Auf Tuchfühlung mit ALMA, 1. Teil: Ist das noch Planet Erde?
BLOG: Himmelslichter

Was für eine Schnapsidee, an diesem Ort ein Observatorium zu bauen! Ich musste das zwangsläufig denken. Beim Aussteigen aus dem Bus hatte ich beinahe das Gleichgewicht verloren – mich traf mit voller Wucht, was sich während des langen, langsamen Aufstiegs über die staubige Schotterpiste nur angedeutet hatte: Wir waren auf 5000 Metern. Jeder Atemzug enthält nur noch halb so viel Sauerstoff wie auf Meeresniveau. Das bekam mir nicht: Gleichgewichtsprobleme, stechender Kopfschmerz, Übelkeit, das volle Programm.

Das Sauerstofffläschchen, an dem ich während der Busfahrt präventiv genuckelt hatte, war offenbar leer gewesen: Mein Blutsauerstoff war auf 86 Prozent – ich fühlte mich schon mal besser. Doch zum Ausruhen blieb keine Zeit. Wir waren schließlich angekommen bei ALMA, dem Atacama Large Millimetre/Submillimetre Array, oder: dem größten zusammenhängenden Radioteleskop der Welt.
Erst wenige Tage zuvor war die letzte der 66 Antennen von der “Bodenstation” auf 2600 Metern zur “High Site”, auf die Chajnantor-Hochebene in den chilenischen Anden gebracht worden. Unsere Gruppe war eine der ersten, die ALMA im Juni 2014 in voller Bestückung sehen durfte. Nach ein paar tiefen Zügen aus einer (vollen) Sauerstoffflasche war mir, als habe jemand in meinem Hirn die Vorhänge aufgezogen – ich war wieder klar einigermaßen im Kopf.

Der Sauerstoffmangel ist einer der Umstände, die mir äußersten Respekt abzwingen vor den Menschen, die hier Ihre Arbeit tun. Die anderen: extreme Trockenheit, Luftfeuchtigkeit nahe Null, Kälte, Wind. Ein gefühlter Windchill von -15°C lässt die Finger am Kameraauslöser innerhalb weniger Sekunden steif werden. Dazu kommt die erbarmungslos brennende Sonne, die kein bisschen wärmt, dafür aber UV-Strahlung im Überfluss spendiert. Der Weltraum mag die lebensfeindlichste Arbeitsumgebung sein – das hier kommt gleich danach.
Nein, hier oben zu arbeiten wäre sicher nicht mein Traumjob. Viele der Arbeiter stammen aus der Gegend, oftmals sind es Aymara, also Nachfahren der Ureinwohner, die diese Gegend seit Urzeiten bevölkern. Sie sind an die Bedingungen weitaus besser angepasst als der typische Mitteleuropäer. Das gilt auch für unseren Busfahrer. Der Bus, ein ausländisches Fabrikat, bekam die Höhe ebenfalls zu spüren: auf den letzten Kilometern kamen wir nur im Schrittempo voran.

Glücklicherweise waren wir ja nur zu Besuch. Auch die meisten der Astronomen, die seit Oktober 2011 mit ALMA das Weltall im Licht der Submillimeter-Radiostrahlung beobachten, müssen meist nicht einmal nach Chile fahren, geschweige denn auf die lebenfeindliche Höhe. Sie steuern die bis zu 66 Einzelteleskope von gemütlichen Büroräumen in der Operations Support Facility (OSF) aus, rund 2000 Meter tiefer und eine knappe Stunde Autofahrt vom Touristenort San Pedro de Atacama gelegen. Oder werten die Daten des Riesenteleskops gleich in ihren Heimatinstituten in aller Welt aus.

