Schweinegrippe und Epilepsie

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

In meinem letzten Beitrag ging es um die Analogie zwischen der Ausbreitung der Beulenpest in Europa im Mittelalter und der Ausbreitung von Migränewellen in der Großhirnrinde. Beides geschieht in Form von Erregungswellen. Pandemien und Hirnpathologien können sich auch schlagartig ausbreiten. Die Schweinegrippe und Epilepsie sind Beispiele dafür.

Dieser Beitrag ist ein Nachtrag zum Blog Europa, Fußballstadion, Großhirnrinde.

Es kam die Frage auf, warum breitet sich die Schweinegrippe heute schneller aus, als die Beulenpest im Mittelalter? Wenn Sie den vorangegangen Beitrag gelesen haben, wissen Sie, dass Menschen heute mit dem Flugzeug fliegen, im Mittelalter aber höchstens mal mit einem Katapult über Stadtmauern geschleudert wurden. Das macht einen Unterschied für die Ausbreitung einer Pandemie.

Wie überträgt sich diese Erkenntnis auf das Hirn? Darum geht, denn solche Vergleiche führen oft durch den Perspektivenwechsel zu neuen Fragen. Fragen, die ich mir sonst so nicht gestellt hätte.

Auf das Gehirn übertragen bedeutet der Vergleich der Ausbreitung der Beulenpest mit der der Schweinegrippe, dass wir neben den molekularen und zellulären Mechanismen eines Erregungszustandes des Gehirns auch studieren müssen, wie diese Erregung von Zellen im Nervengewebe weitergegeben wird. Nur so können wir die Ausbreitung von pathologischen Zuständen im Gehirn verstehen.

Die Kommunikationswege im Nervengewebe sind komplex. Bekannt ist dass neuronale Netzwerk, also die Verschaltung der Nervenzellen über Synapsen zu einem Netz. In einem Kommentar zum vorherigen Beitrag wurde genau danach gefragt. Dieser Kommunikationsweg wird als wiring transmission bezeichnet. Er ist grob vergleichbar mit unserem weltweiten Flugliniennetz.

Solche langweitreichigen Verbindungen sind ein Grund warum sich Pandemien heute schneller ausbreiten als im Mittelalter. Analog dazu kann sich in einem neuronalen Netzwerk eine pathologische Erregung nahezu schlagartig durch das neuronale Netzwerk im Gehirn ausbreiten. Ein Beispiel wäre die Aktivität in einem epileptischen Herd (fokaler Anfall), die sich schlagartig zu einem generalisierten Anfall ausbreiten kann.

Schlagartig meint hier, dass es nicht zu einer geordnet wandernden Erregungswelle kommt, sondern viele räumlich auseinanderliegende Zentren gleichzeitig betroffen sein können und die Erregung so zu einem globalen Phenomän wird.

Oft bleibt zum Glück die Erregung lokal begrenzt, also auf den Herd (Fokus) beschränkt. Die molekularen und zellulären Mechanismen liefern uns keine ausreichenden Antworten, warum dies so ist. Netzwerkeigenschaften bestimmen dieses Verhalten.

Dieser Nachtrag soll den Blogbeitrag Europa, Fußballstadion, Großhirnrinde abrunden.  Daher nun kurz noch zu der Übertragung im Fall der dort angesprochenen Migränewellen. Neben der wiring transmission gibt es im Gehirn weitere Kommunikationswege, die über den extrazellulären Raum mittels Diffusion führen. Sie werden auch volume transmission genannt. Von einer Zelle zur Nachbarzelle, wie bei der La Ola im Fußballstadion, findet hier ein Austausch statt. Erregungszustände im Hirn können große Strecken mit Diffusion nur sehr langsam überbrücken.  Dies geschieht bei den Migränewellen. Sie wandern mit nur wenigen Millimetern pro Minute über die Großhirnrinde, vergleichbar mit der sehr langsamen aber geordneten Ausbreitung der Beulenpest.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

3 Kommentare

  1. Vergleiche

    Lieber Markus Dahlem,
    ich finde ihre Vergleiche beachtlich, aber bei genauer Betrachtung auch fraglich.
    Die verschiedene Ausbreitung der Pest und der Schweinegrippe nur auf unterschiedliche Verkehrsgeschwindigkeiten zu reduzieren ist eindimensional vereinfacht und dem komplexen Geschehen nicht adäquat.
    Der wichtigste Faktor bei der Ausbreitung von Krankheiten ist immer das Immunsystem, das nicht nur individuell, sondern auch kollektiv geschwächt sein kann, z.B. durch Hunger, Kriege, Katastrophen…
    Zum Beispiel die Grippeepidemie von 1918 am Ende des 1.Weltkrieges, da lag die Bevölkerung von Europa total geschwächt am Boden, ihr Immunsystem ebenso.
    Im Mittelalter gab es wohl ähnlich günstige Bedingungen für die Pest.

