Wilhelm Krull: Interdisziplinarität

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Innovation, Interdisziplinarität, Internationalität und Infrastruktur – entlang dieser vier Begriffe entwickelt Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, in der Guten Stube seine Vision der zukünftigen Rolle der Geisteswissenschaften. In Teil 2 der Serie geht es um Interdisziplinarität.

Wilhelm Krull

Interdisziplinarität

„Ebenso wie Eiscreme gibt es Interdisziplinarität in unterschiedlichen Geschmacksrichtungen. Einige davon sind nur schwer zu verdauen, insbesondere wenn sie eine große Kluft zwischen Denkschemata, Sprachen und Begrifflichkeiten zu überwinden haben. Andere erscheinen uns so natürlich und bekömmlich wie das tägliche Leben.“ So heißt es im Vorwort von Christoph-Friedrich von Braun für die „Briefe zur Interdisziplinarität“, die die Andrea von Braun Stiftung herausgibt (Heft 1, Juni 2008, S. 2).

Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass im Wissenschaftsbetrieb selbst die disziplinäre Orientierung dominiert: Einzelwissenschaftliche Referenzsysteme stehen mit Blick auf Qualitätssicherung (Standards), Zertifizierung durch Verleihung akademischer Grade, Reputation, Stabilität des Umfeldes und nicht zuletzt Karriereaussichten im Vordergrund. Sie bilden die universitäre Organisationsform des Wissens!

Die großen Fragen, die sich dem einzelwissenschaftlichen Zugriff entziehen, können zwar nur im interdisziplinären Verbund sinnvoll angegangen werden, dabei müssten dann jedoch ganz andere Aspekte, nämlich Problemadäquatheit, Relevanz, Veränderungsprozesse, Komplexität sowie – und das ist für den wissenschaftlichen Nachwuchs besonders bedeutsam – Fragen der Karriereaussichten im Vordergrund stehen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erwarten von der Wissenschaft Lösungen für die „großen“ Fragen und nicht bloß kleinteilige Antworten. In dem Versuch, eine neue Balance zwischen der notwendigen fachwissenschaftlichen Profilierung des Einzelnen und der bei diesem häufig anzutreffenden Ideosynkrasie gegen Kooperation einerseits sowie der ebenso notwendigen Bündelung von Forschungs- und Lehrkapazität andererseits herzustellen, wird zumeist nur eine weitgehend berührungsfreie, additionale Interdisziplinarität praktiziert. Jede Disziplin verfolgt auf diese Weise letztlich unter dem gemeinsamen Dach nur ihre je eigene Fragestellung. Integrative Perspektiven stehen zwar auf dem oft sehr geduldigen Antragspapier; im Forschungsalltag kommen sie jedoch nur selten zur Geltung. Die Anstrengung, ein gemeinsames methodisches Vorgehen, gar gemeinsame Veröffentlichungen hervorzubringen, wird unter karrierebezogenen Kosten-Nutzen-Erwägungen zumeist gar nicht erst unternommen.


Gute StubeIm Zeitalter einer an den führenden Fachzeitschriften des jeweiligen Gebiets orientierten Vermessung der Wissenschaft mag dies gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs auch eine durchaus verständliche Strategie sein, zumal die Zeitzyklen der Forschungsförderung mit ihren immer noch vorherrschenden zwei- bis dreijährigen Förderzeiträumen eine enge Fokussierung geradezu befördern. Wer also mehr Risikobereitschaft und ein die disziplinären Grenzen überschreitendes Forschen befördern will, der muss auch bereit sein, nach einmal erfolgter Auswahl der Besten diesen Vertrauen und Geduld zu schenken für sehr viel längere Zeiträume: Fünf bis sieben Jahre, vielleicht auch acht bis zehn. Nur so können Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verlockt werden, die Kernbereiche ihrer jeweiligen Disziplinen zu verlassen und im unsicheren Grenzland zwischen den etablierten Fächern neu zu siedeln. Sprechfähigkeit über die eigenen Disziplingrenzen hinweg ist ohne die Anstrengung der Einarbeitung in zumindest den Denkrahmen des anderen Faches nicht zu haben. Und die kostet Zeit!

Mit Blick auf die im Wesentlichen universitärbasierte geisteswissenschaftliche Forschung schaue ich in letzter Zeit ein wenig optimistischer in die Zukunft; denn nicht zuletzt im Kontext der Exzellenzinitiative haben sich neue institutionelle Strukturen und auch veränderte Formen der Nachwuchsförderung herausgebildet, die gerade für inter- und transdisziplinäre Vorhaben neue Perspektiven eröffnen. Nicht zuletzt durch die neuen „tenure track-Perspektiven“ ergeben sich für herausragende Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler wesentlich verlässlichere Karriereaussichten, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Mit der Herausbildung von Zentren, Clustern und verschiedenen Institutes of Advanced Study (wie z. B. das Zukunftskolleg in Konstanz und das Lichtenberg-Kolleg in Göttingen) werden erstmals in größerer Zahl Juniorprofessorinnen und -professoren rekrutiert, die aufgrund ihrer interdisziplinären, problemorientierten Forschungsleistungen ein Angebot mit Langzeitperspektiven erhalten.

Es bleibt freilich abzuwarten, wie in den nächsten Entscheidungsschritten mit diesen Perspektiven umgegangen wird. Insgesamt gesehen ergeben sich damit, wie z. B. auch über die Lichtenbergprofessuren der VolkswagenStiftung, bessere Karriereaussichten für Forscherinnen und Forscher im Grenzbereich unterschiedlicher Disziplinen. Dies dürfte auch dem internationalen Ansehen des deutschen Wissenschaftssystems aufhelfen. Damit könnte zugleich jene produktive Wechselwirkung ermöglicht werden, die der Physiker Werner Heisenberg in seinen „Gifford lectures“, die unter dem Titel „Physik und Philosophie“ auch auf deutsch erschienen sind, wie folgt charakterisiert hat:

„Wahrscheinlich darf man ganz allgemein sagen, dass sich in der Geschichte des menschlichen Denkens oft die fruchtbarsten Entwicklungen dort ergeben haben, wo zwei verschiedene Arten des Denkens ihre Wurzeln in verschiedenen Gebieten der menschlichen Kultur haben mögen, oder in verschiedenen Zeiten, in verschiedenen religiösen Traditionen. Wenn sie sich nur wirklich treffen, das heißt, wenn sie wenigstens so weit zueinander in Beziehung treten, dass eine echte Wechselwirkung stattfindet, dann kann man darauf hoffen, dass neue und interessante Entwicklungen folgen.“
(Physik und Philosophie, Stuttgart 1959, S. 181).

 


Dieser Gastbeitrag ist Teil 2 der Kommentarserie von Wilhelm Krull:

Neue Chancen für die Geisteswissenschaften

Teil 1: Innovation
Teil 2: Interdisziplinarität
Teil 3: Internationalität
Teil 4: Infrastruktur
Teil 5: Fazit: Neue Chancen für die Geisteswissenschaften

 

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Veröffentlicht von

Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

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