Winfried Menninghaus: Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften – 5 Thesen

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Salon der zwei Kulturen
GUTE STUBE

Winfried Menninghaus ist ein Brückenbauer zwischen den "Zwei Kulturen". Der renommierte Germanist, dessen akademische Karriere einst mit einer Immatrikulation in Informatik startete, forscht heute am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin. Zahlreiche Gastprofessuren u.a. in Yale, Berkeley und Princeton haben ihm das amerikanische College-System nahe gebracht. Darin fällen die Studenten noch keine abschließende Studienentscheidung, sondern besuchen Seminare sowohl in den "Humanities" als auch in den "Sciences". Auch für das deutsche Studiensystem würde sich Menninghaus Pflichtmodule in der jeweils anderen Kultur wünschen.

Interdisziplinäre Forschung betreibt Menninghaus an vorderster Front. Er ist Sprecher des Exzellenzclusters "Languages of Emotion" an der Freien Universität Berlin, wo Wissenschaftler aus mehr als 20 Disziplinen – von der Tanzforschung bis zur kognitiven Neurowissenschaft – die Zusammenhänge von Sprache und Emotion ergründen. "Indem wir die Paradigmen der verschiedenen Disziplinen zusammenbringen, ergeben sich ganz neue Fragestellungen", umreißt Menninghaus seine spannende Tätigkeit.

Am 18.11. werde ich das Vergnügen haben, Winfried Menninghaus auf der Bremer Wissenswerte mit dem Neurobiologen Henning Scheich vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg ins Gespräch zu bringen. Beide Podiumsgäste besuchen mich vorab im "Salon der zwei Kulturen". Heute ist zunächst Winfried Menninghaus mit fünf Thesen zum Verhältnis von Geistes- und Neurowissenschaften zu Besuch. Herzlich willkommen! 


Geisteswissenschaften und Neurowissenschaften – 5 Thesen

Winfried Menninghaus1. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sind traditionell der reichen Komplexität mentaler und kultureller Erfahrungen zugewandt; sie haben ihre Modell- und Begriffsbildung selten oder nie an Modelle bzw. empirische Kenntnisse von der inneren Arbeitsweise des Gehirns zurückgekoppelt. Die Neurowissenschaften sind unerläßlich, um eine solche Rückkopplung zu erreichen.

2. Neurowissenschaftliche Forschung über kognitive und emotionale Phänomene ist in erster Linie eine brain-Forschung aus einer Dritte-Person-Beobachterperspektive.
Als solche ist sie gleichwohl in hohem Maß abhängig von der Erste-Person-Perspektive des Erlebens und der introspektiv sowie sprachlich-begrifflich gestützten Kategorisierung (mind-Ebene); diese sind traditonell eher die Domäne der Philosophie, der Geisteswissenschaften und der qualitativen Verfahren in Psychologie und Sozialwissenschaften.

Reine Gehirnaktivierungsmuster sagen gar nichts, wenn sie nicht immer schon – und zwar sowohl vor wie nach der Messung – auf kognitive oder emotionale Qualitäten bezogen werden. Ohne eine begriffsgeleitete Vorannahme darüber, was etwa „Angst“ ist, würde eine experimentelle Messung gar nicht durchgeführt, und die Auswertung solcher Messungen – insbesondere in den „discussion“-Paragraphen – verwendet regelmäßig Kategorien und Hypothesen, die ebenfalls nicht allein Resultat neurowissenschaftlicher Meßmethoden sind.

3. In der begrifflichen und erfahrungsbezogenen (Vor-)Klärung der untersuchten Phänomene unterlaufen neurowissenschaftliche Studien sehr oft einen Reflexions- und Differenzierungsstand, der in den Geisteswissenschaften erreicht ist. Die Einbeziehung von Kollegen dieser Fächer kann zu einer veränderten Sicht auf das zu untersuchende Phänomen und letztlich zu veränderten experimentellen Designs führen.

4. Viele Bereiche der Neurowissenschaften operieren – wie große Bereiche der Geisteswissenschaften – mit Interpolationen, deren Zuverlässigkeit in vielen Fällen hochgradig unsicher ist. Einem Literaturwissenschaftler fällt bei der Lektüre insbesondere von fMRI-Studien die enorm hohe Frequenz der Verwendung von hypothetischen, grammatisch oft in den Konjunktiv gesetzten Glaubens- und Suggestionsformeln („this area is believed to be involved in…“, „prior evidence suggests that…“, „we suggest“). Obwohl die wenigen Hirnregionen allesamt in zahlreiche und sehr verschiedene Prozesse involviert sind, werden oft auf schmaler Datenbasis kühne Funktionszuschreibungen unternommen. Aus Kostengründen wird auch meist mit sehr geringen Probandenzahlen gearbeitet, was die statistische Validität stark einschränkt.

5. Neurowissenschaftliche Forschungen müssen Apparate- und Design-bedingt enorme Vereinfachungen der Stimuli vornehmen.
Dies ist ein schwieriger, entscheidungsreicher Prozeß, bei dem eine multidisziplinäre Perspektive hilfreich sein kann. In der Forschungsroutine scheint oft ein Bewußtsein davon verloren zu gehen, mit wieviel Realitätsverlust dieser Prozeß regelmäßig verbunden ist. Beispiel: die neurowissenschaftliche Emotionsforschung untersucht bislang beinahe ausschließlich emotionale Ereignisse, die sich im Millisekundenbereich abspielen. Was jenseits von einer Sekunde liegt, ist fast noch gar nicht erforscht worden.

