Physik des Schmerzes jenseits der Daumenschraube

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Physik entstand historisch als listig verlängerter Arm der Sensorik und Motorik. Ein neuronaler Drehzahlregler würde die Geschichte modern weiter schreiben.

Physik des Schmerzes

(Erkenntnis ist manchmal die Wahrheit des Daumenschraubenanlegenden. Wissen ist unabhängig vom erkennenden Subjekt. Letzteres meine ich mit Physik des Schmerzes.)

Der Grundgedanke ist simple: wenn Schmerzattacken in zyklischen Intervallen mehrmals pro Tag auftreten, wenn es pocht, pulsiert und hämmert und dies verursacht von Milliarden Gehirnzellen, die im Millisekundentakt feuern – und damit Zeitskalen von über acht Größenordnungen überspannt werden –, dann könnten diese physiologischen Rhythmen als emergente Phänomene verstanden werden. Das heißt, sie sind einer mathematisch-physikalischen Beschreibung zugänglich. Wenn akuter Schmerz chronisch wird, ist dies vielleicht ein Phasenübergang nicht unähnlich der Magnetisierung eines  Ferromagneten. Schmerz als Ordnungsparameter.

Daher die Frage, wie viel Physik steckt im Schmerz?

Es gibt Vorbilder. Wer bei “Physik des Schmerzes” denkt, dies sei doch arg, ähm, an den Haaren herbeigezogen, vergisst die Geschichte der Naturwissenschaft.

Historisch können wir Bereiche der Physik nach der Sinneswahrnehmung einteilen: die Akustik, die Optik und – schon deutlich später – die Wärmelehre. Es galt sinnvollendete  Anwendungen zu entwickeln vom Amphitheater zu optischen Linsen. Oder sinnvolle Anwendungen im übertragenen Sinn, die Dampfmaschine als Ursprung der industriellen Revolution.

Physik der Sinne. Warum entstand demzufolge keine Physik des Schmerzes, etwa eine Algostik (griechisch άλγος, algos „Schmerz“)?

Drehzahlregler und andere Dei Ex Machina

Schmerzen physikalisch vollenden? Das soll ein Anwendungsgebiet der Physik sein? Sicher. In den Folterkammern vielleicht. Jedoch sind Daumenschraube und die Streckbank schlicht Mechanik.

Die Mechanik, das andere große klassische Gebiet der Physik, hatte historisch nicht zum Ziel die Sensorik zu erweitern sondern die Motorik zu “überlisten”. Wir können z.B. nicht fliegen. Hebelwerkzeuge oder Vorrichtungen aller Art, kurz: Maschinen, galten zunächst als künstliche Eingriffe in die Natur. Die Dampfmaschine verbindet in dieser Betrachtung Sensorik1 und Motorik. Vielleicht interessanter noch, es führt von ihrem Drehzahlregler ein direkter Weg zur Physiologie. Ein Weg, der heute in der Medizintechnik weiter beschritten wird.2

Diese Fehlinterpretation einer angeblichen Überlistung bringt es auf den Punkt. Um Schmerzen zu vermindern oder gar vermeiden, muss man zwar nicht verstehen, was die Natur des Schmerzes ist. Wenn wir indes verstünden, was Schmerz auf der neuronalen Ebene ist, dann wird es neue Zugänge zur Schmerztherapie geben. Aus medizinischer Heilperspektive ist Schmerzmanagement sicher eine Überlistung, wissenschaftlich ist diese Wortwahl nichtsdestoweniger ebenso falsch wie die veraltete aristotelische Position, dass Mechanik eine Überlistung der Natur sei.3

Wie aber könnte ein neuronaler Drehzahlregler aussehen? Er wird vielleicht einmal am Anfang einer transhumanistischen Revolution stehen, die ich für nicht ausgeschlossen halte, ja sogar für viel wahrscheinlicher als manch andere ernstzunehmende Zukunftsvision.4

In der aktuellen Fachliteratur wird Schmerz auf neuronaler Ebene seit einigen Jahren nun schon mit dem Begriff Schmerzmartix (pain matrix) umschrieben, was meine Sicht auf Schmerzen unterstreicht: schon heute ist Schmerzforschung auch Netzwerktheorie und als solche mit hoher Sicherheit zugänglich für Methoden, die wir aus der Physik heraus in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben.

