Schmerzen ohne Ursache

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Schmerz ist nicht immer Folge einer (potenziellen) Gewebeschädigung. In der Schmerzleitung innewohnende, dynamische Eigenschaften können sich verselbstständigen Kennzeichen einer dynamischen Krankheit.

„Vorsintflutliche Symptomtherapie“ sei das Stechen spitzer Elektroden ins Gehirn. Wenn selbst der gütige Gott die Sintflut schickt, sollte vielleicht ich und mit mir gleich die gesamte Forschungsgemeinschaft  der en passant eine gänzlich falsche Zielsetzung vorgeworfen wurde* diese „Bastlermentalität“, mit der die zunehmenden Möglichkeiten einer gezielten technischen Manipulation des Gehirns verfolgt werden, fallen lassen, um mich der Ursachenforschung zu widmen.

Diesen Kommentar zum letzten Beitrag „Zukunft der Kopfschmerzen“ will ich dankend aufgreifen (siehe Diskussion über das folgende wollte ich ohnehin schreiben, da kam die Kritik gerade recht).

Wo entsteht Schmerz?

Die normale Schmerzleitung beginnt bei den Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) und läuft weiter über periphere Nerven ins zentrale Nervesystem (ZNS). Das ist nozizeptiver Schmerz. Zentrale neuropathische Schmerzen entstehen dagegen allein im ZNS durch Schädigungen (Läsionen) oder neuronale Funktionsstörungen (Dysfunktionen). Dass Elektroden im Hirn dort die Ursache für zentrale Schmerzen heimsuchen, wäre daher eigentlich nicht abwegig zu denken, oder? Bei Bauchschmerzen würde ich den oben genannten Vorwurf verstehen. Damit ist die Kritik gleichwohl nicht vom Tisch.

Vielleicht wird der zentrale Schmerz im Hirn von einem anderen Organsystem verursacht. Bei rheumatischen Gelenkschmerzen (Arthrose) zum Beispiel entsteht der Schmerz wohl nicht allein durch entzündungshemmende Mediatoren (nozizeptiver Schmerz) sondern kann sich auch als zentraler Schmerz manifestieren [1].  Oder vielleicht wird der zentrale Schmerz durch Läsionen oder Dysfunktionen des Nervensystems genetisch verursacht oder durch Schlaganfall. Man könnte also vermuten, dass der eigentlichen Ursache mit Elektroden im Gehirn selbst bei zentralen Schmerz so oder so nicht beizukommen ist. Der Vorwurf ist also durchaus berechtigt.

Ursache ist keine Sache.

Schmerz immer nur als Folge sehen zu wollen, ist das eigentliche Problem. Dem liegt oberflächlich eine Descartes’sche Vorstellung zu Grunde, Schmerz als Reaktion auf eine tatsächliche oder potenzielle Gewebeschädigung zu begreifen. Tiefer betrachtet ist das Problem daher eine eingeschränkte Vorstellung der Bedeutung von „Ursache“ als eine dingliche Ur-Sache am Anfang einer Kausalkette, die man wie einen Schmetterling greifen kann.

Physik des Schmerzes

Schmerz: Strafe, Reaktion, Dynamik.

Descartes vertrieb gottesfürchtige Vorstellungen des Schmerzes als Strafe mit der Spezifitätshypothese (specificity theory), die Schmerz als das Produkt eines einfachen Reiz-Reaktions-Mechanismus sah. Er schüttete damit das Kind mit dem heißen Bade aus, um im Bild zu bleiben. Seine Theorie bröckelte Mitte des 20ten Jahrhundert. Aktuell erklärt die „Neuromatrix Theorie“ von Melzack [2] (eine Variante wird auch als Schmerzmatrix bezeichnet) den einfachen Zusammenhang zwischen Schädigung und Schmerz als alleinige Erklärung für nichtig. Natürlich ohne wieder Gott oder andere übernatürliche Mächte in Spiel zubringen.

Immanente Ursache, äußere Auslöser.

Schmerz ohne Ursache? Nicht ganz. Wer wissen will, was die Ursache einer Krankheit ist, der muss den Mechanismus kennen. Bei Mechanismus denke ich gleich an Mechanik und deren Bewegungsgleichungen, die ich natürlich nicht nur für mechanische sondern auch organische Systeme aufstellen kann. Da Bewegungsgleichungen in den Lebenswissenschaften so ungefähr das Gleiche wie übernatürliche Mächte sind, hebe ich mir das für einen folgenden Beitrag auf.

Wie das Bild oben suggeriert, spielen „Auslöser“ eine Rolle, in diesem Beispiel durch eine hohe Sensibilität gegenüber den Anfangsbedingungen gegeben. Es geht in die Richtung, die Alex in der Diskussion zu den obigen Einwänden lyrisch einschlägt:

Ich glaube, Migräne ist etwas, das erst auf dem Weg zwischen Brasilien und der Westküste entsteht.

