in dem 10% der Versicherten eine privilegierte Behandlung erhalten und 90% Kassen zweiten Ranges angehören. Wenn Lecanemab 2025 auf den Markt kommt, wäre das ein guter Zeitpunkt für solch eine Debatte.

Quellen

(1) Van Dyck, C. H., Swanson, C. J., Aisen, P., Bateman, R. J., Chen, C., Gee, M., … & Iwatsubo, T. (2023). Lecanemab in early Alzheimer’s disease. New England Journal of Medicine388(1), 9-21.

(2) Expert reaction to EMA decision on lecanemab for Alzheimer’s disease | Science Media Centre (26.07.2024)

(3) DGN bedauert CHMP-Empfehlung gegen die EMA-Zulassung des ersten Alzheimer-Antikörpers in Europa DGN One | Artikel Details (Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie vom 26.7.2024)

(4) Leqembi recommended for treatment of early Alzheimer’s disease | European Medicines Agency (EMA) (Statement der EMA vom 14.11.2024)

(5) Frimmer, V. & Osterloh, F. (2024). Alzheimer-Antikörper Lecanemab: Sorge vor Kollateralschäden. Dtsch Arztebl 121(24): A-1556 / B-1312

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Mein Name ist David Wurzer. Ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

1 Kommentar

  1. Die Wirkung von Lecanemab (eine etwas langsamere Entwicklung von Alzheimer) rechtfertigt eine Therapie mit diesem Medikament nicht und die hohen Behandlungskosten sprechen gleich noch einmal gegen Lecanemab. Das würde sogar dann gelten, wenn keinerlei Nebenwirkungen zu verzeichnen wären, aber erst recht gilt das hier mit insgesamt bei 17% der Patienten mit messbaren negativen Auswirkungen im Hirn.

    Eines ist aber sicher: Auf ewig hin können die staatlichen Ausgaben für Gesundheit nicht ansteigen. 17% des BIP wird in den USA für Gesundheit ausgegeben und in Europa fast überall mehr als 10% mit starker Tendenz nach oben. Großbritannien ist vielleicht das erste Land, dass eine Therapie aus Kostengründen ablehnt, aber sicher nicht das Letzte.
    341 Milliarden Euro werden in D im Jahr 2025 die Ausgaben für die gesetzliche Krankenversicherung sein. Das ist mehr als das gesamte Bruttoinlandprodukt Kenias, eines Landes mit 47 Millionen Einwohnern. Zwei Deutsche könnten also allein mit ihren Abgaben für die gesetzliche Krankenversicherung die vollständigen Lebenshaltungskosten eines Kenianers stemmen.

    Ich gehöre übrigens zu den Menschen, die nichts gegen gewisse Ungleichheiten haben und wenn es in D viele Millionäre und einige Milliardäre gibt, stört mich das nicht. Was mich aber stört, sind derart extreme globale Ungleichheiten wie es sie heute gibt, die sich eben darin zeigen, dass die breite Masse der Europäer beispielsweise mehr für die Gesundheit oder die Ferien ausgegeben, als Menschen in anderen Ländern zum ganzen Leben zur Verfügung haben.

    Übrigens gab es früher auf scilogs einmal einen Beitrag, der die Nachteile und Probleme von Marskolonien aufführte. Ein Punkt war, dass Marskolonisten eine weniger gute ärztliche Betreuung hätten als auf der Erde, weil es in einer Marskolonie zwar einige Ärzte aber eben nicht all die Spezialisten gäbe, die hier auf der Erde zur Verfügung stehen. Dabei muss man gar nicht zum Mars gehen. Auch den meisten Kenianern sind nur wenige ärztliche Spezialisten zugänglich. Wenn man nicht auf den Mars will, weil es dort zu wenig Ärzte gibt, dann will man sicher auch nicht Kenianer sein.

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