Die anfangs angesprochenen Rhythmen auf Zeitskalen über acht Größenordnungen und die enorm hohe Zahl funktionell und strukturell gleicher Gehirnzellen, lassen mich bei Schmerz an eine Art Ordnungsparameter denken, eine makroskopische Manifestation neuronaler Netzwerkzustände. Die Magnetisierung eines  Ferromagneten mag als Anschauung dienen, ob es nun gleich Para-, Ferro- und Paläoschmerzen gibt, sei mal dahingestellt. (Für die Experten, statt des Ising-Modells sind Phasenübergänge im Kuramoto-Modell eher zutreffen.)

Da ich sonst meist über Migräne schreibe, will ich diesmal explizit auch Cluster Kopfschmerzen und andere insbesondere sogenannte trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen (TACs, engl. Trigeminal Autonomic Cephalalgia) anführen, die eine charakteristische Rhythmik aufweisen. Bei Kopfschmerzen spielen physiologische Rhythmen von anderen Organsystemen wahrscheinlich keine so große Rolle. Ob hingegen eine Physik der Schmerzen auch auf Bauchschmerzen zutrifft oder dort die Schmerzen dort Epiphänomen sind, kann ich nicht beurteilen. 

Für das kommende Sommersemester bereite ich gerade eine Vorlesung “Physik der Migräne” an der TU Berlin vor, in der ich einige der heute schon bekannten Aspekte dieses Forschungsfeldes vorstelle. Clusterkopfschmerz und TACs werden in der Vorlesung nur ganz am Rande erwähnte, daher die Beschränkung im Titel.

Themen reichen von Kipp-Punkten im Gehirnklima über visuelle Trigger und Halluzinationen bei Migräne bis zur Gehirnprothese. Viele dieser Themen habe ich schon im Blog aufgegriffen. Sie standen meist in Verbindung mit Spreading Depression, einer Erregungswelle im der Hirnrinde, aber eine andere verbreitetere Theorie der Migräne, nämlich die eines Migränegenerators im Hirnstamm, ein zentraler Mustergenerator (central pattern generator), werden ebenso in der Vorlesung aufgegriffen und folgen dann hier im Blog.

 

 

Fußnoten

1 Der Tastsinn hatte zwar einen Einfluss auf das, was wir ursprünglich dachten, was Wärme und Temperatur sei. Aber dies führte zu einen Umweg in der Physik: Temperatur, die wir fühlen können, bekam eine andere Einheit als die Wärmemenge, die wir nicht fühlen können, und so wurde alles komplizierter als nötig. Das war irrsinnig. Abgesehen davon ist Wärme auch nur ein Teil des Tastsinns. Das führt zum Schmerz. Aber der genaue Blick auf Rezeptoren und Co. kann hier nicht erfolgen. Ist aber vorbereitet für einen Blogbeitrag.

2 Moderne Reglungstechnik begann mit James Watts Erfindung des Fliehkraftreglers (1788) und James Clerk Maxwells mathematischer Beschreibung achtzig Jahre später (1868). Letztere gilt als Ursprung der Kybernetik. Arbeiten von Norbert Wiener, dem Begründer der Kybernetik, und auch Arturo Rosenblueth führten dann zu den ersten künstlichen neuronalen Netzwerken von Warren McCulloch und Walter Pitts. Die Entwicklung des Fliehkraftregler als differentieller (chronometrischer) Drehzahlregler führten die Brüder Werner und Wilhelm Siemens schon 1843 weiter. Siemens Healthcare ist heute weltweit einer der größten Anbieter im Bereich Medizintechnik. In den 1840er Jahren wurde in Berlin mit Emil du Bois Reymond,  Hermann von Helmholtz, Ernst Wilhelm von Brücke und Carl Ludwig (dieser in Marburg, später Leipzig) die organische Physik begründet, die moderne Physiologie, wie wir sie heute kennen. Die Disziplinen erinnern mich ein wenig an Kontinentalplatten, sie driften auseinander, stoßen dann aber zwangsläufig auch wieder zusammen. An den Plattenrändern wo Physik wieder auf die Physiologie trifft entsteht Neues aus Altem. Die Mathematical Neuroscience ist nur ein aktuelles Beispiel.