Die Teleskopromantik vom einsamen Astronomen, der die Nacht bei seinem Teleskop verbringt, ist in Zeiten global vernetzter Datenautobahnen längst Geschichte, eine Installation wie ALMA wäre sonst gar nicht denkbar. Auf die Höhe darf zudem nur, wer eine medizinische Kurzuntersuchung besteht – einigen aus unserer Gruppe gelang das nur knapp. Doch es war warscheinlich mehr die Aufregung als ernsthafte gesundheitliche Probleme, die den Blutdruck steigen ließ. Normalerweise werden Besucher aus Sicherheitsgründen gar nicht erst auf die High Site gelassen. Unsere Gruppe von Medienvetretern aus aller Welt war eine der wenigen, denen es gestattet wurde.

Warum aber treiben Amerikaner, Japaner und Europäer, letztere in Form der Europäischen Südsternwarte (ESO), einen solchen Aufwand und bauen ihr Teleskop in dieser Einöde? Sind Astronomen extremophil, suchen sie den Kick? Eher nicht – es ist schiere Notwendigkeit. Astronomen sind Fluchttiere – sie meiden schlechtes Wetter, künstliches Licht, irdische Radiostrahlung und auch zu viel Atmosphäre, im Falle von ALMA: den Wasserdampf in der irdischen Luft.

Der Wasserdampf in der Luft absorbiert nämlich die Submillimeterstrahlung, die ALMA messen soll – tiefer gelegene Radioteleskope sind für diese Art elektromagnetischer Wellen daher nahezu blind. Man kann entsprechende Empfänger natürlich ins Weltall bringen, wie es mit

