Face Blindness – Wenn alle Gesichter gleich aussehen
Bestimmt ist dir schon einmal aufgefallen, dass wir Menschen überall und in den merkwürdigsten Mustern und Dingen meinen, Gesichter zu entdecken. Ein paar Striche reichen für einen Smiley, Mondkrater werden auf einmal zu einem großen Gesicht, das am Himmel prangt, und sogar Autos scheinen uns irgendwie anzuschauen. Ich selbst merke durch meine Vorliebe zur Portraitmalerei immer wieder die besondere Anziehung von Gesichtern.
Dass Menschen ein solches Talent haben, Gesichter zu erkennen – selbst da, wo keine sind – ist kein Zufall. Das menschliche Hirn verfügt über einen besonders spezialisierten Bereich, der für die Gesichtserkennung zuständig ist, das „Fusiform-Face-Area“. Doch nicht immer funktioniert dieser Prozess ohne Probleme. Personen, die an einer Prosopagnosie leiden, haben Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen und unterscheiden. Wenn nicht angeboren, kommt die Prosopagnosie häufig nach Verletzungen der beteiligten Hirnareale vor. Wie so oft, hat das Gehirn aber auch hier Wege die Schwierigkeiten zu kompensieren. Je nach Schweregrad kann es sogar sein, dass Personen lange überhaupt nicht merken, dass sie eine Prosopagnosie haben. Viele seien halt einfach „schlecht mit Gesichtern“. In einem kurzen Interview berichtet Quintin von seinen Alltagserfahrungen mit „Face Blindness“.
Wie erkennt unser Hirn Gesichter?
Schauen wir uns erst einmal an, wie unser Hirn überhaupt Gesichter erkennt. Grob betrachtet ist das Erkennen von Gesichtern Prozessen zur Identifizierung von Objekten zuzuordnen – es geht also um grundlegende Fragestellung der kognitiven Neurowissenschaften. Wie nehmen wir unsere Umwelt wahr? Wie ordnen wir zu, was ein Baum, was ein Hund ist? Wie können wir Gegenstände voneinander unterscheiden? Wie genau, diese Prozesse ablaufen, wird durch verschiedene Theorien beschrieben, die alle ihre Stärken und Schwächen haben. Allgemein gehen wir davon aus, dass unser Hirn zunächst die einfachen visuellen Merkmale eines Objekts verarbeitet und eine mentale Repräsentation aus diesen erzeugt. Das Objekt bekommt also gewissermaßen einen neuronalen Platzhalter zur Weiterverarbeitung in unserem Kopf. Hinzu kommen dann noch weitere erlernte Informationen aus unserem Gedächtnis, die uns helfen, das Objekt genau zu identifizieren.
Verschiedene Hirnareale sind an der Objekterkennung beteiligt
Bei der Objekterkennung sind bestimmte Hirnregionen involviert. Der primäre visuelle Kortex an der Hinterseite des Kopfes (Okzipitallappen) verarbeitet die visuellen Informationen, die über den Sehnerv von den Augen kommen, als erstes. Daraufhin werden diese im visuellen Assoziationskortex weiter analysiert, unter anderem auch in den unteren Bereichen des Temporallappens, sprich an der Seite des Kopfes. Hier finden nun auch die Objekterkennung und Lokalisation statt, über den „Wo-Pfad“ und den „Was-Pfad“. Der „Wo-Pfad“ verläuft vom primären visuellen Kortex zum oberen Teil des sekundären bis in den Parietallappen (oberer, hinterer Bereich des Schädels) und ist aktiv, wenn es um die räumliche Bestimmung des Gegenstandes geht. Der „Was-Pfad“ wiederum ist in die Objekterkennung involviert und führt uns in den unteren Bereich des Temporallappens seitlich am Kopf. [7]
Was ist besonders an der Wahrnehmung von Gesichtern?