3 Eine Überlistung als dauerhafte, ursachenunspezifische Analgesie ist, wenn man an die angebore Schmerzunempfindlichkeit (CIPA-Syndrom) denkt, unsinnig. Dies wäre kein Ziel.

4 Der Transhumanismus, wenn er denn käme, wäre wohl mindestens ähnlich schwer zu kontrollieren, wie die industrielle Revolution. Es braucht dann mehr als nur ein paar Robotergesetze, was ich zum Anlass nehme, um auf gleichnamigen neuen Blog in den SciLogs hinzuweisen. Willkommen!


 

© 2012, Markus A. Dahlem

 

Bildquellen

Schmerz: THE CLUSTER HEADACHE Creative Commons Attribution Share Alike 3.0

Daumenschraube, aus Constitutio Criminalis Theresiana 1768, gemeinfrei

Zeichnungen des Ekkyklema, gemeinfrei

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

18 Kommentare

  1. Nur Schmerz beseitigen?

    Ein großer Wurf der Neurowissenschaften wird das dann wohl nicht… auch nicht für die Medizin. Zu verstehen, wie Schmerz also in seiner reduzierten Funktion funktioniert, mag dann sehr wohl auch Therapiemethoden eröffnen können. Aber sind die denn nicht schon annähernd vorhanden? (Schmerzmittel ..?)

    Viel wichtiger wäre es, wenn man den Zusammenhang des Schmerzes mit der im organismus damit verbundenen ursache begreifen und daraufhin eben die Reiz-Reaktionskette des organismusses gezielt beeinflussen würde können. Nur die Empfindung von Schmerz zu unterbinden (also nur die Reaktion zu therapieren), ist ein bischen Lau. Stünde mir ein tonnenschweres Gewicht auf dem Zeh – täte dies schmerzen. In diesem Falle nur den Schmerz zu beseitigen ohne eben das Gewicht vom Fuß zu nehmen, würde sicherlich weitere Folgen mit sich ziehen, die dann etwa Probleme mit dem Fuß beträfen.

    Ebenso erschiene die Möglichkeit einem Organismus das Schwitzen zu nehmen, wenn der dann das Schwitzen doch zur Temperaturregulation bei hoher Leistung/Aktivität unbedingt nötig hat, nicht sinnvoll. Wichtig wäre also unbedingt zu wissen, ob die Ursache des Schmerzes eine besondere Bedeutung für den Organismus hat – also ob der Schmerz folgenlos abgestellt werden kann.

  2. zentraler Schmerz

    Ich habe deswegen auch zentrale Schmerzen im Sinn, das sind welche, bei denen die Ursache im zentralen Nervensystem liegt.

    Cluster Kopfschmerzen, trigemino-autonome Kopfschmerzerkrankungen und Migräne wären Beispiele.

    Oder die Chronifizierung des Schmerzes.

    Da wo Schmerz nicht bloß Symptom ist sondern die Erkrankung selbst (eben die primären Kopfschmerzkranheiten!), da müssen wir ihn auf dieser Ebene verstehen lernen.

    Das würde dann schon ein großer Wurf sein.

  3. Phantomschmerzen

    Ich habe die Phantomschmerzen bei amputierten Gliedmaßen vergessen.

    Ich muss zugeben, der Beitrag ist nicht sehr klar geschrieben. Besser hätte ich die Anmerkungen zur Geschichte der Physik (Akustik, Optik und Wärmelehre) losgelöst davon in einem eigenen Beitrag beschreiben sollen und dafür mehr auf diesen Aspekt der zentralen Schmerzen eingehen und diese in den Vordergrund stellen müssen.

  4. Physik des Schmerzes JENSEITS der Daumenschraube

    -> Die Überscrift deutet es ja eigendlich an. Also Schmerzen ohne Auslöser – etwa eben Phantomschmerzen bei abgetrennten Gliedmaßen.

    Aber auch da besteht die Fragestellung, warum ein Schmerz wahrgenommen werden kann und was er bedeutet. Nur die Abschaltung des Schmerzes sei dann ausschliesslich hinsichtlich der Belastung durch den Schmerz interessant. Die jeweiligen Ursachen sollten jedoch trotzdem erforscht werden.

  5. eine Meinung

    “Schmerz ist eine Meinung über den Gesundheitszustand des Organismus, keine lediglich reflexhafte Reaktion auf eine Verletzung”

    Das habe ich im Buch Neustart im Kopf gefunden, zitiert wird V.S. Ramachandran.