Das etwas auf dem Weg entsteht, trifft es sehr gut. Ursachen können systemimmanent sein. Äußere Einflüsse können zwar Auslöser eines bestimmten Ablaufs von Ereignissen sein, doch dieser Ablauf selbst ist durch die Dynamik des Systems vorgegeben mit innewohnenden Eigenschaften, die auch pathologisch sein können (wie der rote Pfad). Solch ein Verhalten ist folglich „pathologischer“ Schmerz und nicht der oben erwähnte normale nozizeptive Schmerz.

Inwiefern dieses Konzept der pathologischen Schmerzen zutrifft auf primäre Kopfschmerzen, insbesondere auf Migräne, Cluster-Kopfschmerz oder auf trigeminoautonome Kopfschmerzen, bei denen in der ein oder anderen Form invasive und nicht-invasive neuromodulierende Verfahren (also eine technische Manipulation des Gehirns) eingesetzt werden, ist unklar. Insofern darf man diese Techniken heute zumindest in einem Sinne noch als vorsintflutlich bezeichnen. Es ist aber nicht die Hardware. Es ist das Stimulationsverfahren, die Software der Hirnschrittmacher, die bisher rein empirisch bestimmt wird und nicht modellbasiert optimiert auf Basis einer mathematischen Kontrolltheorie.

Neuromodulierende Verfahren können folglich Ursachentherapie sein. Um diese für dynamische Hirnkrankheiten zu entwicklen, brauchen wir neben der klinischen Forschung weitere Impulse aus den theoretischen Disziplinen wie der Mathematik und auch aus der Philosophie, denn ethtische Fragen werden hier unweigerlich mit eröffnet.

 

Fußnote

* Vgl. Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, TA Hirnforschung (2008) [pdf]. Dort wird die Einschätzung des Deutschen Bundestag über die technischen Manipulationen des Gehirns wiedergegeben.

 

Literatur

[1] Sofat N, Ejindu V, Kiely P. What makes osteoarthritis painful? The evidence for local and central pain processing. Rheumatology50:2157-65. Review. (2011)

[2] Melzack R. Pain–an overview. Acta Anaesthesiol Scand.  43(9):880-4. Review.(1999) und Melzack R. Pain and the neuromatrix in the brain. J Dent Educ.  65:1378-82. (2001)

 

tl;dr Schmerz nur als Folge einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung zu sehen, liegt eine veraltete Descartes’sche Vorstellung zu Grunde. Tiefer betrachtet ist das Problem eine eingeschränkte Vorstellung der Bedeutung von „Ursache“ als eine dingliche Ur-Sache am Anfangs einer Kausalkette. Bei Schmerzen können Ursachen systemimmanent sein und sind zwar durch kurzfristige äußere Einflüssen ausgelöst aber nicht verursacht. Neuromodulierende Verfahren (kurz: Hirnschrittmacher) könnten in Zukunft bei solch dynamischen Krankheiten Schmerzen unterbinden.

 

© 2012, Markus A. Dahlem

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

9 Kommentare

  1. Ist Klugheit ein laute Erscheinung?

    “Es ist das Stimulationsverfahren, die Software der Hirnschrittmacher, die bisher rein empirisch bestimmt wird und nicht modellbasiert optimiert auf Basis einer mathematischen Kontrolltheorie.”

    Wie läßt sich eine Software, basierend auf einer “mathematische Kontrolltheorie” in ihrem ganzen Prunk optimieren, wenn das dem Modell zugrundeliegende Objekt (dein Gehirn) nicht bereits auf empirischen Wege etwas von sich preisgegeben hätte?

    “Neuromodulierende Verfahren können folglich Ursachentherapie sein.” Das folgt allein aus der Behauptung, daß ein gutes mathematisches Modell beliebig nahe an ein reales Objekt heranreichen kann, so komplex dieses auch in seiner Erscheinung sein mag. “Und sei es ein Gehirn: wir können zwar nicht das Ganze, aber fast, und sicher bald, jedes Detail modellieren und also modulieren und also Ursachen therapieren oder gar ganz eigene Ursachen schöpfen.”

    “Um diese [Verfahren] für dynamische Hirnkrankheiten zu entwickeln, brauchen wir neben der klinischen Forschung weitere Impulse aus den theoretischen Disziplinen wie der Mathematik – und auch aus der Philosophie, denn ethtische Fragen werden hier unweigerlich mit eröffnet.”

    To be honest, das ist vage und klingt schon fast nach Politiker. Der “gütige Gott”, ließe man IHN noch zu Wort kommen, würde vielleicht mahnend bemerken, daß die eifrig bastelnden Menschen gar nicht so genau wissen, was sie da eigentlich tun. Die Sintflut ist die Schaffenskraft ohne Vorbehalt – und der Mensch selbst ist mit dieser Bedrohung gemeint. Diese Exegese mutet nicht so unwahrscheinlich an, betrachtet man den hochmütigen brute-force-Tunnelblick der Wissenschaft in die Welt der ungezählten Erscheinungen.