Das Erkennen von Gesichtern scheint nun allerdings einen besonderen Fall darzustellen. Menschen sind nicht nur besonders gut im Erkennen von Gesichtern, unser Hirn hat sogar einen darauf spezialisierten Bereich ausgebildet – das Fusiform Face Area (FFA). Das FFA befindet sich an der Unterseite des Temporallappens und ist etwa so groß wie eine Blaubeere. Das Areal ist besonders aktiv, wenn wir uns Gesichter anschauen, vor allem in der rechten Hirnhälfte. [6]
Wir wissen also, dass das FFA wichtig ist für die Gesichtserkennung – nicht aber, wieso das so ist. Es gibt zwei gängige Hypothesen, wie genau die Gesichtserkennung funktioniert. Die „Domain-Specificity“-Hypothese geht davon aus, dass sich das FFA auf Gesichter spezialisiert entwickelt hat. Daher reagiert es auf Gesichter, aber nicht auf Objekte. Die „Expertise“-Hypothese hingegen vermutet, dass das FFA einfach gut im Identifizieren von komplexen Objekten ist, die wir häufig sehen. Und Gesichter zählen hier mit Sicherheit hinzu! [2, 4, 8, 10]
Übung verändert die Aktivität des FFA
Für die Expertise-Hypothese spricht unter anderem die Forschung von Isabel Gauthier und Kollegen. Mithilfe der „Greebles“ haben sie untersucht, inwieweit sich das Hirn an neue Stimuli anpasst und spezialisieren kann. Die Greebles sind computergenerierte Formen oder Wesen, die ähnlich wie bei Gesichtern aus den gleichen wiederkehrenden Elementen bestehen. Diese unterscheiden sich allerdings in Größe, Form, Proportion, so wie auch bei Gesichtern ganz unterschiedlichen Augen, Nasen, Münder zu sehen sind, die sich zu Milliarden verschiedener Gesichter zusammenfügen. Ohne vorher solche Greebles ausführlich kennengelernt zu haben, zeigten die Hirnscans der Probandinnen und Probanden keine besondere Aktivierung im FFA.
Nach vier Tagen Training im Erkennen der Greeble wurden erneut Scans vorgenommen. Schon nach dieser kurzen Zeit zeigte sich, dass die Aktivierung des FFA durch die Greeble sich der Aktivierung durch Gesichter annäherte. Ähnliches konnte Gauthier auch bei Auto-Fans und Vogelliebhabern beobachten. Wer sofort erkennt, welches Modell gerade an ihm vorbeigefahren ist, oder unzählige Vogelarten auf einen Blick beim Waldspaziergang auseinanderhalten kann, aktiviert dabei aller Wahrscheinlichkeit nach auch sein FFA, das sonst vor allem auf Gesichter reagiert. Übung und Erfahrung scheinen also auch hier ihren Einfluss auf die Wahrnehmung zu haben. [3, 4, 5]
Gesichtsblindheit spricht für Spezialisierung des FFA
Ein anderes Phänomen, das in der Forschung zur Wahrnehmung von Gesichtern gerne untersucht wurde und wird, spricht jedoch eher für die Domain-Specificity-Hypothese: Prosopagnosie. Prosopagnosie, auch „Face-Blindness“, haben Personen, die Schwierigkeiten haben bei der Gesichtserkennung. Vor allem aus der Forschung mit Personen, die im Laufe ihres Lebens etwa durch einen Schlaganfall eine Prosopagnosie erworben haben, können wir viel über unsere Wahrnehmung von Gesichtern lernen. Ist das FFA betroffen, kann es passieren, dass Personen nach dem Vorfall keine Gesichter mehr erkennen können. Einige Fälle zeigen hier, dass diese Veränderung sich allerdings nicht auf das Unterscheiden anderer Kategorien beziehen muss. Ein Patient, der nach einem Schlaganfall Schäfer wurde, konnte ohne Probleme seine Schafe auseinanderhalten – nicht aber die Gesichter von Menschen. Ein anderer konnte ohne Weiteres Automodelle unterscheiden, wies aber eine deutliche Prosopagnosie auf. Derartige Befunde unterstützen die Hypothese, dass die Gesichtserkennung ein Mechanismus ist, der stark auf Gesichter spezialisiert ist. [6]
Hinzu kommt, dass Gesichter im Gegensatz zu den meisten Objekten holistisch, also im großen Ganzen, wahrgenommen werden. Einzelne Elemente wie Nase oder Augen werden besser erkannt, wenn sie nicht einzeln, sondern mit dem ganzen Gesicht präsentiert werden. Ein derartiger Vorteil durch das Wahrnehmen im Gesamtbild ist bei vielen anderen Objekten nicht festzustellen. [6] Beide Hypothesen zeigen ihr Für und Wider und es bedarf weiterhin intensiver Forschung, um die genauen Abläufe dieser Wahrnehmungsmechanismen zu verstehen. Phänomene wie Prosopagnosie können uns dabei helfen.