    Mir gefällt dieser Gedanke. Es würde vieles erlären. Ist es so?

  6. @ Alex

    “Schmerz ist eine Meinung über den Gesundheitszustand des Organismus, keine lediglich reflexhafte Reaktion auf eine Verletzung”

    Mir gefällt dieser Gedanke. Es würde vieles erlären. Ist es so?

    Wenn Sie Ihre höchstprivaten Schmerzen (einen Zahnschmerz zum Beispiel) als eine “Meinung” über die Empfindung, die Sie im Moment des Schmerzes gerade haben, und nicht als eine unmittelbare Empfindung erfahren können, wäre ich gerne bereit, bei Ihnen in die Lehre zu gehen. Wie macht man das, zu “meinen”, dass etwas einem wehtut? Haben Sie sich in Ihrem Schmerz schon mal geirrt? “Meint” man, Schmerz und Wollust zu erfahren? Erfährt man sie nicht vielmehr unmittelbar?

  7. Schmerz Sein

    Es gab einige Diskussion im Beitrag Was ist Schmerz.

    Dort schrieb ich “Schmerz sei ein Sinneserlebnis, letztlich nichts wesentlich anderes als Rot sehen, … (kurz zusammengefasst) …

    Ich gehe dabei bewusst nicht auf die Bedeutung von Schmerz ein, was er uns sagen will. Der Gesundheitszustand des Bauches, um beim Beispiel der Bauchschmerzen zu bleiben, interessiert mich ja nicht (als Forschungsobjekt). Bauch, Daumenschraube usw. hätte ich folglich gerne ausgeklammert.

    Dieser Ansatz ist mindestens in einem Punkt sicher fragwürdig, nämlich wenn Schmerz “jenseits der Daumenschraube” ohne Auslöser auftritt (also der Schmerzrezeptor von Anfang an nie involviert war).

    Denn wenn der Schmerz nicht wie ein klassisches Sinneserlebnis in das Gehirn hinein kommt sondern dort ist, dort sein Sein hat, dann wird er uns a) auch nichts über die Welt da draußen (unmittelbar) sagen wollen — na gut mittelbar vielleicht schon (via Stress, Trauma etc.) — und b) er wird doppelt interessant.

    Trotzdem, also obwohl es ist leider nicht mehr so leicht ist, seine Bedeutung auszuklammern, doch ich tue es einfach.

    Er bedeutet/ist keine Meinung (siehe Helmut Wicht). Er bedeutet/ist keine Erinnerung, denn er tut ja weh. Es bedeutet/ist auch keine Halluzination, denn man irrt nicht (auch da siehe Helmut Wicht). Es ist was es ist. Er ist zentraler Schmerz, so genannt, um ihn abzugrenzen vom eben jenem anderen Schmerz, der durch das peripher Nervensystem ins Gehirn kommt.

    Und auch wenn ich mit meinem Ausklammern der Frage, was zentraler Schmerz bedeutet, das sprichwörtliche Kind mit dem Bade auf den harten Steinboden auskippe, ich will “nur” wissen, wie Schmerz in neuronalen Verschaltungen Zustande kommt, sich Manifestiert. Das bereitet mir genug ähm Kopfzerbrechen.

  8. Was man zu fühlen meint

    Man kann natürlich meinen, Schmerzen zu haben. So wie man etwas zu hören oder zu sehen meint. Wenn ich nach durchzechter Nacht erwache bin ich noch nicht ganz sicher, ob der Kopf schmerzt, so wie ich noch nicht sicher bin, ob ich etwas sehe. Wenn ich mich dann bewege, spüre ich den Schmerz unmittelbar, und auch die Umgebung wird klar erkennbar.

    Die Physik des Sehens hat mit dem Satz “Ich sehe dieses und jenes” so wenig zu tun wie die Physik des Schmerzes, wie sie hier skizziert wird, mit dem Satz “Ich habe schmerzen.” Die Physik kennt kein “Ich”.

