Das glymphatische System – Müllabfuhr des Hirns

Mit dem Start in das neue Jahr haben viele von uns gute Vorsätze gefasst. Ein Klassiker: gesünder leben. Das bedeutet oft, mehr auf sich zu achten – sei es durch regelmäßigen Sport, eine ausgewogene Ernährung oder den bewussten Umgang mit Stress. Doch ein Aspekt, den wir häufig übersehen, ist ausreichend Schlaf. Dieser ist nicht nur essenziell für unsere körperliche und mentale Regeneration, sondern erfüllt auch überraschend spezifische Funktionen, die viele gar nicht kennen. Ein besonders spannendes Beispiel dafür ist das glymphatische System – das eigene „Reinigungssystem“ unseres Gehirns.
Das glymphatische System sorgt dafür, dass im Schlaf schädliche Abfallstoffe aus dem Gehirn abtransportiert werden. Das System wird in der Wissenschaft teils kontrovers diskutiert. Bislang nur bei Nagetieren gefunden, konnte kürzlich allerdings ein Forschungsteam aus Portland neue Hinweise dafür entdecken, dass dieses System auch im menschlichen Gehirn vorhanden sein könnte [4]. Aber was genau steckt eigentlich hinter dem glymphatischen System? Und warum könnte es unseren Blick darauf verändern, wie wichtig Schlaf eigentlich ist?
Wie funktioniert das glymphatische System?
Das glymphatische System besteht aus einem Netzwerk sogenannter „perivaskulärer Räume“ – kleinen Kanälen, die entlang der Blutgefäße des Gehirns verlaufen. Diese Kanäle ermöglichen die koordinierte Bewegung von Zerebrospinalflüssigkeit (CSF), einer klaren Flüssigkeit, die Hirn wie auch Rückenmark umgibt, schützt, mit Nährstoffen versorgt und auch Funktionen der Immunabwehr übernimmt. Die CSF wird in speziellen Hohlräumen unseres Hirns, den Ventrikeln, produziert und fließt normalerweise im Subarachnoidalraum, welcher sich zwischen der mittleren und der inneren Hirnhaut befindet, die das gesamte Hirn umgeben. Sie bilden ein Polster und schützen unser Gehirn vor Erschütterungen [4].
Wenn das glymphatische System aktiv ist, fließt die CSF außerdem in jenen Kanälen entlang der Blutgefäße des Hirns, wo sie sich mit einer anderen Flüssigkeit vermischen kann – der interstitiellen Flüssigkeit, welche die Hirnzellen umgibt. Diese Durchmischung ermöglicht den Abtransport von löslichen Abfallstoffen und Nebenprodukten aus dem zentralen Nervensystem [4]. Das Gehirn wird gewissermaßen „durchgespült“ und schädliche Substanzen ausgespült. Das glymphatische System als Müllabfuhr unseres Hirns zu bezeichnen, scheint daher nicht zu weit hergeholt.
Der Bewegungsfluss im glymphatischen System scheint durch verschiedene physiologische Mechanismen angetrieben zu werden. Dazu zählen etwa das Herz-Kreislauf-System, die Atmung, Vasomotion – das langsame Pulsieren von Gefäßen – und spezielle zelluläre Strukturen, wie die Aquaporin-Kanäle, die einen gerichteten Wasserfluss begünstigen. Durch eine Kombination dieser physiologischen Faktoren entsteht eine rhythmische Bewegung, die den Flüssigkeitsaustausch im Hirn zulässt. Man könnte sagen, dass das Gehirn durch das glymphatische System wie ein Schwamm vollgesogen und ausgedrückt wird, wodurch Abfallprodukte und Schadstoffe einfach abtransportiert werden können.
Da das Gehirn keinen direkten Zugang zu einem klassischen Lymphsystem hat, das im Rest unseres Körpers verschiedene reinigende Funktionen übernimmt, hat das glymphatische System somit eine zentrale Rolle bei der Reinigung des Gehirns inne. [4]
Schutz vor neurodegenerativen Erkrankungen
Es fragt sich allerdings: Warum ist es überhaupt wichtig, dass gewisse Stoffe aus dem Hirn abtransportiert werden und um was für Stoffe handelt es sich dabei? Im Gehirn fallen ständig Abfallprodukte an, die durch den normalen Stoffwechsel der Nervenzellen entstehen. Zu den bekanntesten gehören unter anderem Beta-Amyloid und Tau-Proteine. Diese fallen als Produkte im normalen Stoffwechsel des Hirns ständig an und werden bei gesunden Personen einfach abgebaut und abtransportiert.