Was bedeutet Prosopagnosie?
Personen, die von Prosopagnosie betroffen sind, können keine Gesichter erkennen oder diese nur schwer unterscheiden. Daher wird das Störungsbild auch häufig als „Face Blindness“ bezeichnet. Es wird zumeist geschätzt, dass etwa 2-3 % der Gesamtbevölkerung von Prosopagnosie betroffen sind. Die tatsächlichen Zahlen sind allerdings schwer zu benennen, da sie je nach Diagnosekriterien variieren und viele Menschen gar nicht merken, dass ihre Probleme, sich Gesichter zu merken, auf diese Störung hindeuten könnten. Denn auf dem Spektrum des Störungsbildes haben nicht alle Betroffenen starke Auswirkungen auf ihren Alltag zu berichten. Viele erleben große Schwierigkeiten in sozialen Situationen. [1]
Ursachen und Formen
Allgemein können drei Arten der Prosopagnosie unterschieden werden: die angeborene, die entwicklungsbedingte und die erworbene. Bei der ersten Form haben die betroffenen Personen von Geburt an Schwierigkeiten beim Erkennen von Gesichtern. Oftmals fällt dies allerdings erst spät richtig auf oder wird nicht auf eine Wahrnehmungsstörung wie „Face-Blindness“ zurückgeführt, da Betroffene meist Wege finden Probleme zu kompensieren und auf andere Strategien ausweichen. Dazu später mehr. Bei dieser Form gibt es in der Regel keine offensichtliche neurologische Ursache, wie etwa einen Schlaganfall. Sie kann verschieden stark ausgeprägt sein und kommt häufig mehrmals innerhalb von Familien vor. Die Prosopagnosie könnte daher auch erblich bedingt sein.
Die entwicklungsbedingte Prosopagnosie ähnelt der angeborenen, taucht allerdings konkret im Zusammenhang mit anderen Entwicklungsstörungen auf. Dazu gehören unter anderem Ausprägungen auf dem Autismus-Spektrum. Auch hier treten schon in der Kindheit Anzeichen auf, welche sich jedoch häufig erst im Laufe des Lebens verstärken und erkannt werden. Auch hier ist keine sichtbare Hirnschädigung ursächlich.
Außerdem kann die Gesichtsblindheit erworben sein, sprich erst im Laufe des Lebens auftreten. Das Wahrnehmen von Gesichtern war für Betroffene zuvor kein Problem. Durch bestimmte Hirnschädigungen, von denen auch das FFA betroffen ist, kommt es allerdings zu den Schwierigkeiten. Ein Verlust dieser Wahrnehmungsfähigkeit kann beispielsweise nach Schlaganfällen, Schädel-Hirn-Traumata, Hirnoperationen oder neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer eintreten. Das Besondere an der erworbenen Prosopagnosie ist, dass Betroffene andere Objekte weiterhin problemlos identifizieren können. Die Schwierigkeiten beziehen sich speziell auf Gesichter, wobei der Schweregrad der Problematik auch hier variieren kann. Je nach Ursache sind dennoch zusätzliche Diagnosen denkbar. [9]
Wie erleben Betroffene selbst ihre Wahrnehmung im Alltag?
