Irisin: kommt jetzt das Wundermittel gegen Alzheimer?

Es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass Sport und Bewegung auch gut für das Gehirn sind. Doch nur die wenigsten wissen, wie weit die experimentelle Alzheimerforschung bereits ist. Fernab der Neurowissenschaft wurde 2012 der Botenstoff Irisin entdeckt, ein Signalmolekül, das während körperlicher Aktivität von Muskelzellen ausgeschüttet wird. Ein Jahrzehnt später wissen wir: dieses Molekül, häufig plump als ‚Sport-Hormon‘ bezeichnet, hat das Potential, die Alzheimertherapie zu revolutionieren.

Ein Molekül, eine Krankheit, eine bahnbrechende Studie

Alzheimer betrifft mehr als 35.000.000 Gehirne weltweit, beraubt Menschen ihres Gedächtnisses und damit ihrer Persönlichkeit. In Ländern mit hoher Lebenserwartung wie Deutschland, wird bei etwa jeder zweiten Person, die älter als 80 Jahre ist, Alzheimer diagnostiziert. Keine gute Aussicht für eine alternde Gesellschaft – zumindest bis 2019, als ein 25-köpfiges Forschungsteam Irisin endlich auch in einem neurowissenschaftlichen Labor untersuchte.

In ihrer herausragenden Studie, die in Nature Medicine veröffentlicht wurde, entdeckte das Team Hinweise darauf, dass Irisin therapeutisch gegen Alzheimer genutzt werden kann (1). Die erste Forschungsfrage lag dabei auf der Hand: es war bekannt, dass Irisin maßgeblich bei der Ausschüttung eines Faktors hilft, welcher wiederum das Lernen durch Synapsenbildung fördert und ohne den Gedächtnis unmöglich wäre (der Brain-Derived-Neurotrophic-Factor). Könnte es also sein, dass vergessliche Alzheimerpatienten einen niedrigeren Irisinspiegel als Gesunde aufweisen? Und tatsächlich war es so: in der Spinalflüssigkeit (Liquor) von Alzheimerpatienten zeigten sich stark verringerte Irisinwerte, verglichen mit Gesunden und mit Patienten mit anderen Erkrankungen, die das Gedächtnis beeinträchtigen.

Alzheimer ist assoziiert mit Protein-Ablagerungen im Gehirn (‚Protein-Müll‘). Vor allem das Protein Beta-Amyloid spielt hier eine Rolle, gerade in den Arealen, die für das Gedächtnis ausschlaggebend sind, wie der Hippocampus. Die Forscher wollten nun prüfen, ob die künstliche Zugabe von Beta-Amyloid sich auf den Irisinspiegel auswirkt. Deshalb entnahmen sie Laborratten ihre Hippocampi und behandelten diese in der Petrischale mit Beta-Amyloid. Auch hier ein erstaunlicher Befund: nach der Behandlung war Irisin an den Hippocampus Zellen kaum noch zu finden. Das war den Forschern aber noch nicht genug. Sie injizierten das Beta-Amyloid jetzt in die Gehirne von gesunden Mäusen, und auch hier sank der Irisingehalt im Hippocampus durch das Alzheimerprotein. Es schien also ganz so, als würde bei Alzheimer der Beta-Amyloid Müll das Irisin aus dem Gehirn verdrängen. Folgerichtig sahen sich die Forscher als nächstes gentechnisch veränderte Mäuse an, die sehr früh Alzheimer bekommen und dabei die typischen Ablagerungen zeigen. Der Verdacht bestätigte sich: diesen Alzheimer-Mäusen fehlte der normale Irisinspiegel im Gehirn, den gesunde Mäuse aufweisen.

An dieser Stelle hätten andere Wissenschaftler vermutlich aufgehört zu forschen und die Ergebnisse sofort veröffentlicht – verblüffend genug waren sie ja. Nicht aber dieses Team, welches anscheinend Gefallen daran gefunden hatte, Protein-Müll in Gehirne zu injizieren: nun waren lebende Menschen dran. Zwei Männern und drei Frauen, die alle an Epilepsie litten und deshalb operiert wurden, wurde – mit Einverständnis natürlich – während der OP eine winzige Menge Hirnrinde (Cortex) entnommen. Diese Probe gesunden, menschlichen Hirngewebes wurde künstlich am Leben erhalten und dann im Labor mit Beta-Amyloid behandelt. Das Irisin der Hirnrinde verpuffte.

Irisin: eine Regenjacke für das Gehirn?

