Verschollen geglaubtes Manuskript des Nobelpreisträgers Alan Hodgkin

HodgkinMS1page Es wird einwenig mühselig doch die Kopie einer Kopie reicht, um die Handschrift aus dem Jahr 1959 zu transkribieren.  Es ist eine digitale Kopie einer alten Fotokopie. Nun liegt sie auf meiner Festplatte. Das Original wird entweder irgendwo in den Archiven der amerikanischen Gesundheitsbehörde “National Institutes of Health” (NIH) Staub sammeln oder wo immer der Nachlass des Empfängers, Wade H. Marshall, verwaltet wird.

Lange fürchtete ich jede Kopie und das Original des bis heute noch unveröffentlichten Manuskriptes seien für immer verschollen. Der Autor ist der Nobelpreistärger Alan Lloyd Hodgkin (1914 – 1998). Seinen Preis bekam er im Jahr 1963 zusammen mit Andrew Huxley and John Eccles für ein mathematisches Modell und Messungen elektrischer Erregung in einem einzelnen Nerven.

Das unveröffentlichte Manuskript beschreibt ebenfalls ein mathematisches Modell für ein sehr ähnliches Phänomen des Gehirns, nämlich elektro-metabolische Erregung im Geflecht vieler Nerven. Ein Gewebe, das für meinen Blog Pate stand, der grauen Substanz. Und ein Phänomen, das mich in über 20 Jahre Forschung begleitet, die Spreading Depression.

Dieses Manuskript beschrieb erstmals quantitativ diese extrem langsame Form der Erregung im Gehirn. Die Langsamkeit besiegelte für lange Zeit das Schicksal der Spreading Depression. Sie ist viel zu langsam, so dass die ausgelösten hirnelektrischen Gleichstrom-Potenziale elektroenzephalographisch von den ebensfalls langsamen Artefakten nicht zu trennen sind. Die metabolische Aktivität wiederum konnte erst im 21. Jahrhundert präzise räumlich vermessen werden.

Hodgkin konnte die klinische Bedeutung der Spreading Depression damals zwar schon erkennen – so z.B. stellt eine Veröffentlichung 1958 den Kontext zur Migräne her, der Autor war Peter M. Milner, ein Mitarbeiter von Donald Hebb. Doch diese und andere heute etablierte Bedeutungen in Zusammenhang mit Schlaganfall waren nichtsdestotrotz damals nur Spekulation. Vielleicht auch deswegen hat Hodgkin sein Manuskript nie selber veröffentlicht.

Heute wissen wir, Hodking  beschrieb in diesem Manuskript quantitativ richtig das wichtigste akut pathophysiologische Phänomen des Hirns. Und das mit mathematischen Methoden, die Huxley entwickelte – auf dessen Erwähnung er im Manuskript explizit wert legt.

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Note

The mathematical method used here is due to Huxley and his name should be quoted if anyone finds these results of sufficient interest to mention in print.

Der Inhalt dieses Manuskript wurde bis heute nur über Dritte veröffentlicht und selbst diese Veröffentlichungen sind leider nur noch sehr schwer zugänglich. Die einzig halbwegs aktuelle Publikation stammt von mir aus dem Jahr 2004, veröffentlicht in der Zeitschrift Annalen der Physik. Ich kannte damals nur ein Buchkapitel aus dem Jahr 1974, in dem das mathematische Modell jedoch ungefähr so ausführlich beschrieben wurde wie im Original.

Wir würden heute gerne das Original veröffentlichen. Es ist ein bedeutendes Zeitdokument der Geschichte der Gehirnforschung.

Zunächst geht damit die Suche nach dem Original los. Denn – so die Hoffnung – es könnten noch nachträglich eingefügte handschriftliche Bemerkungen existieren.

