Die Stadtverwaltung des Gehirns: Die Gliazellen

Lange Zeit wurde den Gliazellen des Gehirns eine reine Strukturfunktion zugeschrieben: Sie sollen die wichtigen Nervenzellen lediglich umgeben und ihnen als physikalische Stütze dienen. Mittlerweile ist wissenschaftlicher Konsens, dass diese Zellen ein breites Spektrum an Funktionen erfüllen und die Funktion des Gehirns maßgeblich beeinflussen. So spielen Oligodendrozyten beispielsweise bei der Multiplen Sklerose eine Rolle, während Mikroglia eine wichtige Funktion bei Alzheimer haben.
Zellen des Gehirns
Das menschliche Gehirn besteht aus vielen verschiedenen Zellen, die sich in Neuronen (Nervenzellen) und nicht-neuronale Zellen unterteilen lassen. Während die Nervenzellen für die Kommunikation und Signalübertragung im Gehirn zuständig sind, dienen die nicht-neuronalen Zellen der Unterstützung. Dazu gehören Gliazellen wie Astrozyten, Oligodendrozyten und Mikroglia. All diese Zellen interagieren miteinander wie verschiedene Einheiten einer Stadt.
Fun Fact: Das Gehirn besitzt mehr Gliazellen als Nervenzellen!

Die Mikroglia kann man sich wie die Gärtner unserer Stadt vorstellen. Sie beseitigen “Unkraut” und “Müll” wie Zelltrümmer von abgestorbenen Zellen, kümmern sich um beschädigte und kranke Strukturen und können durch Verletzungen oder Entzündungen aktiviert werden [1]. Sie können auch nicht mehr benötigte Synapsen (Verbindungen zwischen Nervenzellen) entfernen (synaptisches Pruning) und so die Energieeffizienz des Gehirns erhöhren. Außerdem fungieren sie als Immunsystem des Gehirns [2].
Astrozyten sind die Versorgungsarbeiter der Stadt: Sie sorgen für Energie, Ionenhaushalt und Nährstoffe. Astrozyten sind Schlüsselelemente für die neuronale metabolische und strukturelle Unterstützung im Gehirn. Sie kontrollieren die Ionenkonzentration, modulieren die Neurotransmitterfreisetzung, halten die Blut-Hirn-Schranke aufrecht und regulieren den Blutfluss im Nervensystem [3]. Außerdem spielen sie auch eine entscheidende Rolle bei der neurologischen Entwicklung, einschließlich der Neurogenese (Bildung neuer Neuronen), der neuronalen Migration und der synaptischen Plastizität [4]. Astrozyten, ähnlich wie Mikroglia, können in einen reaktiven Zustand übergehen. Dabei verändern sich ihre Funktion, ihr Metabolismus und ihre Morphologie als Reaktion auf Entzündungen oder Verletzungen. Dieser Übergang ist fließend und kann, je nach Kontext, reversibel sein [5,6].
Als Elektriker dienen die Oligodendrozyten. Genau wie Leitungen, werden auch Nervenzellen elektrisch isoliert, dies dient hier der schnellen und reibungslosen Kommunikation. Im Gehirn wird diese Isolierung durch Oligodendrozyten übernommen [7].
Mikroglia und Alzheimer
Die Alzheimer-Krankheit ist durch eine Atrophie (Gewebeschwund) des Gehirns und die Ablagerung von zwei Proteinen gekennzeichnet: Amyloid-beta und Tau. Diese lagern sich in Amyloid-Plaques außerhalb der Nervenzellen und in Tau-Fibrillen innerhalb der Nervenzellen ab. Diese Ablagerungen beeinträchtigen die normale Funktion der Nervenzellen, was zu ihrem Absterben und damit zum fortschreitenden Gewebeschwund im Gehirn führt. Das typischste Symptom der Alzheimer-Krankheit ist die Demenz [8].
In der Nähe der Amyloid-Plaques kommt es zur Vermehrung und Aktivierung von Mikrogliazellen, die das Fortschreiten der Erkrankung zunächst verzögern, indem sie die beta-Amyloid-Proteine abbauen. Diese Fähigkeit verlieren die Mikroglia jedoch mit fortschreitender Erkrankung [9]. Außerdem können überaktivierte Mikroglia toxische Substanzen freisetzen, die direkt oder indirekt auch gesunde Nervenzellen schädigen und so zum Fortschreiten der Erkrankung beitragen [10]. Unsere Gärtner können anfangs also das Unkraut im Beet gut beseitigen, werden aber, je mehr Unkraut sich anhäuft, immer aggressiver in der Beseitigung und können damit auch den gewollten Pflanzen schaden.
Eine weitere Studie hat gezeigt, dass die Tau-Fibrillen, die sich bei der Alzheimer-Krankheit in den Nervenzellen ansammeln, die Bildung von Verbindungen zwischen Mikroglia und Nervenzelle auslösen. Mit deren Hilfe können die Mikroglia die betroffenen Nervenzellen von den toxischen Proteinaggregaten befreien können [11].
