Autismus klitzeklein – Was Proteine mit Neurodivergenz zu tun haben

Mit fortschreitender Forschung wird es immer einfacher, Autismus zu diagnostizieren und Betroffene individuell zu fördern. Das stereotype Bild vom “schrägen Nerd” im Stile Sheldon Coopers ist dabei längst überholt. Die Ursachen von Autismus sind komplex und beinhalten eine Mischung aus genetischen Faktoren, Umweltfaktoren und dem Alter der Eltern. Von besonderem Interesse sind Proteine, die bei der Kommunikation zwischen den Nervenzellen eine zentrale Rolle spielen und deren Funktionsweise entscheidend für die Aktivität des Gehirns ist.

Neurodivergenz und Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Neurodivergenz ist kein medizinischer Begriff, wird aber häufig von Betroffenen selbst verwendet, um zu beschreiben, dass sich ihr Gehirn in seiner Entwicklung oder Funktion von dem unterscheidet, was als (neuro-)typisch angesehen wird. Dies kann Menschen mit Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Legasthenie und anderen neurologischen Variationen einschließen (1).

Im aktuellen DSM-5, dem standardisierten Klassifikationssystem für psychische Störungen, wird Autismus nicht mehr in Subtypen wie Asperger-Autismus und frühkindlicher Autismus unterteilt. Es wird unter dem Begriff “Autismus-Spektrum-Störung” zusammengefasst und ist ein Spektrum: Verschiedene Menschen zeigen unterschiedliche Ausprägungen der Symptome (2). Die Merkmale umfassen eine spezifische Kombination von Symptomen in der sozialen Kommunikation, repetitiven Verhaltensweisen, stark eingeschränkten Interessen und sensorischen Symptomen, die bereits in den ersten Lebensjahren auftreten. Etwa 1 % der Weltbevölkerung ist von Autismus betroffen (3). Man kann sich das Autismus-Spektrum wie ein Mischpult vorstellen, bei dem jeder Regler für eine bestimmte Fähigkeit oder Eigenschaft steht. Bei jedem Menschen mit Autismus sind diese Regler unterschiedlich eingestellt: Betroffene können sehr empfindlich auf Reize reagieren – oder sie nehmen diese kaum wahr. Manche haben Schwierigkeiten, Augenkontakt zu halten, andere wiederum suchen ihn exzessiv. Wieder andere haben Probleme mit sozialen Interaktionen, aber keine Schwierigkeiten mit der Sprache.

Der Übergang zwischen neurotypischen und neurodivergenten Merkmalen ist fließend, da auch neurotypische Menschen Symptome der Autismus-Spektrum-Störung zeigen können, jedoch nicht in der gleichen Intensität oder Kombination wie autistische Menschen. So können beispielsweise Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion oder eine Vorliebe für Routinen auch bei neurotypischen Menschen auftreten, ohne dass eine ASS vorliegt.

In einem früheren Beitrag könnt Ihr mehr über die Autismus-Spektrum-Störung lesen.

Die Rolle von Adhäsionsproteinen in einer Synapse

Adhäsionsproteine sind spezielle Moleküle, die eine entscheidende Rolle bei der Verbindung und Funktion von Nervenzellen spielen, insbesondere an den so genannten Synapsen. Eine Synapse ist die Kontaktstelle zwischen zwei Nervenzellen, an der Signale in Form von chemischen oder elektrischen Impulsen übertragen werden. Adhäsionsproteine sorgen dafür, dass diese Verbindungen nicht nur entstehen und stabil bleiben, sondern auch effizient funktionieren. Sie tragen auch zur Flexibilität des Gehirns bei, indem sie an der Bildung neuer Verbindungen oder der Verstärkung bestehender Synapsen beteiligt sind, was als neuronale Plastizität bezeichnet wird. Man kann sie sich wie einen (dynamischen) Klebstoff zwischen zwei Oberflächen vorstellen: Sie halten die beiden Nervenzellen eng aneinander. Damit sind diese Proteine zentral für die präzise Informationsübertragung zwischen Nervenzellen – eine Grundvoraussetzung für die reibungslose Funktion des Gehirns (4).

Die Rolle von Neuroligin (NLGN) und Neurexin (NRXN)

Sowohl Neurexine als auch Neuroligine sind Adhäsionsmoleküle. Neurexine kommen auf der vorgeschalteten (präsynaptischen) Nervenzelle vor, während Neuroligine auf der nachgeschalteten (postsynaptischen) Nervenzelle vorkommen (5).

Abbildung 1: Interaktion von Neurexin und Neuroligin in der Synapse (6).

Diese beiden Moleküle interagieren in der Synapse miteinander, fördern die Haftung zwischen zwei Nervenzellen und wirken als bidirektionaler Auslöser der Synapsenbildung (7). Ein Funktionsverlust könnte daher zu einer Beeinträchtigung der Informationsübertragung führen und darüber hinaus die bereits erwähnte neuronale Plastizität beeinträchtigen.

Was kann man bei Neuroligin-3 defizienten Mäusen beobachten?

