Das Gehirn des modernen Menschen besteht zu 0,5% aus Plastik

Ein Forschungsteam vergleicht die Plastikaufnahme verschiedener Organe und entdeckt: ausgerechnet unsere Gehirne speichern am meisten Plastik. Noch unangenehmer könnte jedoch der Befund sein, dass der Anteil dieser Plastikablagerungen in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist. Einen halben Prozent des Gewichts der jüngsten untersuchten Gehirne machten Mikro- und Nanoplastik mittlerweile aus.

Plastik ist längst überall

Erst vor wenigen Jahren wurde die Vermutung laut, dass es auf dem gesamten Globus keinen plastikfreien Ort mehr gebe. Anlass für diese These war damals die Entdeckung von Mikroplastik in der entlegenen Antarktis. Vor wenigen Monaten unternahmen das Alfred-Wegener-Institut und die Universität Basel eine weitere Expedition – mit einer bösen Überraschung.

Die Art der Probennahme der ersten Expedition war ungenau, das genutzte Filtersystem konnte nur Plastikpartikel bis zu einer Größe von 300 Mikrometern erfassen. Kleinere Partikel entgingen also der Messung. Die jüngste Analyse, die bis zu 11 Mikrometer kleine Partikel berücksichtigte, zeigte: über 98% der gesamten antarktischen Plastikmasse war bisher nicht erfasst worden (1). Der gemessene Plastikanteil, mit einem Gewicht über 300 Mikrometer, war also lediglich ein verschwindend geringer Bruchteil des Gesamtaufkommens. Und auch hier gilt, dass Partikel kleiner als 11 Mikrometer in der Analyse untergehen. Damit beschränkte sich die Untersuchung auf Mikroplastik (kleiner als 5mm), denn Nanoplastik ist kleiner als 1 Mikrometer.

Der Mensch ist keine Ausnahme

Vor diesem Hintergrund sollte es nicht verwundern, dass auch im Blutkreislauf des Menschen mittlerweile stets eine Dosis Plastik mit fließt. Für die Versorgung des Gehirns zum Beispiel sind die Halsschlagadern zentral. Verklumpen fettige Plaques die Gefäße – meist wegen schlechter Ernährung – oder brechen Teile davon heraus und verstopfen die kleinen Gefäße im Gehirn, so kann es zum Schlaganfall kommen. Eine italienische Forschungsgruppe konnte diesen März im renommierten New England Journal of Medicine zeigen, dass sich den besagten Plaques häufig Mikroplastik beimischt (2). Bei 257 Patientinnen und Patienten wurden die Halsschlagadern geöffnet, Plaques entnommen und auf ihren Plastikgehalt untersucht. Bei mehr als der Hälfte (58%) aller Patientinnen und Patienten war Mikroplastik Bestandteil der ‚Gefäßverkalkungen‘, bei einigen davon auch Nanoplastik. In den drei Jahren nach der Untersuchung zeigte sich sodann, dass die Patientinnen und Patienten mit Plastik-Plaques häufiger an Schlaganfällen und Herzinfarkten litten und insgesamt ein höheres Sterberisiko hatten.

Das Gehirn hat Plastikhunger

Vor wenigen Tagen erschien schließlich eine US-Studie, welche den Plastikgehalt in verschiedenen Organen untersuchte (3). Die Studie ist noch im Preprint, d.h. sie wurde noch nicht von Kolleginnen und Kollegen begutachtet und in einem Fachjournal veröffentlicht. Das aber dürfte bald folgen, denn die Ergebnisse sind brisant: im Vergleich zu Leber und Niere war im Gehirn ein bis zu 30-fach erhöhter Plastikanteil entdeckt worden. Das Forschungsteam obduzierte dazu 92 Gehirne von Menschen um die 50 Jahre, die zwischen 2016 und 2024 gestorben waren. Besonders beunruhigend: über diesen Zeitraum stieg der Plastikanteil der Gehirne immer weiter an. Menschen, die 2016 gestorben waren, hatten im Schnitt nur halb so viel Plastik im Hirngewebe gespeichert wie Menschen, die dieses Jahr, 2024 verstarben. Für dieses Jahr entsprach der Plastikanteil 4,8mg/g (4800µg/g) oder durchschnittlich 0,5% des gesamten Gehirngewichts. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, knackt die Menschheit bald die 1%-Marke. Doch woher kommt dieser Plastikhunger des Gehirns?