    Was soll das bedeuten: “Wissen ist unabhängig vom erkennenden Subjekt.” Wer hat denn Wissen, wenn nicht das erkennende Subjekt? Und wer kann an seinem Wissen zwefeln, wenn nicht dieses Subjekt? Gibt es noch Wissen, wenn es keine Subjekte mehr gibt? Man fragt doch immer nach einem Subjekt, wenn man fragt “Wer weiß das?” Man kann nicht fragen “Was weiß das?”

  9. Schmerz mathematisch-physikalisch

    (Erkenntnis ist manchmal die Wahrheit des Daumenschraubenanlegenden. Wissen ist unabhängig vom erkennenden Subjekt. Letzteres meine ich mit Physik des Schmerzes.)

    Diese eingeklammerte Einleitung, speziell: Wissen ist unabhängig vom erkennenden Subjekt, war darauf gemünzt, dass es mir hier um ein Wissen über den Schmerz geht in Form einer mathematisch-physikalisch korrekten Beschreibung (die als Theorie des Schmerzes natürlich auch hinterfragt werden muss — von einem Subjekt.) Die subjektive Komponente der Schmerzen ist für mich physikalisch nicht zugänglich und davon wollte ich mich abtrennen.

  10. Halluzination, Illusion & Schmerzmatrix

    Unsinnige Dialoge?

    “Tut es noch weh?” – “Ich bin nicht sicher.”
    Tut es hier weh?” – “Ich meine, ja”

    Hier wird eventuell eine Grenze hin zur Halluzination und Illusion überschritten.

    Gerade solche Fragen machen es notwendig, weiter die Schmerzmatrix zu erforschen. Dazu kommt dann noch was. Denn es sind wahrscheinlich jeweils andere Komponenten in der Matrix involviert.

  11. Der Schmerz des Anderen

    Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Ihre Frage nicht, ob das Wissen unabhängig vom erkennenden Subjekt ist, sondern ob Sie (als Wissenschaftler) Wissen über den Schmerz des Anderen haben können – und dieses Wissen könnte dann als Theorie intersubjektiv kommunizierbar innerhalb der wissenschaftlichen Community sein. Entschuldigen Sie die Kleinlichkeit der Formulierung, aber sie scheint mir für einen Moment notwendig.

    Ich denke, man kann so wenig über den Schmerz eines Anderen wissen wie über die Frage, was jemand sieht oder hört. Wissen kann man haben über chemische, physikalische, physiologische Abläufe die bei Befragung von Subjekten mit deren Erfahrungen von Schmerzen, von Rot-Sehen oder Salz-Schmecken korrellieren – und dass sie korrelieren ist nicht unabhängig davon, wie diese Subjekte Sätze wie “Ich habe Schmerzen” oder “Ich sehe Rot” gelernt haben.

    Es ist nie sicher, ob jemand wirklich die gleiche Erfahrung hat wenn er sagt “es schmerzt” wie ich sie habe wenn ich das gleiche sage. Aber wir haben gelernt, in gleichen Situationen das gleiche zu sagen.

    Aber wir wissen ja auch, dass manche schon Schmerzen haben wenn andere noch nichts spüren, dass manche Schmerzen haben ohne erkennbaren Grund usw.

    Und nicht jeder Schmerz ist schmerzhaft.

    Sorry, ist vielleicht alles OT, und ziemlich wirr, ich weiß.

  12. “Das Leben der anderen”

    @ Jörg Friedrich schrieb:

    ‘Sorry, ist vielleicht alles OT, und ziemlich wirr, ich weiß.’

    Lieber Herr Friedrich,

    ich finde Ihren Kommentar überhaupt nicht OT, sondern finde es immer wieder erstaunlich ,wie sie bei diffus-verhext-unlösbaren Problemen, sei es nun wie in diesem Fall der Schmerz oder allgemein das Leben der anderen eindrücklich zeigen, dass dem Problem falsche Annahmen oder Fragestellungen zu Grunde liegen.

  13. Neustart im Kopf

    ich hatte das Buch in einer Buchhandlung mal überflogen. Der Beitrag über Phantomschmerz und erfolgreiche Methoden zum ‘Verlerenen’ der Phantomschmerzen waren beeindruckend. Das Zitat von Alex hatte ich so interpretiert:
    Schmerz ist eine Einschätzung des Organismus bezüglich seiner Gesundheit, die er glaubt, dem bewussten Ich mitteilen zu müssen.
    Unter bestimmten Umständen kann man diese Einschätzung oder auch das ‘Mitteilungsbedürfnis’ wohl beinflussen.