Um einen besseren Eindruck davon zu bekommen, wie sich der Alltag für Personen mit Prosopagnosie unterscheiden kann, habe ich ein kurzes Interview mit Quintin geführt, das ich lieberweise hier teilen darf. Quintin ist 25 Jahre alt und vermutet schon lange, auch von Face-Blindness betroffen zu sein. Er berichtet von seinen Erfahrung, angefangen in der frühen Kindheit bis hin zu seinem Alltag heute.
Antonia – Wie ist dir aufgefallen, dass deine Wahrnehmung sich von der Wahrnehmung anderer unterscheidet?
Quintin – Den ersten bewussten Gedanken zum Thema, da erinnere ich mich, den hatte ich als Kind. Wir waren mit der Familie im Phantasialand – an einem Ort, wo viele Menschen waren. Meine Eltern haben immer gesagt „Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns an einem deutlichen Punkt, etwa dem Eingang. Etwas, was man wiederfindet. Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns hier“. Irgendwann war das so, dass ich meine Eltern verloren hatte. Dann bin ich zu dem Punkt gegangen und musste nur noch Mama und Papa wiedererkennen, insbesondere Mama. Und dann dachte ich „Wie sieht denn eigentlich meine Mama aus?“
Ich war damals nicht alt, unter 10 Jahren. Da habe ich festgestellt, dass ich nicht sagen konnte, wie meine Mama aussieht. Ich habe versucht mir ein Bild von meiner Mutter zu machen, im Geiste. Und das konnte ich nicht. Da habe ich richtig Panik bekommen, weil ich anscheinend ja vergessen hatte, wie meine Mutter aussieht. Ich dachte, ich werde sie nie wiederfinden, ich weiß ja nicht, wie sie aussieht. Wenn mich jemand gefragt hätte, wie meine Mutter aussieht, um mir zu helfen, sie zu finden – ich hätte es nicht sagen können.
Ich wurde dann gefunden von meinen Eltern. Sie haben mich erkannt. Ich habe es dann meiner Mutter erzählt und sie hat mir gesagt, sie würde mich immer erkennen. Und das war das erste Mal, dass ich festgestellt habe „ok irgendwie ist das schwierig“. Ich hatte es in meinem Leben immer wieder, dass mich Menschen, die ich in meinem Kopf zum ersten Mal sehe, mit Namen begrüßen und ich denke mir „Oh, woher kennen wir uns?“. Dann muss ich feststellen, dass ich die Person schon einmal kennengelernt habe. Später habe ich außerdem festgestellt, dass ich nicht in der Lage bin, mir Gesichter vor meinem geistigen Auge vorzustellen. Ich kann kein Gesicht heraufbeschwören.
A – Du meinst so, wie man das mit anderen Dingen, Gegenständen kann?
Q – Genau, also ich kann an einen Teller denken und dann kriege ich ein Bild von einem Teller hin – das geht. Aber bei einem Gesicht funktioniert das nicht.
A – Ist das auch so für spezifische Gegenstände? Vielleicht hast du ein bestimmtes Geschirr, das du gerne magst. Könntest du dir da den spezifischen Teller etwa genau vorstellen?
Q – Den könnte ich wahrscheinlich wirklich perfekt wiedergeben, was da für Farben sind, wie der bemalt ist. Oder auch mit Räumen und so weiter. Das ist nicht das Problem. Aber bei einem Gesicht hört es auf. Ich habe eine beste Freundin, die in meinem Kopf seit immer schon mit blonden Haaren abgespeichert ist. Wenn ich an sie denke, dann ist das Gesicht so ein weißer Fleck, aber drumherum sind blonde Haare. Irgendwann habe ich sie gefragt, seit wann hast du eigentlich keine blonden Haare mehr?
Und dann sagt sie, ich hatte noch nie blonde Haare. Sie hat immer schon braune Haare gehabt, seitdem ich sie kenne! Irgendwas hat bei mir aber klick gemacht und deswegen hat sie in meinem Kopf blonde Haare. Und das ist seitdem so. Ich weiß es mittlerweile, der Initialgedanke bleibt aber „blonde Haare“, gefolgt von „Ach nee, sind ja braune Haare!“. Das ist aber ein bewusster Gedanke, unbewusst ist sie immer noch als blond abgespeichert.