Bei Personen, die zum Beispiel an Alzheimer erkrankt sind, kann die normale Verstoffwechselung allerdings gestört sein. Es bilden sich zum Beispiel Amyloid-Plaques, Verklumpungen bestehend aus den Beta-Amyloiden, die sich im Hirn vor allem zwischen den Nervenzellen ablagern und deren Kommunikation stören können. Die Ablagerungen werden in engem Zusammenhang mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer aber auch Parkinson gesehen. Bei letzterem spielen wiederum andere Ablagerungen eine entscheidende Rolle. Da die abgelagerten Proteine nicht immer genau mit den zu beobachtenden Symptomen übereinstimmen, bleibt dies noch immer ein reges Forschungsfeld [3].
Risikofaktor für Alzheimer & Co
In den Mechanismen, die das Entstehen und Voranschreiten neurodegenerativer Erkrankungen begünstigen, scheint eine Beeinträchtigung des glymphatischen Systems eine bedeutende Rolle zu spielen. Die Abbauprodukte werden schlechter abtransportiert und können sich so mehr und mehr im Gehirn ablagern. Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass eine geringe glymphatische Aktivität einer der größten Risikofaktoren für die Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen ist [2].
Ein weiterer Faktor ist außerdem das Altern. Im Alter erhöht sich zum einen die Wahrscheinlichkeit, eine solche Erkrankung auszubilden. Zum anderen wird allerdings auch das glymphatische System im Alter schlechter. Aus Untersuchungen an Mäusen ging hervor, dass die glymphatische Aktivität im Alter drastisch abnimmt. Ältere Mäuse zeigten eine um bis zu 90% verringerte Leistung des glymphatischen Systems im Vergleich zu Jungtieren [2].

Ablagerungen wie die Amyloid-Plaques scheinen die glymphatische Aktivität wiederum zu mindern [4]. Zwischen neurodegenerativen Krankheiten, dem Altern und dem glymphatischen System stellt sich demnach ein enger und wechselseitiger Zusammenhang dar.
Das glymphatische System und der Schlaf
Das glymphatische System ist besonders während des Tiefschlafs aktiv. In dieser Phase erweitern sich die perivaskulären Räume, wodurch die CSF leichter fließen und Abfallstoffe effizienter abtransportieren kann. Schlafmangel oder schlechte Schlafqualität können diesen Prozess erheblich beeinträchtigen, was langfristig das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöht.
Genug und gut zu schlafen, macht also nicht nur wach, sondern unterstützt wichtige Prozesse in unserem Gehirn, ohne die wir auf Dauer nicht leistungsfähig bleiben können. Das glymphatische System ist fast nur während des Schlafens aktiv und überaus wichtig für den Abtransport von Stoffen, die Risikofaktoren für verschiedene neurodegenerative Erkrankungen darstellen.

Wer nicht ausreichend schläft, ist nicht nur müde, sondern schadet aktiv seinem Hirn. Natürlich hat ausreichend Schlaf nicht nur eine zentrale Rolle bei der Unterstützung des glymphatischen Systems, sondern auch für die Aufrechterhaltung der normalen Hirnfunktion ist er essenziell [4]. Der Schlaf darf also gerne auf die Liste der guten Neujahrsvorsätze aufgenommen werden – nicht zuletzt auch, damit das Reinigungssystem unseres Gehirns richtig arbeiten kann.
Spannende Neuigkeiten aus der Forschung
Es ist noch nicht allzu lange her, dass bei Nagetieren erstmals Anhaltspunkte für das Vorhandenseins des glymphatischen Systems entdeckt wurden [1]. Nun konnten Forscherinnen und Forscher der Universität in Portland Hinweise darauf auch beim Menschen beobachten: Eine neue Studie aus dem Oktober letzten Jahres zeigt, dass dieses System, das eine wichtige Rolle bei der Reinigung des Gehirns von Abfallstoffen spielt, ebenfalls im menschlichen Gehirn existieren könnte. Dies eröffnet faszinierende Perspektiven für die weitere Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen und deren Behandlung [5].
