Wissenschaftskommunikation: Der kreative Vorspann

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Ein guter Vorspann muss die zentrale Botschaft eines Textes auf den Punkt bringen? Nicht unbedingt! Kreative Varianten fangen die Leser mit Wortwitz und stilistischen Kniffen ein.

Serie Wissenschaftskommunikation – Schreibtipps vom Chefredakteur, Teil 13

Ob ein nachrichtlicher Vorspann Leser einfängt und für die Lektüre des eigentlichen Artikels gewinnt, hängt schlicht davon ab, ob sein Küchenzuruf relevant ist für die Zielgruppe. Die Sache entscheidet also darüber, wer „einschaltet“ – und wer seine Aufmerksamkeit lieber anderweitig investiert. Ganz anders der kreative Vorspann. Hier werden wir mit alternativen Strategien dazu verführt, in die Lektüre einzusteigen. Im Gegensatz zu seinem biederen nachrichtlichen Pendant, ist der kreative Vorspann dramaturgisch durchkomponiert und nutzt stilistische Kniffe, um unsere Neugierde zu wecken. Ein geschickter kreativer Vorspann kann sogar Leser gewinnen, die sich für das Thema eigentlich gar nicht interessieren. Genau deswegen bietet er sich auch für Blogs an – als Fangvorrichtung für ansonsten sehr flüchtigen Google-Traffic (siehe dazu auch meinen einleitenden Serienteil über den Vorspann in der Wissenschaftskommunikation).

Während der nachrichtliche Vorspann weitgehend mit dem Küchenzuruf eines Artikels identisch ist, gibt der kreative Vorspann die zentrale Message nicht komplett preis, ja lässt sie meist sogar nur anklingen. Das Kalkül dahinter: Spannung erzeugen, ja die Leser süchtig machen auf die ganze Geschichte.

Erwartungsgemäß sind kreative Vorspanne in solchen Medien verbreitet, die sich nicht an Spezialisten richten (wie es etwa Fachjournale tun) und die ebenfalls nicht zwingend mit Aktualität glänzen müssen („Breaking News“). Sprich: Vor allem Wochenmagazine und -zeitungen sowie populärwissenschaftlichen Zeitschriften sind ideale Spielwiesen für derlei Präludien der Wissenschaftskommunikation.

Im Folgenden stelle ich fünf bewährte Typen kreativer Vorspanne vor:

1. Der Dreiklang
Dieser Typ besteht aus einer Aneinanderreihung von drei peppigen Stichworten oder Phrasen, gefolgt von einem oder zwei ganzen Sätzen, die das Thema des Artikels zwar unmissverständlich anklingen lassen, aber längst nicht alles verraten. Der Küchenzuruf bleibt hier stets unvollständig. Beispiele:

Vorsicht, Fett!
Zu süß, zu fettig, zu salzig – Hinweise auf den Packungen sollen Verbraucher vor ungesunden Lebensmitteln warnen. Wird das funktionieren?
(Zeit Wissen 2/2009, S.73)

Rätselhafte Herdentiere
Wie ist das Ich mit dem Wir verbunden? Was hat Fühlen mit Denken zu tun? Wodurch kommen Moral und Amoral in den Menschen? Fachübergreifend entdecken Forscher eine Art Kompass der Evolution.
(Spiegel Wissen 1/2009, S.39)

Sind Delfine die besseren Menschen?
Sie werden geliebt, bewundert und vergöttert: Delfine gelten nicht nur als intelligent, sondern auch als überaus einfühlsam. Neuerdings werden ihnen sogar magische Heilkräfte zugeschrieben. Was ist dran am neuen Flipper-Kult?
(PM Magazin 5/2008, S.50f.)

Der folgende Vorspann eines Artikels über "Einsamkeit" landete im letzten Sommer auf meinem Schreibtisch. Er war noch nicht ganz rund, und so habe ich ihn zu einem „Dreiklang” umgearbeitet. Zunächst das weniger reizvolle Original:

Nicht nur alte, auch junge Menschen leiden unter Einsamkeit. Doch wie Forscher herausfanden, schlägt das Gefühl, vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein, auf die Gesundheit – die psychische wie die körperliche.