    (Schon klar, dass Schmerz sich auch als völlig sinnfreies Phänomen verselbständigen kann.)

  14. Physik des Schmerzes.

    Es geht nicht um Qualia, diese Diskussion hatten wir schon mal, glaube ich, in dem vorangegangen Beitrag im März letzten Jahres. (Daher der Vergleich zu “Rot sehen”.)

    Beispiel: Ich habe im Hirn Kantendetektoren mit klaren Antwortverhalten (tuning curve). Und wenn die feuern, sieht man eine Kante. Wie man sie sieht, ihr subjektiver Erlebnisgehalt ist nicht meine Frage.

    Ich frage nach dem detektierenden Netzwerk dessen Verschaltung etc. (dem Analogon zum Kantendetektor) und ich frage nach dessen Dynamik (Analog zur tuning curve).

    Die klassischen Sinne haben ein (auch schon mal zwei) primäre Areale in der Hirnrinde. Danach gibt es zumindest grob eine erste hierarchischen Weiterverarbeiten in der Hirnrinde (weswegen ich “danach” schreiben kann).

    Beim Schmerz ist dieser Aufbau anders.

    In der Hirnrinde gibt es kein primäres Schmerz-Areal und zwischen Rezeptor (Nozizeptor) und Hirnrinde ist schon ein komplexes Netzwerk im Hirnstamm, wo andere Sinne sich gerade mal einen Zwischenstopp im Thalamus gönnen auf ihrem Weg noch oben. (Diesen Zwischenstopp macht die Schmerzleitung sowieso auch noch.)

    Die Gesamtheit dieses Netzwerkes wird auch Schmerzmatrix genannt.

    Ich Frage nun z.B. ob, wenn es schmerzt, dieses Netzwerk in einem objektivierbar anderen dynamischen Zustand ist als wenn nicht schmerzt. Und ob diese Übergänge mit Methoden der statistischen Physik beschreibbar sind.

    Und zwar objektivierbar, damit meine ich ganz einfach: Nehmen wir an, ich finde morgen die Theorie “Physik des Schmerzes” und jemand anderes kommt unabhängig zur gleichen Theorie und — wichtiger noch — die Datenlage inklusive nachträglich überprüfter Vorhersagen aus unser beider Theorie ist auch entsprechend konform dazu.

    Dann hätten wir eine Physik des Schmerzes. Vorläufig, bis zum nächsten Paradigmenwechsel.

  15. @ Dahlem

    Markus – ich bin anderer Meinung als Du, ich denke, dass es durchaus um Qualia geht, denn schon das Wort “Schmerz” oder “Lust” bezeichnet eben genau nicht den “datenmässigen Informationsgehalt” einer Sinneswahrnehmung, sondern vielmehr dessen Wertung, unabhängig vom Inhalt der Wahrmehmung.

    Das ist aber keine Kritik an Deinem experimentellen Ansatz – es ist eine an der Wortwahl. Es mag eine “Physik der Schmerzerzeugung” geben (die Mechanik der Daumenschraube wäre ein Beispiel), aber es gibt imho keine “Physik des Schmerzes”.

    Aber bevor ich mich in die Quälereien der Qualia der Schmerzes einlasse (eigentlich wäre das ja mal wieder was für die Philosophen, Schmerzensmänner wie Epikur, Schopenhauer, Mainländer, Bahnsen, Nietzsche, Camus und Nachfolger — wo sind sie den alle?), bevor ich mich darauf einlasse, habe ich eine naturwissenschaftliche Frage, die ich in diesem Kontext spannend finde, und die Du mir vielleicht beantworten kannst.

    Es gibt doch diese (raren) Fälle von angeborenem Fehlen des Schmerzsinnes beim Menschen. (Was ist es eigentlich? Der Rezeptor?) Wie verhält es sich denn bei diesen Menschen mit der Empfindung “nichtkörperlicher” Schmerzen, vulgo: Seelenpein, Liebesleid, sonstige existenzielle Verzweiflungen? Weiss man was darüber?

  16. @ Helmut Wicht

    >>”Wenn Sie Ihre höchstprivaten Schmerzen (einen “Meint” man, Schmerz und Wollust zu erfahren? Erfährt man sie nicht vielmehr unmittelbar?”

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