Jetzt wollten es die Forscher und Forscherinnen wirklich wissen: kann man Mäuse durch einen Irisin-Booster vor Alzheimer schützen? Sie injizierten einer Gruppe von Mäusen so einen Irisin-Booster, einer anderen Gruppe nur eine ähnliche Kontrollsubstanz. Das Irisinlevel im Gehirn wurde dadurch bei der ersten Gruppe für 6 Tage stark erhöht. Nun bekamen die beiden Mäusegruppen das Alzheimerprotein, Beta-Amyloid, injiziert – mit sensationellem Ergebnis: nur die zweite Gruppe erkrankte, die Mäuse mit Irisin-Booster blieben dagegen verschont und zeigten keine Gedächtnisprobleme in den Tests. Um sicherzugehen, wurde das Experiment mit den Mäusen wiederholt, die schon früh an Alzheimer erkranken. Wenn diesen Mäusen der Irisin-Booster verabreicht wurde, wurden sie nicht krank – obwohl sie eigentlich vom Menschen genetisch extra so verändert wurden, dass sie sicher Alzheimer bekommen. Ein wissenschaftlicher Durchbruch mit Therapiepotential.

Auch zurück in der Petrischale testete die Forschergruppe die Schutzwirkung von Irisin erfolgreich. Hippocampus-Scheiben, die zuvor mit Irisin geboostert wurden, zeigten nicht mehr die krankhaften Veränderungen in Struktur und Funktion, wenn sie anschließend Beta-Amyloid behandelt wurden. Als hätte der Protein-Müll Angst vor dem Irisin, besetzte er nie dieselben Dendriten, an denen sich zuvor viel Irisin anlagerte (Dendriten sind so etwas wie die Antennen der Nervenzellen). Irisin, so könnte man sagen, funktioniert wie eine wasserabweisende Regenjacke – nur eben für das Gehirn und gegen Beta-Amyloid.

Wie bereits erwähnt, ist Irisin eigentlich ein Botenstoff unserer beanspruchten Muskeln. Als letztes Experiment ihrer großen Studie prüften die Wissenschaftler deshalb, ob natürliches Irisin, das durch Sport produziert wird, eine Alzheimer Symptomatik mildern könne. Dazu teilten sie Mäuse in eine sportliche und eine unsportliche Gruppe ein. Die Sportgruppe schwamm eine Stunde pro Tag für fünf Tage pro Woche, die unsportliche Gruppe saß vermehrt. Nach fünf Wochen wurde beiden Gruppen eine Beta-Amyloid Infusion verabreicht, um Alzheimer auszulösen. Das Resultat: die Mäuse in der Sportgruppe waren unauffällig in Gedächtnistests, im Gegensatz zu den unsportlichen Mäusen. Die Irisinspiegel unterschieden sich ebenfalls wie erwartet, erhöht in der sportlichen und vermindert in der unsportlichen Kohorte.

Ist Alzheimer jetzt therapierbar?

Die Studienergebnisse wurden im Übrigen mittlerweile wiederholt bestätigt (2). Sie bestechen durch den großen Umfang, in dem Irisin hielt, was die Hypothesen der Forscherinnen und Forscher versprachen. Außerdem deuten sie auf eine echte therapeutische Verwertbarkeit von Irisin hin, vielleicht in Form einer Spritze (die Irisinspiegel im Gehirn der Mäuse erhöhten sich auch durch eine periphere Injektion). Noch ist das aber Zukunftsmusik, denn Tiermodelle sind selbstverständlich etwas anderes als klinische Studien am Menschen. Auch ist es bis jetzt noch ein Rätsel, warum Irisin überhaupt als Gegenspieler von Beta-Amyloid funktioniert. Ohne so ein fundierteres Wissen über die Wirkungsweise wird man aber kein Medikament zulassen. Eine Frage aber sollte sich jeder und jede stellen: niemand möchte an Alzheimer erkranken, und wenn eines Tages das Irisinmedikament gegen Alzheimer käme, wären wir alle vermutlich sofort bereit, Höchstpreise dafür zahlen. Was also hält uns davon ab, bis dahin erst einmal auf natürliches Irisin zu setzen und ein paar Mal die Woche Sport zu machen?

Quellen:

Der Artikel basiert auf einem früheren Text des Autors im Dossier der Deutschen Zeitschrift für Sportmedizin.

(1) Lourenco MV, Frozza RL, de Freitas GB et al. Exercise-linked FNDC5/irisin rescues synaptic plasticity and memory defects in Alzheimer’s models. Nat. Med. 2019; 25: 165-175. doi:10.1038/s41591-018-0275-4

(2) Islam MR, Valaris S, Young, MF et al. Exercise hormone irisin is a critical regulator of cognitive function. Nat. Metab. 2021; 3: 1058–1070. https://doi.org/10.1038/s42255-021-00438-z

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Mein Name ist David Wurzer und ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

7 Kommentare

  1. Zitat: „ Was also hält uns davon ab, bis dahin erst einmal auf natürliches Irisin zu setzen und ein paar Mal die Woche Sport zu machen?“
    Kein Problem für nicht zu alte Menschen. Die könnten meist aktiver sein als sie sind. Doch im höheren Alter sind viele aus mehreren Gründen inaktiv, beispielsweise wegen Arthritis oder Arthrose oder wegen Muskelschwund im Alter, welcher sie gar den Rollator. benutzen lässt.