dem Weltraumteleskop Herschel der Fall war, oder an Bord von Flugzeugen durch die Gegend fliegen, wie man es mit der fliegenden Sternwarte SOFIA macht. Das ist aber alles andere als billig – und die maximale Größe solcher fliegenden oder im All stationierten Teleskope ist natürlich stark eingeschränkt.
Hier oben in der Atacamawüste ist die Luft aber so trocken, dass diese kurzwellige Radiostrahlung weitgehend ungestört zur Erdoberfläche gelangt. Der Norden Chiles hat noch einen weiteren astronomischen Standortvorteil: Das Zentrum der Milchtraße zieht hier durch den Zenit, und auch andere interessante astronomische Objekte, zum Beispiel die Magellanschen Wolken, sind nahezu jederzeit beobachtbar. Es gibt kaum einen besseren Ort auf der Welt für ein Radioteleskop wie ALMA als die Chajnantor-Hochebene.
So ist diese eher an den Mars als an unseren blauen Planeten erinnernde, in jedem Sinne atemberaubende Landschaft nun von silbrigen Antennen gesprenkelt, was ihrem ohnehin überweltlichen Charakter noch verstärkt. Die ALMA-Antennen ähneln überdimensionierten Satellitenschüsseln: einige sind sieben, andere sogar zwölf Meter groß. Als wir das Observatorium erreichen, sind die meisten von ihnen allerdings noch dicht gereit neben dem Kontroll- und Aufenthaltsgebäude aufgebaut.
Nur wenige Monate später sollte das ganz anders sein: Vom 1. September bis zum 30. November 2014 testete das ALMA-Team im Rahmen der Long Baseline Campaign zu ersten Mal die unglaublichen Fähigkeiten des Riesenteleskops. Dazu mehr im zweiten Teil dieser Blogserie, in der es auch um die Funktionsweise von ALMA geht. Warum braucht man eigentlich so viele Teleskope? Und was hat es mit der Interferometrie auf sich?
Nach ALMA und dem Square Kilomtere Array bleibt nur noch der Weltraum. Dorthin fährt dann kein Bus mehr.
Nach dem wohl weltweit leistungsfähigsten Radiointerferometer ALMA wird ESO in absehbarer Zeit über das größte Teleskop E-ELT verfügen. Der riesige Spiegel (rund 39 Meter Durchmesser) wird mit einer adaptierbaren Optik ausgestattet, die eine effiziente Korrektur der atmosphärischen Turbulenzen erlauben (Entwicklung des Linzer Johann Radon Institute for Computational and Applied Mathematics).
http://scienceblog.at/europas-sterne-—-erfolgsmodell-europäischer-zusammenarbeit-am-beispiel-astronomie-und-weltraumwissen#.
Ich kriege schon vom Lesen der beschriebenen medizinischen Folgen der dünnen Luft Kopfschmerzen. Bei mir ist ab 2500 Meter Höhe Schluss. Da hätte ich es gerade mal bis zur “Bodenstation” in 2600 Metern Höhe geschafft.
Stelle gerade fest, dass ich mich da vertan habe: die OSF ist sogar auf 2900m – das ist die gerade noch tief genug, um arbeitsrechtlich noch nicht als “hoch” zu gelten oder so.
Hm… wie hoch ich es schaffe, weis ich nicht, da ich es noch nicht testen konnte. Ich hab es aber schon mal 2 Monate am Stück auf 2200 metern ausgehalten. – Ach ja und einmal hab ich auch schon auf einer Gipfelhütte in 3300 metern Höhe übernachtet. Ist aber schon lange her, von daher kann ich nicht sagen, wie ich es jetzt verkraften würde.
Kommt drauf an, was man da macht und wie lange man da ist. Ich habe auch schon mal ein halbes Jahr auf 2500m gelebt, das merkt man nach ein paar Wochen gar nicht mehr. Das gleich mag auch für 3500m gelten, wobei ich bei mir selbst festgestellt habe, dass ich ab etwa 3000-3500m die Höhe deutlich spüre, sobald ich mich nur etwas schneller bewege. An 5000 werde ich mich nie gewöhnen können.
Problematisch ist es, wenn man (wie wir) relativ schnell von ca. 2500 auf 5000 per Auto aufsteigt. Das merkt man dann spätestens (wie ich) beim aussteigen…
Ja stimmt, was man in der Höhe treibt, ist auch noch entscheidend, weil es ja darüber bestimmt, wieviel Sauerstoff man verbraucht.
Einen Kommentar in dieser Richtung wollte ich auch erst schreiben, hab es mir dann aber verkniffen. Denn es vom gesundheitlichen Standpunkt betrachtet wäre sicherlich sinnvoller gewesen, zu Fuss da hoch zu gehen. Nur wäre man da wahrscheinlich zwei oder drei Tage unterwegs, weil nur gut trainierte Bergwanderer 2500 Höhenmeter an einem Tag schaffen. Aber das geht bei so einer Veranstaltung wie einem Pressetermin natürlich nicht. – Die würde für die Beteiligten dann wahrscheinlich eine ganze Woche dauern: 3 Tage aufstieg, 1 Tag aufenthalt und wieder 3 Tage abstieg.
Hallo Jan,
mal wieder ein interessanter Artikel von Dir.
Mir hat hier aber besonders Deine lebendige Schreibweise gefallen, die die reinen technischen und wissenschaftlichen Fakten sehr schön einbettet.
Irgendwann musst Du mal ein Buch raus bringen finde ich.
Gruß
Kai
Hallo Kai,
danke für das Lob!
Das mit dem Buch überleg ich mir mal…
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Hallo Jan,
ein klasse Artikel, eindruckvolle Bilder! Ich war zwar ein bisschen enttäuscht, dass ich im November ALMA nicht besuchen konnte – aber wenn ich das lese, ist mir klar, warum man da nicht “mal eben” hoch kann.
Schöne Grüße,
Kurt
Auf (fast) die Höhe kommt man schon, wenn man einfach die Paßstraße nach Argentinien/Bolivien hoch fährt, da kommt man, wenn ich mich recht entsinne, bis auf 4500m. Das reicht schon, um die beschriebenen Syptome selbst zu erleben. Leider sieht man von den Antennen von der Straße aus nichts.
Auf der Passstraße nach Argentinien war ich – mit Abstecher zur Laguna Miscanti. Da hatte ich noch keine großen Probleme mit der Höhe. Ich denke, 5.000 m sind nochmal ´ne andere Hausnummer.
Schöne Grüße,
Kurt
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