Cholesterinmoleküle im Verdacht

Wie im Falle der Antarktis ist die Wissenschaft bisher nicht sicher, wie genau das Plastik in unser wichtigstes Organ kommt. Eine mögliche Erklärung stammt aus Mausexperimenten. Bei Mäusen schützte die Blut-Hirn-Schranke, wie auch beim Menschen, die Mäusehirne vor Plastik aus dem Blut. Doch wenn das Plastik über die Nahrung aufgenommen wurde, durchbrach es die Blut-Hirn-Schranke. Die These der Forscherinnen und Forscher ist, dass die Cholesterinmoleküle, welche Fette aus dem Magen-Darm-Trakt in die Organe befördern, das Plastik aufnehmen. Insbesondere Nanoplastik schleusen sie dann, wie ein Trojanisches Pferd, in das Gehirn ein. Dieses besteht zu einem großen Teil aus Fett, da die Axone, die Leitungsbahnen zwischen den Nervenzellen, elektrisch isoliert werden müssen. Eine Aufgabe, welche die Natur mit Myelin, einer Fettschicht, gelöst hat.

Und jetzt?

Üblicherweise enden sowohl wissenschaftliche als auch journalistische Texte zu solchen Themen mit einer Entwarnung. ‘Der Schluss, dass so viel Plastik für unsere grauen Zellen nicht gesund sein kann, ist zu voreilig, denn es gibt ja keine experimentellen Studien, die einen kausalen Mechanismus nachweisen könnten.‘ Theoretisch ist das natürlich richtig – ein kausales Verständnis der Effekte von Plastik auf unsere Gesundheit haben wir bislang nicht. Hierfür fehlen eindeutige Experimente, die ethisch nicht vertretbar wären (man müsste hierfür beispielsweise Menschen in zwei Gruppen einteilen und der einen Gruppe Mikroplastik in die Nahrung beimengen).

Dennoch sind Hinweise wie jene aus der Halsschlagaderstudie bedenklich, und die nackten Zahlen und ihr schneller Zuwachs äußerst erstaunlich. Wenn die intuitiven Bedenken, die wohl die meisten Menschen bei diesen Neuigkeiten haben, sich irgendwann bestätigen sollten, dann nur, weil der Schaden bereits angerichtet und deutlich genug ist, um erkannt zu werden. Ein politisches, notwendigerweise internationales Gegensteuern würde ohnehin Jahrzehnte dauern, sodass Umdenken in der Nutzung von Plastik ein Gebot der Gegenwart sein sollte. Politische Verbote, wie das Plastikstrohhalmverbot der EU, wären die schnellstmöglichen Interventionen. Wenn sich hingegen irgendwann alle gesundheitlichen Bedenken in Luft auflösten, wenn sich beispielsweise zeigte, dass Gehirne auch 5% Plastikanteil tolerieren können – dann hätten wir wenigstens immer noch die Natur vor Müllbergen geschützt.

Quellen

(1) Leistenschneider, C., Wu, F., Primpke, S., Gerdts, G., & Burkhardt-Holm, P. (2024). Unveiling high concentrations of small microplastics (11–500 μm) in surface water samples from the southern Weddell Sea off Antarctica. Science of the Total Environment927, 172124.

(2) Marfella, R., Prattichizzo, F., Sardu, C., Fulgenzi, G., Graciotti, L., Spadoni, T., … & Paolisso, G. (2024). Microplastics and nanoplastics in atheromas and cardiovascular events. New England Journal of Medicine390(10), 900-910.

(3) Campen M, Nihart A, Garcia M, Liu R, Olewine M, Castillo E, Bleske B, Scott J, Howard T, Gonzalez-Estrella J, Adolphi N, Gallego D, Hayek EE. Bioaccumulation of Microplastics in Decedent Human Brains Assessed by Pyrolysis Gas Chromatography-Mass Spectrometry. Res Sq [Preprint]. 2024 May 6:rs.3.rs-4345687. doi: 10.21203/rs.3.rs-4345687/v1. PMID: 38765967; PMCID: PMC11100893.