A – Das heißt, da merkst du auch im Alltag Schwierigkeiten, sogar bei Leuten, die du sehr gut kennst. Wie ist das, wenn du denen auf der Straße begegnen würdest?
Q – Ich glaube mittlerweile, würde ich schon im Normalfall die Leute, die ich gut kenne, wiedererkennen. Nur weil ich nicht rezitieren kann, was für Gesichtszüge ein Mensch hat, heißt ja nicht, dass ich sie nicht erkennen würde. Ich glaube da arbeitet auch viel das Unterbewusstsein mit, ich erkenne dann die Person schon. Schwieriger wird es, wenn man nicht so eng ist. Das hatte ich letztens, wenn ich an einer Person vorbeilaufe und überlege, ist sie es jetzt, ist sie es nicht? Hinterher waren wir es dann. Wir hatten dann kurz gequatscht. Das ist dann so ein Abtasten, ich glaube, das kennen ja erstmal viele. Vielleicht auch wenn man sich länger nicht gesehen hat. Das ist sowas, da funktioniert es im Alltag meistens und funktioniert dann irgendwie unterbewusst.
A – Wo merkst du es im Alltag dann zum Beispiel deutlich?
Q – Ich denke mir häufiger, wenn ich Zeuge eines Verbrechens wäre – das wäre eine Katastrophe! Ich könnte dir nicht sagen, so sieht dieser Mensch aus. Ich hatte das mal, da wurde ich angegriffen auf offener Straße und habe hinterher überlegt, wie sieht dieser Mensch aus, der mich angegriffen hat. Ich habe ihn ja gesehen, er stand vor mir. Ich habe es nicht hinbekommen. Ich habe es nicht hinbekommen, das irgendwie zu formulieren. Ebenso die Frage, würde ich den wiedererkennen? Vielleicht, vielleicht nicht? Aber ich würde auf jeden Fall nicht sagen, das gleicht sich ab, mit den und den Merkmalen, die ich im Kopf habe, die ich abgleichen kann.
Ganz häufig habe ich es auch im Alltag, dass Leute sagen „Hi, was geht ab?“. Und ich denke mir, wir sind fremde Menschen, warum begrüßt du mich, als kennen wir uns. Aber das kannst du ja nicht sagen! Das ist ja auch peinlich, den ganzen Tag zu fragen „Sorry, wer bist du nochmal?“. Das heißt, ich habe dann immer so einen Tanz, den ich da aufführe, wo ich versuche mich heranzutasten daran, wer dieser Mensch ist, woher ich den kenne. Ich suche dann irgendwelche Verbindungen, über Freunde, übers Volleyball. Aber manchmal stehe ich wirklich da und habe danach keine Ahnung, wer das ist. Da führe ich fünf Minuten ein nettes Gespräch, offensichtlich kennen wir uns ja. Aber hinterher habe ich keine Ahnung, wer das war! Das ist schon stressig. Ich bringe es nichts übers Herz dann zu sagen „Sorry, ich kenne dich nicht, wer bist du?“
A – Verstehe! Die Situation möchte man sicherlich auch nicht dauerhaft im Alltag kreieren.
Q – Ja, das passiert mir schon häufig – irgendwie weiß ich nicht so genau, wer du bist, aber anscheinend kennen wir uns, also spiele ich mal mit.
A – Wie ist das für dich? Nervt dich das, belastet es dich, hast du dich damit arrangiert?
Q – Ich finde es lustig, ein bisschen. Gleichzeitig ärgert es mich, weil ich es den Menschen gegenüber etwas respektlos finde. Ich meine da ist jemand, den habe ich in meinem Leben mal getroffen und der hat sich mich offensichtlich gemerkt – als Mensch, als Name, als Gesicht – und fand mich zumindest so nett, dass er mich zu einem anderen Zeitpunkt nochmal angesprochen hat. Es ist kein böser Wille, aber für mich ist es ja so, dass dieser Mensch bis zu dem Zeitpunkt, wo er mich nochmal anspricht, nicht existiert. Ich habe den sofort wieder vergessen.