Die Suche startet am Arbeitsplatz von Marshall, dem Hodgkin das Manuskript zusandte. Er war am National Institute of Mental Health (NIMH) zunächst Research Fellow bevor er dann 1954 Direktor des neu gegründeten Labor für Neurophysiologie am NIMH wurde. Vor wenigen Wochen erst traf ich auf einer Tagung den Programmdirektor (Program Chief) für Theoretical and Computational Neuroscience am NIMH, den ich schon viele Jahre kenne. Vielleicht kann er helfen.

Abgesehen von dem Auffinden des Originalmanuskripts muss auch noch geklärt werden, wie es sich mit den Schutzrechten verhält. Das ist mir noch unklar. Laut Wikipedia hatte Hodgkin drei Töchter und einen Sohn. Allerdings ist keineswegs klar, ob der wissenschaftliche Nachlass und dessen weiterer Verwertung überhaupt bei seinen Nachfahren liegt. Aufgrund der Wissenschaftsfreiheit könnten andere Gegebenheiten vorrangig zu beachten sein (s. hier). In den USA ist die Lage sicher nochmal anders als in Deutschland. Dort wird die Wissenschaftsfreiheit meines Wissens aus der freien Meinungsäußerung, d.h. aus der U.S. Verfassung abgeleitet.

Für mich ist das Manuskript einer der Ursprünge meines Forschungsfeldes. Deswegen würde ich es sehr gerne sehen, wenn das Manuskript bald öffentlich zugänglich wird.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

6 Kommentare

  1. Dieser unendlich langsame Verlauf der Erregung im Gehirn… kann der auch blitzschnell gehen – so innerhalb einer Sekunde?
    Sodass sich innerhalb dieser Sekunde dann das ganze elektrische Potenzial schnell aufbaut und gleichzeitig freisetzt?

    Und ist das dann ein Schlaganfall? (auch ohne Blutung ins Gewebe).

      • Äh ja, die Tage. Schade.

        Was ich da oben beschrieb, ist mir passiert und zwar mehrfach. Das es irgendeine “Entladung” gewesen war, ist mir ziemlich sicher. Auf dieses Symptom folgte ein fast vollständiger Kontrollverlust über den Körper mit drohender Ohnmacht – für ein Paar Sekunden.
        Der eine oder andere Arzt diagnostizierte lapidar, dass es wohl ein Blutsturz gewesen sei – da die ersten Male sich direkt nach dem Aufstehen ereigneten. Darauf aber auch über den Tag verteilt ohne dass eine Kreislaufbeanspruchung abrupt anstieg.

        • Die Langsamkeit der Spreading Depression bezieht sich auf deren Geschwindigkeit. Man könnte also fragen, ob sich ähnliches auch innerhalb einer Sekunde über das gesamte Gehirn ausbreiten kann. Genau das Entladung (lokal) und Ausbreitung muss man unterscheiden. Bei der Entladung muss man noch mal unterscheiden, ob nur das Potential sich depolarisiert, oder um die chemischen Gradienten abflachen, beides könnte man mit “entladen” meinen, letzteres ist der zentrale Punkte, der bei SD geschieht.

          • Ich schätze mal, es hat was mit der Polarisierung zu tun. Wenn zwei Polarisationszustände gegenseitig wirken und nicht stabil halten können, was würde wohl passieren?
            Das Phänomen beginnt immer in der rechten Hirnhälfte etwa tief im Stammhirn oder etwas darüber und breitet sich von da aus über das ganze Gehirn aus – die “Entladung” allerdings offenbar mit der Ausbreitung abschwächend. Es scheint eine Ursprungsentladung zu sein, die weitere Bereiche durch die große Entladung “mitreisst”; “ansteckt”; … oder so ähnlich. Die Unterscheidung zwischen Entladung und Ausbreitung sei demnach in der Systematik: Entladung regt benachbarte Bereiche (Hardware) zur Entladung an. Was ja nichts ungewöhnliches ist. Die Abschwächung daher, weil Verluste entstehen.

            Chemische Abläufe schätze ich nicht derart schnell ein.

            Es sind noch weitere Bedingungen für die Symptomatik bekannt – betreffend der Umgebung.

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