Das Aufkommen des methodischen Ideals der „ökologischen Validität“ reflektiert diese erhebliche Gefahr des Realitätsverlusts durch die Erforschung extrem vereinfachter und operationalisierter Stimuli in extrem künstlichen experimentellen Settings. Um „ökologische Validität“ zu erreichen, scheint heute eine gemeinsame Anstrengung verschiedener Disziplinen verlangt.


Die Podiumsdiskussion auf der Bremer Wissenswerte läuft unter der Überschrift "Geisteswissenschaft im Dialog: Natürlich Kultur … Wer bestimmt das Menschenbild?" und findet am 18.11. von 17:30 bis 18:30 Uhr im Bremer Cogress Centrum statt. Sie ist Teil der Veranstaltungsreihe "Geisteswissenschaft im Dialog", eines gemeinsamen Projekts der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften und der Leibniz-Gemeinschaft, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird und das in diesem Konferenz-Modul in diesem Jahr Kooperationspartner der Wissenswerte ist.

Die Wissenswerte ist eine noch junge, aber längst fest im Bewusstsein von Wissenschaftsjournalisten verankerte mehrtägige Fachkonferenz für Wissenschaftskommunikatoren, ins Leben gerufen und jährlich organisiert von der Initiative Wissenschaftsjournalismus. Sie findet 2008 zum fünften Mal statt.

Der Gesprächspartner von Winfried Menninghaus auf der Wissenswerte, der Neuroforscher Henning Scheich, hat ebenfalls in der Guten Stube gepostet.


 

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Veröffentlicht von

Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

2 Kommentare

  1. Die höchst faszinierende und wünschenswerte interdisziplinäre Forschung der Neuro- und Geisteswissenschaften sollte nicht durch kritische Ausgrenzung (“enorme Vereinfachung”, “unterlaufen von Reflexions- und Differenzierungsstand”, “hochgradig unsicher”, “dritte Person Perspektive” usw.)sondern durch durch Kooperationsangebote bestimmt sein.
    Wie wäre es, wenn die eine Seite der anderen Fragestellungen vorlegt in Form fiktiver Forschungsaufträge. Das zwingt bestimmt eher zu qualifizierten Stellungnahmen (Rückkopplung) als die plumpe Abwehr von Methodenkritik o.ä.
    Mich würde interessieren was Winfried Menninghaus sich
    von der Rückkopplung geistes- und sozialwissenschaftlicher Modelle an die Modelle der Arbeitsweise des Gehirns verspricht. Wenn er das sagen würde, dann könnten sich daraus gemeinsame Zielvorstellungen ergeben, die beiden Seiten eine Menge zu tun vorgeben – mit der Folge, dass die Geiseswissenschaften nicht mehr herumgeistern und die Neurowissenschaften nicht mehr nerven würden

  2. Introspektion vs. Kognition

    Meines Erachtens übersehen beide Protagonisten (HS, WM), dass die Neurowissenschaften essentiell mit dem Projekt der kognitiven Psychologie verknüpft sind. Kognitive Strukturen oder Prozesse sind aber keinesfalls subjektive, introspektiv erfassbare oder Erste-Person-Perspektive-Phänomene, sondern latente objektive Konstrukte, d.h. theoretisch angenommene, nicht direkt beobachtbare Entitäten (z.B. Gedächtnis), die die statistische Modellierung von offen beobachtbaren Umwelt-Verhalten-Zusammenhängen entscheidend verbessern sollen. Die kognitiven Neurowissenschaften hoffen nun, die physische Realisierung der bisher nur theoretisch behaupteten kognitiven Prozesse und Strukturen auf der Hirnebene nachweisen zu können.

    Bevor man irgendwelche geisteswissenschaftlich interessanten Phänomene auf die Hirnebene beziehen kann, müsste man sie also auf kognitive Prozesse “re-duzieren” – die dann wiederum neuronal realisiert vorgestellt werden können.

    Aber lässt sich “der Geist” – analog zur Materie – in kleine Stücke, sogenannte kognitive Prozesse, zerbrechen, deren Gesetzmäßigkeiten dann – wie die Periodentafel der Elemente für die ganze Chemie – für sämtliche Erscheinungen des Geistes Geltung und Erklärungsmacht beanspruchen können? Über welche technischen Fähigkeiten müssten Kognitionstheoretiker verfügen, um diese ihre Behauptung glaubhaft zu untermauern? Wäre künstliche Intelligenz nicht das Mindeste, was sie vorzuweisen haben müssten, bevor man ihren Ansatz für vielversprechend hält?

    Im übrigen gibt es nicht verschiedene Perspektiven (oder gar Standorte), sondern nur verschiedene und verschieden adäquate Verfahren und Grade der begrifflichen Abstraktion von unmittelbaren Eindrücken bzw. ichbezogenen Erfahrungen. Hierhin liegt denn auch der methodische Hauptunterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.

    Dass wir bei allen geistig-seelischen Vorgängen Hirnfunktion mitdenken müssen, ist nun bekannt. Ob aber angemessenere Beschreibungen und begriffliche Abstraktionen für bestimmte häufig einmalige historische, kulturelle und subjektive Phänomene ausgerechnet aus den Neurowissenschaften kommen werden, erscheint mir keinesfalls ausgemacht. Auch auf eine Reduktion von Logik oder Mathematik auf Denkpsychologie (vgl. Husserls Psychologismuskritik) oder gar Denkneurologie werden wir noch lange warten müssen.

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