    Was die Schweinegrippe betrifft, hat sie sich bisher in Europa nicht sehr stark gezeigt, von einer Pandemie ist keine Rede mehr. Unser Immunsystem ist im Wohlstand nicht kollektiv geschwächt, zusätzlich kann es durch Impfungen gestärkt werden, da hat das Virus es hier schwerer als in Mexiko, sich gefährlich auszubreiten.

    Nun zum Vergleich der Seuchen mit den gestörten Hirnprozessen bei der Epilepsie und der Migräne: Die corticalen Neurone müssen immer erregbar (zur Bildung von Aktionspotentialen) sein, aber zur Informationsverarbeitung dürfen sie nur selektiv in aktuell ausgewählten Ensembles aktiv sein, niemals alle zugleich.
    Weil im corticalen Filz praktisch alle Zellen miteinander in Verbindung stehen würde sich eine einzige Erregung schnell wie ein Buschfeuer ausbreiten, wenn nicht eine Gegenregulation tätig wäre, die solche generalisierte Ausbreitung verhindert. Diese hemmende Gegenregulation ist offensichtlich bei der Epilepsie fokal oder global geschwächt, sodaß unkontrollierte generalisierte Erregungen stattfinden.
    Das Gegenteil, eine zu starke hemmende Gegenregulation ist bei den Parkinson-Symptomen wirksam, sichtbar in der gehemmten Motorik.
    Diese neurophysiologische Gegenregulation ist das Ergebnis der rhythmischen „unspezifischen“ Erregungen, die den Pyramidenzellen synchron vom thalamischen Teil der Formatio reticularis (Schlaf-Wach-System) vermittelt werden.
    Als Beweis für diese These können zunächst die „Hirnschrittmacher“ dienen, die mit spezifischen rhythmischen Impulsen im Thalamus den Cortex zur normalen Tätigkeit anregen.
    Der Vergleich der pathologischen Erregungsausbreitung im Gehirn mit der Pandemie zeigt mir vor allem die Bedeutung der gestörten Gegenregulationen, des Immunsystems so wie des Aufsteigenden Retikulären Aktivierungs-Systems (ARAS).

    Mit Gruß
    S.R.

  2. cum grano salis

    Lieber Herr Rehm,

    ich stimme Ihnen zu, die Sache ist komplizierter. Wobei ich auf entsprechend vorsichtige Formulierungen daher sehr achte, um zumindest nichts Falsches zu schreiben sondern zur einiges außen vor zu lassen.

    Für mich ist die Frage, was meine Blogbeiträge leisten können?

    Ein Beitrag kann sicher keinen Überblickartikel ersetzen, wie er in der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft geschrieben werden könnte.

    Ich schreibe meinen Blog meist als Zweitverwertung. Das ist zeitlich leider sonst anders gar nicht machbar.

    Um beim Beispiel “Europa, Fußballstadion, Großhirnrinde” und dessen Fortsetzung zu bleiben: hier schrieb ich Gedanken auf, die ich innerhalb eines Fachvortrages nutze werde, um in eine Thematik einzuleiten. Damit will ich mein Publikum in eine ganz bestimmte Gedankenecke lenken. Das dabei die Vergleiche immer (an andere Stelle) auch hinken können, nehme ich in Kauf.

    So muss der Leser also manchen Vergleich oder gar ganze Beiträge cum grano salis nehmen. Doch schreibe ich immer aus erster Hand Berichte aus meiner aktuellen Forschung.

    Was ich hier schreibe, können Sie also eventuell auch bei meinem nächsten Fachvortrag hören oder in meiner Vorlesung. Oder ich kopiere Teile eines nächsten Forschungsantrag, Abschlussberichtes, oder aus meinem “Research Statement” einer neuen Bewerbung.

    Sie gucken mir als als Wissenschaftler also direkt auf die Finger. Genau deswegen bin ich für Rückmeldungen dankbar.

    In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre berechtigten Einwände. Aber inhaltlich kann und will ich jetzt nicht im Detail darauf eingehen.

    Beste Grüße
    Markus Dahlem

  3. Schweinegrippe

    Tut mir leid, in vielen Teilen vertsehe ih den Text nicht; wahrscheinlich bin ich zu sehr Laie..
    Heißt das im Kern, dass der Erregungszustand im Gehirn dafür mitverantwortlich ist, ob man sich ansteckt bzw. ob sich eine Pandemie ausbreitet? Was ist eine “pathologische”, eine abnornme(?) Erregung?”
    Sind also Angst oder vielleicht sogar nur zufällige Gehirnerregunszustände mitverantwortlich dafür, dass mam sich anstecken kann?

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