    Ohne pathetisch werden zu wollen.

  2. Kontrolltheorie

    Zum vagen, nach Politikern klingen (echt fies) Abschluss: Ich will versuchen die Dinge zu erklären, denn nur dann können wir darüber gut reden. Das Argument der “Symptomtherapie” war falsch und warum das falsch ist, sollte erklärt werden. Da dies keine Ende der Diskussion ist sondern der Anfang einer Diskussion, muss der Abschluss offen sein.

    Kontrolltheorie: Die funktioniert selbst bei schlechten gar falschen Modellen, denn es sind im wesentlichen Filter-Methoden. Dass empirische Erkenntnisse in diese Modelle zuvor eingingen, ist natürlich richtig.

  3. Nachtrag

    Die Aussage: “… selbst bei schlechten gar falschen Modellen”
    schränke ich hiermit ein.

    Wenn das mathematische Modell schlicht völlig falsch ist, dann
    ist natürlich nichts gewonnen.

    Neben klassischen Daten-Filtern (Signalanalyse) gibt es das Kalman-Filter, welches auf einer Modellierung der Bewegungsgleichungen basiert. Nun sind solche Modelle immer mit Einschränkungen versehen, bei mechanischen System fehlt mal die Reibung ganz oder wird approximiert, bei physiologischen Systemen sind die Bewegungsgleichungen noch weiter reduziert, bis hin zu der Festellung, dass es am ende sogar “nur” ein phänomenologisches Modell ist. “Falsch” sollte es trotzdem nicht sein.

  4. structural modelling

    Wenn ich Dich richtig verstehe, ist in Bezug auf die Bedeutung von “Ursache” bei der Schmerzforschung das Konzept des counterfactual framework nach Lewis nicht gut anwendbar. Umso mehr denke ich, kann hier der Ansatz des structural modelling sinnvoll sein. Das sieht zwar nach aussen fuer den Laien als Symptombekaempfung aus, ist es aber keineswegs. Es ist auch eine Art von Ursachenforschung, die sich aber leider schwerer erklaeren laesst.

  5. Ich weigere mich noch immer anzuerkennen, das es etwa ein Billiard gibt, worauf sich ein hindernis befindet. Mich wundert auch, dass er ein solches Beispiel heranzieht und dann davon ausgeht, dass nur der rote Pfad (der einen Kugel) pathologisch ist und nicht beide Kugeln eine pathologische Bahn aufweisen sollen. Immerhin kollidieren beide Kugeln mit dem Hindernis. Und das Hindernis ist innerhalb des Billiard (so wie ich es kenne) “krankhaft”, nicht die Kugelbahnen.

    Und so kann ich auch nicht akzeptieren, dass im Laufe des Lebens plötzlich auftretene Kopfschmerzen nicht einer (krankhaften) Ursache entspringen, sondern wahrhaftig in der Dynamik pathologisch unauffällig seien. Offenbar habe ich eine andere Bedeutung von “krankheit” und “Krankhaft”, als der Rest der Welt. Und so wird es bleiben, bis ich hier die ganzen Bedingungen kenne (denn ich kenne und verstehe noch nicht alle den Wissenschaftler diesbezüglich beeindruckenden Bedingungen) und darin etwas entdecke, was man “Ursache” nennen kann – die es geben muß. Leider klärt mich der Folgebeitrag (dieser hier oben) nicht auf, weshalb die Wissenschaft den Kopfschmerz nicht als pathologisch ansieht und eine Ursache unterstellt.

    Nach der These des Authors soll also ein Tor gefallen, aber niemand geschossen haben, ein Feuer ausgebrochen, aber niemand oder nichts es entzündet haben, ein Baum umgefallen sein, aber niemand oder nichts ihn umgestoßen haben… Und nur, weil zwischen Brasilien und irgend einer Westküste kein Land in Sicht sei, muß ich diese Aussage nicht mit der Situation der auftretenen Schmerzen in Beziehung setzen (können/wollen). Es ist nicht notwendig, das man das Problem poetisch oder mathematisch verkompliziert, damit jemand davon beeindruckt ist und trotzdem ohne Erklärung zurückbleibt.

    Habe ich das oben richtig verstanden: Man solle sich die Elektrode in das zentrale Nervensystem (ZNS) implantieren lassen? Ist sich der Author dieser Aussage bewusst, was das ZNS für den Menschen darstellt?

  6. zwei Fragen

    Soll es in der Natur nur Billard-Tische geben, mit perfekten rechtwinkligen Wänden?

    Worin liegt der Unterschied, im ZNS mit Pharmazie oder mit Elektroden einzugreifen?

    Nur zwei Fragen zurück.

    Ich antworte aber gerne nochmal mit einem Beitrag oder zwei.

  7. Kopfschmerzen haben bei mir auch nie eine Ursache, wenns wenigstens Stress wäre, aber hin und wieder wache ich mit einem dicken Schädel auf.

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