    Prognose: Wenn Alzheimer irgendwann verhindert werden kann, bleibt immer noch viel zu tun, bis es ebenso viele Gipfelstürmer, Marathonläufer und Radfahrer im hohen Alter gibt wie unter 50-Jährigen.

    • Lieber Herr Holzherr,

      Sport in jungen Jahren ist ein erwiesener Schutzfaktor für diverse Erkrankungen im hohen Alter. Es könnte gut sein, dass das für Alzheimer genauso zutrifft. Zudem kommen Muskelschwund, Arthrose und dergleichen nicht von heute auf morgen. Bewegung hält die Kapillare in Schuss, die die Muskeln mit Blut versorgen, ein Bewegungsmangel führt deshalb zu einem Abbau der Blutversorgung des Muskels. In einem gar nicht so geringen Ausmaß, kann man also tatsächlich für die eigene Altersgesundheit “auf Vorrat trainieren” 🙂

    • Es wird angenommen, dass es dafür einen Transporter gibt, wie bei vielen anderen Stoffen auch (bspw. Glucose).

  2. Lieber David Wurzer!
    Ich als Ihre Kommilitonin von LMU Mynchen- A.D. 1970 &-‘StudienRat’ auf Lebenszeit (!) bin sehr beeindruckt hier in Yanchep-Westaustralien yber Ihren Forschungsbericht- Vielleicht interessiert Sie , was mich nun- in ca. 40 Jahren medizinisch/psycho & Co. Eigenforschung in Sachen Vergleichender Evolutions- Biologie / Ernaerungswissenschaft Observational Study – cum self-experiment fasziniert, und vielleicht auch eine wichtige Ergenzung zur Demenzforschung sein kann:
    Seit ca. 10 Jahren haben mein Partner und ich erlebt, wie viel zu viele Freunde, Verwandte, Bekannte in unserm Umkreis an Demenz erkrankten, praktisch alle mit dem gemeinsamen Nenner , hierzulande “The G O O D ( ?) Lifers” benamst, ( Wein, Whisky & Keese, Cakes & Kekse…ACRYLAMID -Konsumenten en gros …) Die Lebkuchen-Hiobsbotschaft ist immerhin auch schon 20 Jahre alt, aber von der Zucker/Salz& Fette-Industrie ganz perfekt ignoriert worden- das Wort AMYLOID ist wohl kein blosser Zufall… (Zu viel Protein – siehe Prof. Colin Campbells China Study – de-naturiert durch Kochen/Backen/Grillen u. lebenslang Konservierungsmittel , wie’s Zucker, Salz, Fett u. Oel nun mal sind.)
    Durch die Mikro-Biom-Forschung ist (m. E.) eine neue Zukunft da- besonders f. d. Altersforschung-
    Wir haben in dieser Hinsicht gesundheitlich eine unglaubliche Renaissance erlebt:
    Durch sekundaer fermentierte Brassica (a la Prof. Em. Jean Bousquet, Univ. Montpellier) – (in unserm Fall m. Kombucha) haben wir seit ca. 10 Jahren auch keinerlei Grippen, Husten/ Katarrhe, Fieber & Halsentz.mehr geschweige denn Corona& Covid 19 erlebt, trotz vieler enger Kontakte mit unsern alten Jazz & German Club- Kumpeln, die reihenweise und bes.auch an Repeat & Long-Covid-erkrankt – und teilw. abgelebt sind -trotz vierfacher Impfung hierzulande.
    Als passionierte Nutrionista – und mehr und mehr – Veganista plus Rohkost-Fan habe ich nun ein halbes Dutzend der meistgeliebten& gelobten pre&pro-bio Rezepte auf Lager, die unser Leben prima gesund halten : artgerechte Fytterung O.K.!

    In diesem Sinne: Selbst-Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besser-ung 0L EY! Gute Wynsche an SIE, & unsre Gute Alte ALMA MATER !

    Sophie Susanne Strobel

  3. Evolutionär gesehen macht das Sinn denn diese Spezies musste immer in Bewegung bleiben um sich vor den Fressfeinden zu schützen bzw. war auf Nahrungssuche etc…, also die Muskeln wurden dementsprechend permanent beansprucht. Dementsprechend wurden entsprechende Hormone wie Dopamin oder Adrenalin vermehrt ausgeschüttet um in “Stresssituationen” schneller reagieren zu können. So gesehen könnte es einen Zusammenhang zwischen diesen genannten Botenstoffen und Irisin geben, also der geistigen Wachheit (Bewusstsein) und dem Irisinspiegel. Mich würde also interessieren ob es hier einen Zusammenhang zwischen Irisin und den genannten Botenstoffen gibt, ob hier Studien bzw. andere Untersuchungen vorliegen. Oft ist die Ausschüttung von Hormonen im Kontext vom Zusammenspiel verschiedener Botenstoffe zu sehen.

Schreibe einen Kommentar


E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.
-- Auch möglich: Abo ohne Kommentar. +