Das hängt vielleicht ein stückweit damit zusammen, dass es mir schwer fällt Gesichter einzuordnen. Aber sicherlich auch daran, dass ich mich vielleicht gar nicht so darauf (die Interaktion) eingelassen habe, als man sich das erst mal getroffen hat. Die Person dann anzulügen, ist dann auch nicht sonderlich cool. Das ist es ja im Endeffekt, vorzugaukeln man kennt die Person, obwohl ich gerade gar nicht weiß, wer die ist. Das ist schon etwas respektlos, meiner Meinung nach. Das ist etwas, das mich ärgert. So würde ich ja nicht behandelt werden wollen und gleichzeitig behandle ich ganz viele Leute so. Das ist etwas, das finde ich nicht so schön.
A – Ich erinnere mich an eine spannende Anekdote, die du mal erzählt hast. Es geht um Filme und Serien. Das hat mir sehr geholfen, diese Unterschiede in der Wahrnehmung besser zu verstehen.
Q – Ja, das ist bei Filmen und Serien schwierig. Es gibt Filme, wo Charaktere immer in einem klaren Setting sind oder sehr deutliche, prägnante Züge haben.
A – Superheldenfilme oder sowas?
Q – Ich würde es vermutlich hinbekommen Superman als Superman oder auch als Clark Kent zu erkennen, das kriege ich aus dem Kontext hin, dass es derselbe ist. Aber – und das ist das Problem – wenn ein Film nicht auf eine Person fokussiert ist und nicht jede zweite Einstellung dieser Mensch ist, sondern das etwas rotiert, verschiedene Handlungsstränge miteinander interagieren, dann wird es schwierig. Zumal häufig auch Figuren ihr Outfit wechseln.
Ich habe das häufig bei so Spionagefilmen, wenn eine Person sich optisch verändert und dann irgendetwas ausspioniert. Ich verstehe das häufig nicht, weil mir die Info fehlt, dass wir diesen Menschen eben schon gesehen haben. Oder Plot Twists, dass eine Person plötzlich der Böse ist. Jemand bringt plötzlich jemanden um, obwohl er eben noch gut war. Für mich ist die Person dann halt jemand ganz anderes. Der Twist funktioniert für mich nicht. Wenn Schauspielerinnen und Schauspieler einander ähnlichsehen, dann wird es für mich noch schwieriger.
Gleichzeitig ist es auch manchmal schön. Ich hatte auch mal die Situation bei einer Serie, dass ich den Twist quasi vorhersehen konnte, weil man den Killer an einer Stelle von hinten sehen konnte und wie er gelaufen ist. Zehn Minuten später sieht man den Killer, aber eben noch nicht in der Rolle des Killers, sondern als normale Figur. Und ich habe an der Art wie er gelaufen ist, wieder bei einem Bild von hinten, erkannt, das ist derselbe Schauspieler, derselbe Mensch wie eben. Damit muss es also dieselbe Figur sein. Das heißt ich wusste, das ist der Killer, lange bevor es durch die Serie klar war. Das ist dann ganz lustig, da freue ich mich dann auch drüber. Ich glaube es überwiegt aber dann doch häufiger, dass ich Figuren vergesse, nicht einordnen kann und ratlos bin welche Wendung die Handlung nimmt, weil ich es nicht in Einklang bringen kann.
A – Das leitet perfekt zu unserer nächsten Frage über, nämlich wie du damit in Alltagssituationen umgehst. Hast du irgendwelche Strategien?
Q – Ich würde sagen, vieles ist unbewusst. Ich habe gar keine so bewusste Strategie. Das ist ja eine Thematik, das ist ein bisschen wie aufzuwachsen und man hat vielleicht nur ein Bein, dann ist das ja der Normalfall. Ich glaube, wenn ich jetzt ein Bein verliere, dann hätte ich da ein größeres Thema mit, als wenn ich damit aufwachse. Für mich ist das ja einfach die Normalität. Ich habe immer so funktioniert oder so gelebt. Und deswegen habe ich gar keine bewussten Strategien entwickelt, weil mir das ja irgendwie gar nicht als „Einschränkung“ bewusst war. Ich glaube unterbewusst hat sich viel getan.