Die Gegenüberstellung von alten und jungen Menschen war mir hier zu unkonkret. Im Artikel selbst war speziell von Alleinerziehenden, die unter Einsamkeit leiden, die Rede – außerdem von Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern. Daher konnte man (sogar mit einer zusätzlichen Alliteration und konkreter) den Vorspann zu folgendem Dreiklang umfunktionieren:

Alte, Arbeitslose, allein Erziehende – in manchen Bevölkerungsgruppen tritt Einsamkeit besonders häufig auf. Mit einschneidenden Folgen für die psychische wie körperliche Gesundheit
(Gehirn&Geist 10/2009, S.49)

2. Der Anreißer
Dieser Vorspann-Typ ist u.a. bei Reportagen beliebt: Im Vorspann wird die Story lediglich angerissen, dann bricht der Faden ab. Wer die ganze Geschichte möchte, muss den kompletten Artikel lesen. Beispiele:

Fragiles Erbgut, fester Halt
Ein geschädigtes X-Chromosom kann zu Verhaltensstörungen führen. Dann hilft nur Disziplin. Und demnächst vielleicht ein Medikament.
(FAS, 14.06.2009, S.58)

Das Projekt
Seit hundert Jahren versuchen Techniker, die Kraft der Meereswellen in elektrischen Strom zu wandeln. So richtig ist das noch keinem gelungen. Ein einsamer Ingenieur auf einer Azoreninsel gibt den Kampf nicht auf.
(Brand eins, 10/2009, S.158f.)

Die rätselhaften Mega-Flüsse im Atlantik
In riesigen Strömen fließt im Nordatlantik 20-mal mehr Wasser in die Tiefe, als alle Flüsse der Erde zusammen ins Meer spülen – davon sind Wissenschaftler überzeugt. Das Problem: Bisher hat niemand die Giganten beobachtet. Und je länger die Suche dauert, desto rätselhafter werden sie.
(spiegel.de, 24.07.2009)

Hier hätten die Spiegel-Online-Redakteure die unnötige Wortdopplung „rätselhaft“ zwischen Überschrift und Vorspann mit folgender Formulierung vermeiden können: „Die geheimnisvollen Mega-Flüsse im Atlantik“. Dann wäre es noch besser gewesen!

Ein letztes Beispiel für den Anreißer-Vorspann aus der eigenen Textschmiede:

Am Anfang war der Streit
Bereits das Neue Testament berichtet von manch heftigem Zwist unter den Jüngern Jesu. Doch wie unerbittlich das Ringen um den wahren Glauben noch werden sollte, ahnte selbst der streitlustige Apostel Paulus nicht.
(epoc 3/2009, S.18)

3. Story in a Nutshell
Dieser Typ des kreativen Vorspanns schrammt manchmal die Grenze zum nachrichtlichen Vorspann. Er bietet den Lesern einen annähernd kompletten Küchenzuruf an, jedoch spannend – und nicht rein sachlich – formuliert (und meist mit schicken Metaphern garniert). Zwei Beispiele dazu:

Lebende Bauten
Drei Stuttgarter Architekten entwerfen Bauwerke, die sich auf wachsende Weiden oder Platanen stützen. Dazu lernen sie, wie sich Bäume verschweißen lassen.
(Spiegel 29/2009, S.114)

Die Rückkehr der Seuche
Grippeviren sind tödlicher als Kriege und beständiger als Imperien. Gerade sucht uns mit der „Schweinegrippe” wieder ein neuer Erregerstamm heim. Die Geschichte eines Serienkillers, der sich nicht verhaften lässt.
(P.M. History, Sept. 2009, S.20)

4. Der Superlativ
So etwas verspricht immer Aufmerksamkeit, vor allem bei einem breiten Publikum und bei Kindern: die giftigsten Insekten der Welt, die größten Missverständnisse über die Quantenmechanik, die älteste je entdeckte Nachbildung eines Menschen usw. Deshalb spannen auch Wissenschaftsredakteure regelmäßig Superlative als Zugpferde vor ihre Artikel. Beispiele:

Gefährliches Deutschland
In Erfurt und Halle wird am häufigsten gemordet, den Südwesten bedrohen Ozon und Erdbeben, der Harz und die Alpen strahlen radioaktiv. Und in Pirmasens haben die Menschen die geringste Lebenserwartung. Ein Atlas der Risikogebiete der Republik.
(SZ Wissen 6/2008, S.48)

Signale vom Anfang der Welt
Nur 625 Millionen Lichtjahre nach dem Urknall explodierte ein Stern, dessen Strahlung die Erde im vergangenen Frühjahr erreichte. Mit einer Distanz von 13 Milliarden Lichtjahren ist dieser Gammablitz namens GRB 090423 das bisher am weitesten entfernte astronomische Objekt. Jochen Greiner und seine Kollegen vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching untersuchen solche kosmischen Zündfunken am Rande von Raum und Zeit.
(Max-Planck-Forschung 2/2009, S.47)

Die Macht der Viren
Nicht erst seit dem Aufkommen der Schweinegrippe zählt die Virologie zu den spannendsten Gebieten der Biologie. Von ihren Erkenntnissen hängt das Überleben von hunderttausenden Menschen ab – jährlich.
(Spektrum der Wissenschaft, August 2009, S.54)

