Was sind wie eigentlichen „Ursachen“ einer Migräneerkrankung?

Kopfschmerzen sind entweder eine eigenständige Erkrankung. Oder sie werden als sekundä­re Symptome anderer Erkrankungen sowie als Symptome bekannter ursächlicher Faktoren eingeteilt. Diese Klassifikation besitzt einen fundamentalen Fehler, wenn man nicht auch beides gleichzeitig zulässt. 

Es war ein Streit zwischen Europa und den USA [1]. Zwischen Kopfschmerzexperten der alten und neuen Welt galt der Medikamentenübergebrauch lange als umstrittenes Kriterium bei der Diagnose einer chronischen Migräne (CM). Die Frage war, ob der Medikamentenübergebrauch CM mit verursacht, ob er bloß eine Folge der CM ist oder ob Medikamentenübergebrauch ausschließlich eine neue Diagnose erfordert, nämlich die eines sekundären Kopfschmerzes als Folge des Medikamentenübergebrauchs, den Medikamentenübergebrauchskopfschmerz (MÜK).

Hinter dieser scheinbar speziellen Kontroverse steckt durchaus mehr. Eine fundamental andere Sicht auf Krankheitsursachen wird erkennbar.

Parallele Diagnosen

Schon immer durften auch zwei oder mehr Diagnosen parallel gegeben werden. Nur ob das in bestimmten Fällen sinnvoll ist, war umstritten. Gerade zwei Diagnosen, die ein Krankheitsbild sowohl in primäre als auch sekundäre einteilen, galten vielen als suspekt. Können Kopfschmerzen wirklich primär, nämlich CM, und zugleich sekundär, nämlich MÜK, sein?

Für US-amerikanische Experten war dies durchaus sinnvoll. Sie nahmen dabei keine Rücksicht auf die geltende internationale Klassifikation, die das lange ausschloss. Man könnte auch sagen, sie waren eher breit, eine fundamentale Entscheidung zu diskutieren. Viele, auch ich persönlich, fanden durch diese Offenheit in den USA mehr Ermutigung, Forschung über die Migränewelle voranzutreiben (zu der wir noch kommen werden).

Es ging nicht um die Diagnose(n) an sich, sondern um die daraus resultierende Behandlung. Zunächst waren auch nicht klinische Studien oder gar wissenschaftliche Fakten umstritten. Man war sich einerseits uneins, weil es Unterschiede in den Zielsetzungen der Therapie gab. In verschiedenen Ge­sundheitssystemen erhalten Ziele unterschiedliche Gewichtung [1,2]. Das allein würde die Kontroverse aber verkürzt darstellen.

Es ging und geht nämlich andererseits auch um die fundamentale Art der Diagnosegrundlage.

Symptom- oder Ätiologie-basiert

Noch ist die operationalisierte Diagnose der primären Kopfschmerzen allein Symptom-basiert. Als Grundlage der Therapie müsste die Diagnose hingegen auf der Krankheitsursache (Ätiologie) basieren. Jeder Experte weiß das, angekommen ist der Perspektivenwechsel trotzdem noch nicht.

Natürlich: solange die Ursachen noch nicht fassbar sind, solange primäre Kopfschmerzerkrankungen in diesem Sinne idiopathisch sind, ist eine Symptom-basierte Klassifikation zwangsläufig gegeben. Aber das kennzeichnet nur eine Übergangszeit bis die Ursachen aufgeklärt sind. Zwar kann der Begriff idiopathisch bestehen bleiben, denn in seiner zweiten Bedeutung benennt er eine eigenständige Erkrankung. Doch die Symptom-basierte Klassifikation wird hinfällig. Es sei denn, man hätte die Ursachen aufgeklärt, wäre aber noch nicht in der Lage, durch eine apparative Diagnostik die Krankheit individuell auch über entsprechende Biomarker nachzuweisen. Wobei wir apperative Diagnostik heute völlig neu denken müssen. Statt Biomarkern sind auch Psychomarker und Soziomarker vorstellbar, aber das würde nun vorgreifen.

An dieser Stelle stehen wir heute: Die Physiologie der Migränekrankheit als Grundlage ihrer Ätiologie kann in den nächsten fünf bis zehn Jahren weitgehend aufgeklärt sein. Ob gleichzeitig verlässliche Biomarker verfügbar sind, ist eine andere Frage.

Vor einigen Jahren schrieb ich hier: Wahrscheinlich werden wir eines Tages feststellen, dass die Erkrankung, die wir heute aufgrund einer Symptom-basierten Diagnose Migräne nennen, mehrere Ätiologien hat.1 Umgekehrt könnte ein und die selbe Ätiologie in Menschen mit unterschiedlichen genetischen und lebensgeschichtlichen Faktoren zu verschiedenen Kopfschmerzphäno­typen führen. Da man besser die Ursachen als die Symptome bekämpft, sollte hin zu einer Ätiologie-basierte Klassifikation gearbeitet werden, denn am Ende bestimmt die Klassifikation die Therapie. Doch auch hier muss man bedenken, dass Ursachen nicht immer verändert werden können, so dass der Fokus zumindest in der Therapie doch wieder auf die Symptome rutscht kann.

Kontroverse beigelegte, Unterschiede bleiben bestehen

Die Kontroverse über den Medikamentenübergebrauch wurde zumindest oberflächlich beigelegt und zwar schon in einer Revision der mittlerweile nicht mehr geltenden Richtlinie zur internationalen Klassifikation der Kopfschmerzkrankheiten (ICHD2) sowie in der nun neuen Richtlinie ICHD3-beta. Eine Doppeldiagnose CM und MÜK ist heute erlaubt und das ist gut so.