Beitragsbild: Bild von frimufilms auf Freepik

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Mein Name ist David Wurzer. Ich bin Medizinstudent und Philosophiedoktorand an der LMU München, davor habe ich Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften studiert. Besonders interessieren mich die aktuellen Forschungsergebnisse aus der Neurotechnologie, die als Schnittstelle für die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technik fungiert. Dabei werden spannende klinische und ethische Fragen aufgeworfen, die ich zusammen mit der interessierten Öffentlichkeit durchdenken möchte.

5 Kommentare

  1. Nicht vor wenigen, sondern vor EINIGEN Jahren, hatten amerikanische Forscher entdeckt, daß besonders Nanopartikel des Lebensmittelzusatzstoff E 171 (zugelassen als weißes Farbpigment unter anderem in Süßwaren und Überzügen von Medikamenten, aber auch für Haushaltsgegenstände und besonders Autowaschartikel) nicht nur die Blut-Hirnschranke überwinden, sondern überall bis ins Grundwasser hinkommen und so Jahrtausende überdauern – Die Bio-Industrie hat sich darauf schon längst eingestellt, mit Bio-Nanotechnologie.
    👋🥴👍

  2. Positiv: Die Tatsache, dass auch wir Menschen von der Vermüllung betroffen sind, und vielleicht von dieser Seite ein Umdenken bezüglich der ausufernden Kunststofferzeugung stattfinden wird.
    Negativ: Es wird nicht gesagt, welche Plastikart gemeint ist.

  3. Wichtig ist natürlich die Untersuchung der Verbreitungswege der Akumulationsgescheindigkeit, der Grenzwerte für die gefährlichen Mengenanteile und die Vorschläge der möglichen Gegenmaßnahmen. Die angesammelten Mengen in der Umwelt unserer Enkel und in allen Lebewesen werden vorläufig unaufhaltsam steigen.
    Heinrich Revermann

  4. Mich wundert eigentlich nur, wie dünn die Forschungsbasis ist. Hier im Artikel, in diesem Beitrag werden viele Feststellungen gemacht ohne dass auch nur eine spezifische Ursache angegeben wird – mit grösster Wahrscheinlichkeit darum, weil man die Ursachen nicht kennt, weil die Zusammenhänge unbekannt sind.

    Warum etwa sollte im kurzen Zeitraum zwischen 2016 und 2024 der Plastikanteil im Gehirn sich fast verdoppeln? Was ist überhaupt die Quelle? Ist es über die Nahrung aufgenommenes Mikro- und Nanoplastik? Und wenn ja, hat die Menge des Mikro- und Nanoplastik in der Nahrung zugenommen? Und wo kommt das Mikroplastik her? Vom Zerfall grösserer Plastikstücke oder von bewusst in Zahnpasta oder anderen Kosmetika beigemischtem Plastik? Gibt es Tierversuche mit Verabreichung von Mikroplastik und was sind die Auswirkungen von Mikroplastik im Gehirn bei Tieren?

    Fazit: Mir scheint es gibt sehr viel unbeantwortete Frage zu Mikroplastik im menschlichen Gehirn. Dabei ist doch das Plastikproblem bereits Jahrzehnte alt, es ist alles andere als neu. Trotzdem scheint es keine gründlichen Untersuchungen über Ursachen und Auswirkungen zu geben man weiss scheinbar nur gerade, dass es immer mehr Plastik im Gehirn gibt. Etwas mager dieser Befund.

  5. Martin Holzherr
    “Und wo kommt das Mikroplastik her?”
    Mikroplastik ist nichts anderes als Feinstaub.
    Er kommt vom Reifenabrieb, entsteht beim Schleifen von Kunststoffplatten,
    beim Schleifen von lackierten Oberflächen. Jedes Jahr werden Millionen von Schuhen erzeugt mit einer Kunststoffsohle.
    Auch die Abgase der Autos und Flugzeuge enthalten Nanopartikel.

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