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Quellen
[1] Iliff, J. J., Wang, M., Liao, Y., Plogg, B. A., Peng, W., Gundersen, G. A., Benveniste, H., Vates, G. E., Deane, R., Goldman, S. A., Nagelhus, E. A. & Nedergaard, M. (2012). A Paravascular Pathway Facilitates CSF Flow Through the Brain Parenchyma and the Clearance of Interstitial Solutes, Including Amyloid β. Science Translational Medicine, 4(147). https://doi.org/10.1126/scitranslmed.3003748
[2] Jessen, N. A., Munk, A. S. F., Lundgaard, I. & Nedergaard, M. (2015). The Glymphatic System: A Beginner’s Guide. Neurochemical Research, 40(12), 2583–2599. https://doi.org/10.1007/s11064-015-1581-6
[3] Penke, B., Bogár, F., & Fülöp, L. (2017). β-Amyloid and the Pathomechanisms of Alzheimer’s Disease: A Comprehensive View. Molecules, 22(10), 1692. https://doi.org/10.3390/molecules22101692
[4] Rasmussen, M. K., Mestre, H. & Nedergaard, M. (2021). Fluid transport in the brain. Physiological Reviews, 102(2), 1025–1151. https://doi.org/10.1152/physrev.00031.2020
[5] Yamamoto, E. A., Bagley, J. H., Geltzeiler, M., Sanusi, O. R., Dogan, A., Liu, J. J. & Piantino, J. (2024). The perivascular space is a conduit for cerebrospinal fluid flow in humans: A proof-of-principle report. Proceedings Of The National Academy Of Sciences, 121(42). https://doi.org/10.1073/pnas.2407246121
Beitragsbild: Quelle
Bild mit Gießkanne: Quelle
Symbolbild Alzheimer: Quelle
Es gibt ziemlich sicher mehrere Faktoren, ja ein ganzes Ursachenbündel für neurodegenerative Erkrankungen.
Neurotoxische Stoffwechselprodukte scheinen eine wichtige Rolle zu spielen – vor allem natürlich bei Krankheiten mit falscher Proteinfaltung oder mit anderswie toxischen Proteinen. Ein Abtransportmechanismus für solche schädlichen Hirnmetaboliten könnte also sehr wichtig sein. Das wurde schon lange vermutet, doch ein glymphatisches System als Abtransportmechanismus wurde dennoch erst 2012 entdeckt und seine Funktionsweise und Relevanz ist nach wie vor umstritten.
Trotz dem geringen und umstrittenen Wissen über das glymphatische System liest man in Gesundheitsartikeln bereits vieles darüber. Da wird etwa behauptet, Sport aktiviere das glymphatische System und das sei der Grund, das sportlich aktive Menschen eher später von Alzheimer und anderen neurodegenerativen Krankheiten heimgesucht werden.
Insgesamt überrascht es mich immer wieder wie wenig gesichertes Wissen es über krankheitsmachende Prozesse im Hirn gibt und dass vor allem ein Gesamtbild fehlt, welches etwa im Detail die Entstehung und den Verlauf einer Alzheimererkrankung dem biologischen und chemischen Geschehen im Hirn zuordnen könnte.
Das stimmt! Viele Faktoren scheinen einen Einfluss auf die Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen zu haben. So gibt es etwa auch genetische Veranlagungen, die die Wahrscheinlichkeit für eben jene erhöhen (oder verringern) – doch ebenso gibt es noch zahlreiche Umwelteinflüsse, die wir teils sogar selbst beeinflussen können.
Hierfür ist immer noch viel Forschung notwendig – umso spannender welche Fortschritte derzeit in verschiedenen Bereichen etwa der Alzheimer-Forschung zu beobachten sind (wie auch die pharmakologischen Entwicklungen, wozu wir auch schon einen Artikel hatten).
Sicher scheint aber, dass ein gesunder Lebensstil mit ausgewogener, fleischarmer Ernährung, genug Schlaf und regelmäßige Bewegung einen großen Einfluss auch auf diese Bereiche unserer Gesundheit haben.
Es bleibt gespannt abzuwarten, was die Forschung zu den genauen Mechanismen in den nächsten Jahren noch herausfindet.