Welche wissenschaftliche Idee ist bereit für den Ruhestand? Elektrische Ersatzschaltbilder.

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Graue Substanz

RC_membrane_circuitJedes Jahr fordert uns Edge mit einer Frage heraus. “Welche wissenschaftliche Idee ist bereit für den Ruhestand?” heißt sie dieses Jahr. Leider antworten auf Edge viele ausweichend, zumindest nicht in dem Sinn der Frage: Für welche wichtige Wahrheit finden Sie bei anderen nur wenig Zustimmung?

Die Frage ist also konkret. Gesucht wird eine wissenschaftliche Idee. Meine kurze Antwort: die Sprache der elektrischen Schaltbilder für Vorgänge an den Zellwänden.

Auf meinen Vorschlag, das will ich sofort gerne zugeben, wäre ich alleine vielleicht nie gekommen und es gibt Zustimmung bei anderen (s. hierhier und hier). Aber meist sind elektrische Schaltbilder für Vorgänge an den Zellwänden immer noch die erst Wahl bei der Beschreibung der Membranphysiologie.

Deswegen behaupte ich: Die elektrischen Ersatzschaltbilder der Elektrophysiologie (s. Bild*) sind als wissenschaftliche Idee bereit für den Ruhestand.

Nicht dass ich diese Analogmodelle für falsch halte. Aber wie alle Theorien haben solche Ersatzschaltbilder einen eingeschränkten Geltungsbereich. Der Geltungsbereich der elektrischen Ersatzschaltbilder ist dabei nicht allein durch die Phänomenologie eingegrenzt sondern vor allem durch Methodik bestimmt. Der Unterschied ist dabei, dass ein Geltungsbereich eine bestimmte Art der Phänomene vollständig umfasst (z.B. alles, was deutlich langsamer als Licht ist und gleichzeitig makroskopisch, genügt der newtonschen Mechanik) oder aber, dass ein Geltungsbereich eine Bestimmte Art der Beobachtung umfasst (z.B. alles was mit einer Elektrode gemessen wird).

Wenn ich nur elektrische Potentiale messe, zum Beispiel bei der Ausbreitung einer Erregung im Nerv (Aktionspotential), dann “sehe” ich auch nur die Elektrophysiologie. Die Membranphysiologie der Ausbreitung einer Erregung im Nerv ist aber reichhaltiger.

Die Elektrophysiologie erklärt wesentliche Vorgänge nicht, die sich in und über der Membran abspielen. Weil sie unvollständig ist. Sie lässt Aspekte der Vorgänge komplett außen vor, die für eine „wahre“ (vollständig – inklusive neuer Vorhersagen) Beschreibung nötigt sind. Für mich steht fest, dass wenn wir in diesem Rahmen weiter die Elektrophysiologie beschreiben, werden wir das Repertoire an funktionellen Verhalten nicht wesentlich erweitern. Um es anders zu sagen: Das elektrische Membranpotential versklavt nicht alle anderen relevanten Freiheitsgrade. (Das denk ich mir jetzt nicht aus, Physiker reden wirklich so.)

Für mich muss die Frage der Membranphysiologie in die Richtung einer physikalischen Theorie des Aktionspotentials fern vom Gleichgewicht gehen.

 

Danksagung

An dieser Stelle will ich Konrad Kauffmann danken, der schon seit den frühen 1990er Jahren meine Aufmerksamkeit auf diese Problemstellung gelenkt und so meinen wissenschaftlichen Werdegang mitgeprägt hat.

*Bildquelle: Wikipedia, released under the GNU Free Documentation License.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

5 Kommentare

  1. Der Begriff ´Spiegelneuronen´ war schon bei seiner Erfindung (in den 1990er Jahren) ein Anwärter für die Entsorgung. Denn Thomas Nagel hat schon 1974 mit seinem Text ´What is it like to be a bat?´ darauf hingewiesen, dass es unmöglich ist, die Erlebniswelt eines anderen Lebewesens zu verstehen – somit ist auch die Idee einer ´Spiegelung´ schon immer fragwürdig gewesen.

    • Spiegelneutronen sind inzwischen mehr als ein Konzept, sie konnten in überraschend vielen Hirnbereichen nachgewiesen und ihre Aktivität aufgezeichnet werden. Scheinbar sind viele dieser Neuronen bei der Ausführung bestimmter Aktionen genauso aktiv, wie wenn die Aktion nur beobachtet wird, wobei diejenigen Neuronen, die die Motorik anstossen beim reinen Beobachten inhibiert sind. Wobei das aber nicht immer der Fall zu sein scheint wie die Gewohnheit vieler Beifahrer auf ihrem Beifahrersitz bei Gefahr zu bremsen zeigt.
      Hier eine Textstelle aus dem Artikel Researchers make first direct recording of mirror neurons in human brain

      Further, they showed that specific subsets of mirror cells increased their activity during the execution of an action but decreased their activity when an action was only being observed.

      “We hypothesize that the decreased activity from the cells when observing an action may be to inhibit the observer from automatically performing that same action,” said Mukamel, the study’s lead author. “Furthermore, this subset of mirror neurons may help us distinguish the actions of other people from our own actions.”

  2. »Deswegen behaupte ich: Die elektrischen Ersatzschaltbilder der Elektrophysiologie (s. Bild*) sind als wissenschaftliche Idee bereit für den Ruhestand.«

    Ich behaupte, dieses Ersatzschaltbild beschreibt eine fundamentale Eigenschaft biologischer Membranen und wird für alle Zeiten so oder ähnlich fortexistieren.

    Dass solche Ersatzschaltbilder sich nur auf elektrische Vorgänge beziehen, kann doch wohl kein Grund sein, sie in Ruhestand zu schicken. Was wäre denn die Alternative, wie könnte man die Potentialdifferenz über einer Zellmembran besser symbolisch darstellen?

    • Der Weg führt eigentlich über die Elektrodiffusion (Nernst-Planck-Gleichung) und man würde statt zum Beispiel einen Ohm’schen Widerstand zu definieren unter gewissen Annahmen (wie der, dass über der Membran ein konstantes elektrisches Feld anliegt) dann zu sogenannten Glodman-Hodgkin-Katz-Strömen kommen. Die Ohm’schen Strömr sind schlicht eine Näherung, deren zugrundeliegenden Annahmen nicht immer gelten.

      Auf diesem Weg wird aber immer noch einiges vereinfacht. Klar ist z.B., dass sich die Membran nur in sehr grober Näherung wie ein Kondensator (mit fester Kapazität) verhält. Der Weg führt nur über die Thermodynamik.

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