Eine neue Publikation weist auf einen physiologischen Mechanismus hin, der bei einen Triptanübergebrauch die Wahrscheinlichkeit einer Migränewelle erhöht [3]. Das kann sowohl mehr Migräneattacken mit Aura als auch ohne Aura bedeuten – ohne jetzt genau darauf eingehen zu können.

Mit diesem Beispiel wird der fundamentale Fehler einer Klassifikation offensichtlich, die Kopfschmerzen nicht ausschließlich nur dann als sekundäre Kopfschmerzen ansieht, wenn sie Symptome einer anderen Erkrankung sind, sondern selbst dann schon, wenn sie Folge bekannter ursächlicher Faktoren sind, wie einem Medikamentenübergebrauch – und keine Doppeldiagnose zuließ. Dies hätte in letzter Konsequenz die Diagnose der primären Kopfschmerzen hinfällig gemacht, wenn als „Ursachen“ alle äußere Einflussfaktoren aufgeklärt worden wären.

Was gilt als „Ursache“?

Ursachen steht in Anführungszeichen, denn die Bedeutung des Wortes spiegelt die unterschiedliche Herangehensweise wider. In den USA war man anscheinend viel weniger geneigt, sich als „Sklaven“ der eigenen Gene zu sehen und Gene damit als die einzig wirkliche Ursache zu akzeptieren. Stattdessen galt auch das Verhalten und dessen Wirkung auf die Aktivität der Gene und die Körperphysiologie als ursächlich. Dies ist gerade unter therapeutischen Gesichtspunkten ein zentraler Unterschied.

Denn die eigentliche Frage ist, ob nach Substanzentzug das Krankheitsbild sich wieder verbessert. In diesem Fall ist die zusätzliche Diagnose eines sekundären Kopfschmerzes auf jeden Fall richtig und kann je nach Zielsetzungen der Therapie auch vorrangig sein. Angesichts der europäischen Versorgungsland­schaften darf man sagen, sie muss vorrangig sein [1], was ich für den besseren Ansatz halte. Verbessert sich nach Substanzentzug das Krankheitsbild nicht, ist jedoch vor allem entscheidend, ob der Übergebrauch eine Migräneerkrankung verursacht hat oder eben nicht. Diese Möglichkeit externer Ursachen darf man nicht ausblenden, nur weil man unter gewissen Umständen der Diagnose eines sekundären Kopfschmerzes Vorrang geben möchte.

Der Medikamentenübergebrauch ist nur eine von vielfältigen Verhaltensweisen, Umwelt- und körperlichen Faktoren, die die Erkrankung an chronischer Migräne verursachen können und viele Verhaltensweisen, Umwelt- und körperlichen Faktoren verursachen in diesem Sinne wohl auch die episodische Migräne.

Zu hoffen ist, dass diese amerikanische Sichtweise auf Verhalten als Ursache ohne Anführungszeichen in Deutschland nicht dazu führt, Migräneerkrankte als selbstverantwortlich abzustempeln, sondern dass es Betroffene ermutigt, dem therapeutisch völlig wertlosen2 Argument, es seien nun einmal die Gene, zu trotzen und dass sie sich wieder trauen, das, was sie nach intensiver Beschäftigung mit ihrer Krankheit als ihre persönlichen Ursachen meinen erkannt zu haben, auch ihrem Arzt zu berichten und dieser wiederum offen genug ist, Therapieziele daraufhin neu auszurichten und diese Vermutungen über die Ursachen zu überprüfen.

 

Fußnoten

1 In dem Beitrag damals ging es um physiologische Metaphern der Krankheitsursache, was in der aktuellen Serie “Erklärt Hyperaktivität Migräne?” (Teil 1, Teil 2, Teil 3) wieder aufgenommen wurde ebenso wie die Kritik an den Genen als alleinige Ursache. Damals bezog sich der Satz auf die Unterscheidung der Migräne mit und ohne Aura.  Das bei Migräne mit und ohne Aura unterschiedliche Ätiologie vorliegen, halte ich auch heute noch für wahrscheinlich. Richtig ist aber auch, dass meine eigene Forschung für beide Unterformen die Migränewelle „Spreading Depression“ (SD) als die Ursache der Kopfschmerzen (als Symptome) ansieht. Da jedoch die SD nicht die eigentliche Ursache der Krankheit sein muss sondern wahrscheinlich auch nur Folge ist, bleibt die Frage der Ursache der Migräneerkrankung offen.

2 Man könnte hier eine „bisher“ einfügen. Denn sog. genomweite Assoziationsstudien (GWAS) könnten die Erfolgsaussichten spezifischer Therapieformen zukünftig bestimmen.

Literatur

[1] Heinze, A. (2011). Chronische Migräne und Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch. Der Schmerz, 25(5), 493-500. (Link)

[2] Lipton, R. B., & Silberstein, S. D. (2015). Episodic and Chronic Migraine Headache: Breaking Down Barriers to Optimal Treatment and Prevention. Headache: The Journal of Head and Face Pain, 55(S2), 103-122. (Link open access)

[3] Becerra L, Bishop J, Barmettler G, Xie JY, Navratilova E, Porreca F, Borsook D., Triptans Disrupt Brain Networks and Promote Stress-induced CSD-like Responses in Cortical and Subcortical Areas., J Neurophysiol. 2015 Oct 21 (Link)

 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

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