Wie sich das Fehlen bestimmter Proteine auf einen Organismus auswirkt, lässt sich zum Beispiel an Knockout-Mäusen beobachten. Knockout-Mäuse sind Mäuse, bei denen bestimmte Gene gezielt ausgeschaltet wurden. Dadurch wird das entsprechende Protein nicht mehr gebildet und ist im Organismus nicht mehr vorhanden. Diese Knockout-Mäuse werden dann in einer Testreihe mit “normalen” Mäusen verglichen.

In einer Studie von Radyushkin et al. (2009) wurde auf diese Weise das Gen für das Protein Neuroligin-3 in Mäusen ausgeschaltet und verschiedene Experimente durchgeführt. Unter anderem wurde bei männlichen Mäusen eine reduzierte Ultraschallvokalisation, also die Kommunikation mittels Ultraschall (8), gemessen, was auf eine Beeinträchtigung der Kommunikation hindeutet. Außerdem wurde in Tests zum sozialen Gedächtnis eine fehlende Präferenz für soziale Neuheiten festgestellt: Im Gegensatz zu normalen Mäusen bevorzugten die Knockout-Mäuse den Kontakt zu bereits bekannten Artgenossen.  Das Fehlen von Neuroligin-3 beeinträchtigte also die soziale Interaktion und die Kommunikationsfähigkeit – zwei zentrale Merkmale von Autismus. Wie bei erwachsenen ASS-Patienten häufig zu beobachten, war zudem das Gesamtvolumen des Gehirns der NL-3-Mutantenmäuse leicht reduziert, wie mittels Magnetresonanztomographie (MRT) festgestellt wurde (9).Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Neuroligin-3 eine wichtige Rolle bei der Entstehung autismusähnlicher Symptome spielen könnte.

Quellen

  1. What is Neurodiversity? (2012, 23. März). National Symposium On Neurodiversity At Syracuse University. https://neurodiversitysymposium.wordpress.com/what-is-neurodiversity/ (Zugriff am 24. Februar 2025)
  2. American Psychiatric Association. (2022). Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen (5. Aufl., Textrev.). https://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425787
  3. Lord C, Brugha TS, Charman T, Cusack J, Dumas G, Frazier T, Jones EJH, Jones RM, Pickles A, State MW, Taylor JL, Veenstra-VanderWeele J. Autism spectrum disorder. Nat Rev Dis Primers. 2020 Jan 16;6(1):5. doi: 10.1038/s41572-019-0138-4. PMID: 31949163; PMCID: PMC8900942.
  4. Dalva, M., McClelland, A. & Kayser, M. Cell adhesion molecules: signalling functions at the synapse. Nat Rev Neurosci 8, 206–220 (2007). https://doi.org/10.1038/nrn2075
  5. Dean, C., Scholl, F., Choih, J. et al. Neurexin mediates the assembly of presynaptic terminals. Nat Neurosci 6, 708–716 (2003). https://doi.org/10.1038/nn1074
  6. Neurexin-Neuroligin interactions at the synapse [Bild]. Wikimedia Commons. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Neurexin-Neuroligin_interactions_at_the_synapse.jpg (Zugriff am 24. Februar 2025).
  7. Camin Dean, Thomas Dresbach, Neuroligins and neurexins: linking cell adhesion, synapse formation and cognitive function, Trends in Neurosciences, Volume 29, Issue 1, 2006, Pages 21-29, ISSN 0166-2236, https://doi.org/10.1016/j.tins.2005.11.003.
  8. Die Sprache der Mäuse. (o. D.). https://www.evolbio.mpg.de/3662658/die-sprache-der-maeuse
  9. Radyushkin K, Hammerschmidt K, Boretius S, Varoqueaux F, El-Kordi A, Ronnenberg A, Winter D, Frahm J, Fischer J, Brose N, Ehrenreich H. Neuroligin-3-deficient mice: model of a monogenic heritable form of autism with an olfactory deficit. Genes Brain Behav. 2009 Jun; 8(4):416-25. doi: 10.1111/j.1601-183X.2009.00487.x. Epub 2009 Feb 11. PMID: 19243448.
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Mein Name ist Ruzica Sedic und ich studiere Neurowissenschaften im Master an der Universität Düsseldorf. Während meiner Ausbildung zur biotechnologischen Assistentin und meinem Bachelor in Biologie habe ich meine Liebe zur Zellbiologie entdeckt. Deshalb finde ich den Zusammenhang zwischen zellulären Prozessen und neurologischen Phänomenen besonders spannend. Außerdem fasziniert mich, wie unser Gehirn im Alltag funktioniert und welche unglaublichen Leistungen es vollbringt - oft ohne dass wir es bewusst wahrnehmen.

3 Kommentare

  1. Bei Wikipedia liest man, dass Neuroligin 3 ein Protein sei.
    Also könnte man es doch der Nahrung beifügen oder , wenn das nicht möglich ist, auf irgendeine Art den krassen Autisten verabreichen.

    Von einem Laien .

  2. Ich bin überrascht, dass ein völliges Fehlen von Neuroligin-3 (Ausschalten des entsprechenden Gens in Mäusen) überhaupt mit einer halbwegs normalen Hirnfunktion vereinbar ist. Denn die Mäuse ohne Neurolignin-3 waren zwar vor allem sozial auffällig, konnten aber sonst ihren normalen Aktivitäten nachgehen.
    Ohne Neurolignin-3 funktioniert die Synapse wohl immer noch, nur eben eingeschränkt.

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