Theorie hat Konnotation wilde Spekulation

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Auf einen KaffeeAuf einen Kaffee.

Es ist zur Unsitte geworden, Theorien nachträglich aufzustellen. So geht das nicht. Erst die Theorie! Sonst verliert das Primat des Experiments seine Funktion. Als Theoretiker wünsche ich mir, das diese Reihenfolge wertgeschätzt wird und nicht dieses geringschätzige, das sei ja nur Theorie – mit der Konnotation wilde Spekulation, in den Gesichtern und dahinter zu sehen, wenn Daten diese nicht belegen sondern nur Argumente, z.B. Symmetrieargumente.

So dachte ich als junger Student, vor allem geprägt durch die Entwicklungen in der Relativitätstheorie und Quantenmechanik, die man zunächst im Studium nachvollzieht. Als ich im Bereich der Mathematischen Biologie und Statistischen Physik meine ersten Erfahrungen sammelte, war ich überrascht, wie oft dort Theorien passgenau um die experimentellen Daten aufgestellt werden.

Leo Kadanoff, der unverdächtig einer Geringschätzung von Vorhersagen ist, begründet dies jedoch:*

Die Welt der Vielteilchensysteme, die im Schwerpunkt der statistischen Theorie liegt, ist so vielfältig und reich, dass niemand den Reichtum, der sich in ihr verbirgt, nur durch reines Denken oder reine Theorie sich vorstellen kann. Ohne Experiment, würde Supraleitung wahrscheinlich bis zum heutigen Tag unentdeckt bleiben. Einmal gesehen, konnten die Theoretiker über das, was beobachtet wurde, nachdenken und am Ende, vieles erklären, was die Experimentatoren entdeckt hatten. Aber das Experiment musste an erster Stelle stehen um die wichtigsten Phänomene aufzudecken.

Als Teilchen darf man hier auch Gehirnzellen verstehen und folglich ist das Gehirn ein Vielteilchensystem. Für die theoretische Gehirnforschung sehe ich heute eine Tendenz passend zur Fleckologie (engl. Blobology): den Verlust der methodischen Strenge fälschlich durch obiges Zitat begründet. In der Welt der Vielteilchensysteme gibt es eben auch unendlich viele Flecken und wo diese statt Daten sind, gibt es darunter nichts aufzudecken.

 

 

Fußnote

*In: Leo P. Kadanoff, Statistical Physics, Statistic, Dynamics and Renormalization, World Scientific, Signapore (2000)

Eigene Übersetzung, engl. Original:

“The world of many particle systems, which is the primary focus of statistical theory, is so diverse and rich that nobody could guess the richness that it contains using just pure thought or pure theory. Without experiment, superconductivity would probably remain undiscovered to this day. Once seen, the theorists could think about what had been observed and, in the end, explain much of what the experimentalists had discovered. But, experiment had to come first to expose the main phenomena.”

 

© 2012, Markus A. Dahlem

 

Bildquelle

TU-Tasse, Devotionalie aus dem TU Berlin Shop mit Explosionszeichnung.

Avatar-Foto

Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

3 Kommentare

  1. Primat

    “Erst die Theorie! Sonst verliert das Primat des Experiments seine Funktion.”

    Primat von lat. primus, das Erste. (Wikipedia)

    Erst die Theorie. Erst das Experiment.
    Oder:
    Erst das Experiment. Erst die Theorie.

    Vermutlich egal. Die eine wissenschaftliche Methode hat es nicht gegeben und wird es nicht geben.

    Anything Goes! (Feyerabend)

  2. Schönheit der Theorie, Fratze der Fakten

    Mit dem “Primat des Experiments” ist gemeint, dass die endgültige Entscheidung das Experiment trifft. Daten stehen voran und verwerfen ggf. die innere Konsistenz (und Schönheit) der Theorie.

    Wenn aber nur Daten in einer Theorie abgebildet werden und diese keinerlei Vorhersagekraft hat, ist sie weitgehend (nicht völlig) wertlos.

    Kadanoff wollte nur darauf Hinweisen, dass die wissenschaftliche Methode in der Statistischen Physik einen iterativen Charakter bekommt. Die Methode bleibt.

Schreibe einen Kommentar