Oligodendrozyten und Multiple Sklerose
Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (Gehirn und Rückenmark). Dabei greift das Immunsystem fälschlicherweise die schützende Myelinschicht der Nervenzellen an und zerstört sie. Im zentralen Nervensystem sind Oligodendrozyten für die Bildung des Myelins verantwortlich.
Myelin kann man sich wie die Isolierung eines Stromkabels vorstellen: Es umhüllt die Nervenzellen und sorgt dafür, dass elektrische Signale schnell und effizient weitergeleitet werden. Ohne diese Schutzschicht wird die Signalübertragung verlangsamt oder unterbrochen, was zu den vielfältigen neurologischen Symptomen der MS führt.
Anfangs versuchen die Oligodendrozyten, das geschädigte Myelin zu erneuern. Im weiteren Verlauf der Erkrankung gelingt ihnen diese Reparatur jedoch immer weniger, so dass die Nervenzellen zunehmend ungeschützt bleiben und geschädigt werden können [12].
Hier könnt ihr einen unserer vielen Beiträge zur Multiplen Sklerose lesen.
Astrozyten und Autismus
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) umfasst eine spezifische Kombination von Symptomen, darunter Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation, repetitive Verhaltensweisen, stark eingeschränkte Interessen, Gedächtnis- und Lernschwierigkeiten sowie sensorische Symptome, die bereits in den ersten Lebensjahren auftreten.
In einer Studie wurde gezeigt, dass Astrozyten von Autismus-Patienten bei Mäusen zu repetitivem Verhalten sowie zu Beeinträchtigungen des Gedächtnisses und der Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis führen [13]. Dazu wurden Zellen von Autismus-Patienten zu so genannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) umprogrammiert. Dabei werden beispielsweise aus Hautzellen Stammzellen generiert, die genetisch mit dem Patienten übereinstimmen. Diese iPSCs wurden zu Astrozyten differenziert und dann in einen Tag alte Mäuse injiziert. Diese Mäuse wurden dann verschiedenen Testreihen unterzogen. Zum Beispiel wurde das Gedächtnis durch Angstkonditionierung getestet. Dabei werden die Mäuse darauf trainiert, einen neutralen konditionierten Reiz (einen hörbaren Ton) mit einem aversiven Reiz (einem leichten elektrischen Schock am Fuß) zu assoziieren und eine konditionierte Reaktion (Erstarrungsverhalten) zu zeigen. Das Erstarrungsverhalten dient als Indikator für die Fähigkeit der Maus, die Aufgabe zu erlernen und sich später an die Angst zu erinnern.
Neben dem repetitiven Verhalten und den Gedächtnisstörungen wurde bei den Mäusen auch eine reduzierte neuronale Netzwerkaktivität beobachtet [13].
Hier könnt ihr mehr zu Autismus lesen und hier findet ihr heraus, was Proteine mit damit zu tun haben.
Kooperation und Konflikt zwischen den Zellen
Bei keiner der oben genannten Krankheiten ist nur ein einzelner Zelltyp oder Mechanismus allein für deren Eindämmung oder Fortschreiten verantwortlich. Vielmehr arbeiten nicht-neuronale Zellen in enger Interaktion miteinander und mit Nervenzellen, um das Gehirn zu schützen und zu unterstützen. Allerdings kann ihre Reaktion auf Krankheiten auch schädliche Folgen haben. So können beispielsweise aktivierte Mikroglia entzündliche und toxische Faktoren freisetzen, die gesunde Nervenzellen schädigen.
Quellen
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- Colonna M, Butovsky O. Microglia Function in the Central Nervous System During Health and Neurodegeneration. Annu Rev Immunol. 2017 Apr 26;35:441-468. doi: 10.1146/annurev-immunol-051116-052358. Epub 2017 Feb 9. PMID: 28226226; PMCID: PMC8167938.
- Kwon HS, Koh SH. Neuroinflammation in neurodegenerative disorders: the roles of microglia and astrocytes. Transl Neurodegener. 2020 Nov 26;9(1):42. doi: 10.1186/s40035-020-00221-2. PMID: 33239064; PMCID: PMC7689983.
- Farhy-Tselnicker I, Allen NJ. Astrocytes, neurons, synapses: a tripartite view on cortical circuit development. Neural Dev. 2018 May 1;13(1):7. doi: 10.1186/s13064-018-0104-y. PMID: 29712572; PMCID: PMC5928581.
- Liddelow SA, Barres BA. Reactive Astrocytes: Production, Function, and Therapeutic Potential. Immunity. 2017 Jun 20;46(6):957-967. doi: 10.1016/j.immuni.2017.06.006. PMID: 28636962.
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