Zum einen bin ich gut darin, oder vielleicht besser darin, auf Körpersprache zu achten oder auf Details wie Gangart, Körperhaltung und so weiter zu achten und so Leute zu erkennen. Das passiert mir tatsächlich häufiger – auch im echten Leben – dass ich Leute von hinten erkenne. Bei einem Volleyballspiel habe ich mal jemanden an der Art und Weise, wie dieser Mensch sich bewegt hat, erkannt. Ich glaube das ist unterbewusst etwas, was ich dann besser kann, was ich besser können muss, wo mein Gehirn sich quasi adaptiert hat. Im normalen Leben, im Bewussten, versuche ich, wenn mich Leute ansprechen, einfach mitzuspielen. Das ist oft der Umgang damit. Dann versuche ich herauszufinden, wie wir zueinanderstehen. Ich versuche die Situation zu umgehen, dass ich sagen muss „Sorry, ich kenne dich nicht“, weil das doch sehr unangenehm ist.
A – Das hast du schön gesagt, dass das deine Normalität ist. Ich habe oft das Gefühl, das vielen oft nicht richtig bewusst ist, dass Normalität etwas sehr Relatives ist.
Q – Ja, einfach sehr subjektiv. Wie bei allen Themen, die auch Neurodivergenz angehen, oder auch psychische Störungen. Das ist ja auch, ohne zu sehr abschweifen zu wollen, bei ADHS so. Mein Kopf funktioniert so, wie er funktioniert hat. So hat der immer schon funktioniert. Und das ist für mich mein „normal“. Mittlerweile weiß ich, dass nicht alle anderen Menschen auch so ticken, sondern eher anders funktionieren. Aber das ist für mich ja gegeben, schon immer. Bei der Thematik mit den Gesichtern genauso. Ich fände es interessant mal einen Tag im Kopf von jemand anderem zu sein, um zu sehen, wie ist das im Kontrast.
A – Um zu sehen, wie anders die Welt plötzlich aussieht.
Q – Genau, wie anders sehen Menschen dann vielleicht auch andere Menschen. Das würde es vielleicht aber auch schwerer machen zurückzugehen zu dem eigentlichen. Ich habe so nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Es führt häufiger mal zu unangenehmen oder lustigen Situationen, je nachdem. Aber das gehört halt dazu zu meinem Leben, wie es immer schon dazu gehört hat.
Quellen
[1] DeGutis, J., Bahierathan, K., Barahona, K., Lee, E., Evans, T. C., Shin, H. M., Mishra, M., Likitlersuang, J. & Wilmer, J. B. (2023). What is the prevalence of developmental prosopagnosia? An empirical assessment of different diagnostic cutoffs. Cortex, 161, 51–64. https://doi.org/10.1016/j.cortex.2022.12.014
[2] Diamond R, Carey S. Why faces are and are not special: An effect of expertise. J Exp Psychol Gen. 1986;115(2):107–117
[3] Gauthier, I., Skudlarski, P., Gore, J. C., & Anderson, A. W. (2000). Expertise for cars and birds recruits brain areas involved in face recognition. Nature Neuroscience, 3, 191–197.
[4] Gauthier, I. & Tarr, M. J. (1997). Becoming a “Greeble” Expert: Exploring Mechanisms for Face Recognition. Vision Research, 37(12), 1673–1682. https://doi.org/10.1016/s0042-6989(96)00286-6
[5] Gauthier, I., Tarr, M. J., Anderson, A. W., Skudlarski, P., & Gore, J. C. (1999). Activation of the middle fusiform “face area” increases with expertise in recognizing novel objects. Nature Neuroscience, 2, 568–573.