5. Das Paradoxon
Wer seine Leser zum Stutzen bringt, hat sie schon fast für sich vereinnahmt. Eine gute Strategie, Aufmerksamkeit zu erzeugen, besteht daher darin, durch Verblüffung Spannung zu erzeugen. Beispiele:

Der mündige Kranke
Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient hat sich im Laufe der Jahre verändert: Der Leidende will und soll heute bei seiner Behandlung mitentscheiden. Doch die neue Selbstbestimmung hat Nebenwirkungen.
(Spiegel Wissen 2/2009, S.97)

Hauen ums Stechen
Akupunktur ist in Deutschland beliebter als in China. Nun streiten westliche Forscher darüber, wann die Nadelei sinnvoll ist.
(Die Zeit Nr.51, 11.12.2008, S. 43)

In der Zeitmaschine
Anfang der achtziger Jahre begann die DDR eine eigene Atomuhr zu bauen. Das Projekt sollte sie unabhängig machen von der Zeit, die im Westen gemessen wurde. Als es endlich funktionierte, hatte die letzte Stunde des Sozialismus schon geschlagen.
(FAZ, 21.02.2009, S.38)

Das letzte Beispiel stellt eine Kreuzung dar zwischen dem Dreiklang und dem Paradoxon – allerdings mit einem kleinen Fehler darin:

Haute Couture
Federn machen Vögel sexy, signalisieren Angriffslust, ermöglichen waghalsige Flugmanöver – und sind die vermutlich schönste Mülldeponie der Erde.
(ZEIT Wissen 6/2009, S.36)

Der Fehler ist inhaltlicher Art: Laut einer im Artikel kurz angerissenen Theorie des Biologen Josef Reichholf dient jede einzelne Vogelfeder als Lagerstätte giftiger Eiweißsubstanzen. Daher müsste es korrekt und sprachlich rund lauten:

Haute Couture
Federn machen Vögel sexy, signalisieren Angriffslust, ermöglichen waghalsige Flugmanöver – und sind die vermutlich schönsten Mülldeponien der Erde.

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Veröffentlicht von

Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

2 Kommentare

  1. xytrblk meint: Viel gelernt

    Lieber Carsten:
    Du hast mich ja vor (drei) Jahren in die SciLogs gelockt. So hast du es mit dem Deidesheim-Foto mit den “drei Köchen” eben wieder gemacht und dadurch kam ich, neugierig weiterklickend, auf DIESEN Beitrag. Aus dem habe ich wiederum viel gelernt über das Aufbereiten eines Artikels. Wenn du mal in meinen Labyrinth-Blog reinschaust, wirst du sehen, dass ich – obwohl ich kein “Axolotol Roadkiller” bin, gerne von dir geklaut habe: den pyramidenförmigen Aufbau von Artikeln. Frank Schirrmacher meint in seinem neuen Sachbuch “Payback” ja, dass solche redaktionellen Procederes uns von den Computern und vom Internet vorgegeben werden. Aber das ist ein Schmarr´n, denn wie dein Beitrag zeigt, ist dies einfach guter (= leserfreundlicher) Journalismus:
    “Auch Journalisten müssen im Netz längst nach algorithmischen Regeln schreiben, die das Denken dem Computer unterwerfen. Texte müssen nach Pyramidenstrukturen verfasst werden, in denen das Neue nach oben gehört, der Hintergrund nach unten” (S. 194).
    Mit “algorithmischen Regeln” meint Schirrmacher natürlich “suchmaschinenfreundlich”. Nun, genau so habe ich es 1963 als Student in der Redaktion der Medizin-Magazins “SELECTA” gelernt – das sich am SPIEGEL orientierte. Danke, dass du mich an dieses journalistische Handwerkszeug wieder erinnert hast. Seitdem mache ich den Einlauftext meiner Beiträge, wie du vorschlägst, in violett und fett (nur das “kursiv” hab ich weggelassen).
    War interessant, deinen Blog mal wieder zu besuchen.
    Beste Grüße – Xytrblk

  2. Danke!

    Lieber Jürgen,
    Dein Kommentar ist eine geradezu perfekte Überleitung zu meinem abschließenden Serien-Post “Wissenschaftskommunikation” über gute Bildunterschriften. Denn mit Bildern fängt man Mäu – ä Aufmerksamkeit -, und die Bildunterschrift soll diese quasi weiterlenken auf den eigentlichen Artikel.
    Ich freue mich, dass mein Lockruf von damals, der Dich zu den SciLogs geführt hat, bis heute nicht verhallt ist. Und beim Vorspann-Dichten wünsch ich Dir ganz viel Erfolg!
    Liebe Grüße aus der Guten Stube in den Labyrinth-Blog
    Carsten

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