[6] Kanwisher, N. Domain specificity in face perception. Nat Neurosci 3, 759–763 (2000). https://doi.org/10.1038/77664
[7] Mishkin, M., Ungerleider, L. G. & Macko, K. A. (1983). Object vision and spatial vision: two cortical pathways. Trends in Neurosciences, 6, 414–417. https://doi.org/10.1016/0166-2236(83)90190-x
[8] Nachson I. (1995). On the modularity of face recognition: the riddle of domain specificity. Journal of clinical and experimental neuropsychology, 17(2), 256–275. https://doi.org/10.1080/01688639508405122
[9] Robotham, R. J. & Starrfelt, R. (2018). Tests of whole upright face processing in prosopagnosia: A literature review. Neuropsychologia, 121, 106–121. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2018.10.018
[10] Ventura, P. & Cruz, F. (2023). Domain Specificity vs. Domain Generality: The Case of Faces and Words. Vision, 8(1), 1. https://doi.org/10.3390/vision8010001
Bildquelle: Beitragsbild
Ich kann mir sehr gut Stimmen merken und Zusammenhänge, aber Gesichter nicht. Deshalb ist meine Strategie, wenn mich jemand, der mir unbekannt erscheint, anspricht, diese Person zum Reden zu bringen. Dann fällt mir irgendein Zusammenhang, eine Situation ein und ich kann dann zuordnen, wer das ist.
Ergänzend zum Erkennen
Bei Schülern die die Schriftsprache erlernen weiß man, dass dies auf verschiedene Weise geschieht.
Etwa 70 % sind optische Typen, die sich das Wortbild einprägen.
Erwa 15 % sind die akustischen Typen, die sich das Wort laut vorlesen um es zu erkennen.
Etwa 5 % sind die haptischen Typen, die sich einprägen wie das Wort geschrieben wurde. Sie schreiben also das Wort nochmal und erkennen dann die richtige Rechtschreibung.
Unbenannt bleiben jetzt die vielen Mischtypen, die zwei oder sogar drei Methoden verwenden um Worte richtig zu lesen und zu schreiben.
Wenn also jemand sich die Gesichter nur schlecht merken kann, dann ist das vollkommen normal, dafür kann sich die Personen an die Stimme erinnern und das sogar nach Jahrzehnten.
Hunde erkennen Menschen hauptsächlich am Geruch. Machen Sie den Test. Wenn man im Halbdunkel seinem eigenen Hund gegen den Wind entgegen läuft , so dass er sie nicht riechen kann, und stehen bleibt erkennt sie der eigene Hund nicht immer.
Natürlich soll nicht vergessen werden, dass Personen immer noch besser oder schlechter im Merken von Gesichtern sein können – auch ohne Prosopagnosie zu haben! Wie immer handelt es sich auch bei diesem Wahrnehmungsaspekt um ein Spektrum und keine starren Kategorien. Selbst mit der Diagnose Prosopagnosie kann es sich somit um eine solch leichte Form handeln, dass die Gesichtsblindheit als solche nicht bemerkt wird.
Im Fazit können wir also festhalten, dass Wahrnehmung eine höchst individuelle Angelegenheit ist und für viele Menschen ganz verschieden funktionieren kann.
Antonia Ceric,
“dass Personen immer noch besser oder schlechter im Merken von Gesichtern sein können”
Jetzt wird es spannend, wenn es um Zeugenaussagen geht. Die Unterscheidung von Gesichtern ist noch einmal zu trennen vom Wiedererkennen.
Viele haben Schwierigkeiten beim Unterscheiden von eineigigen Zwillingen. Andere können das sofort ohne Fehler.
Meine Erfahrung, die optische Betrachtung ist gekoppelt mit einer psychologischen Wahrnehmung. Wenn jemand ein ausdrucksloses Gesicht hat, dann nimmt man diese Person gefühlsmäßig nicht wahr. Und man erinnert sich auch schlecht an diese Person.
Lächelt jemand uns an, dann gibt es eine gefühlsmäßige Brücke und man erinnert sich auch an diese Person.
Prosopagnosie ist also auch psychologisch zu deuten.