Diese Woche: Mit Krämpfen, Tattoos und Migräne unter Mördern
Die „Zeit“ suggeriert – oder sie spielt zumindest mit diesem Vorurteil, Menschen mit Migräne könnten den Schmerz suchen. Die Tiroler Tageszeitung stellt eine falsche Diagnose der Überschrift zuliebe.
Die „Zeit“ will über Schmerz sprechen und kündigte eine Veranstaltung diese Woche so an:
Krämpfe, Tattoos und Migräne: Der Schmerz hat viele Facetten! Über seine Formen auch jenseits des Krankheits-Symptoms diskutieren unsere Gäste am 7. Mai …
Wir tun alles, um Schmerz zu vermeiden; doch manchmal suchen wir ihn geradezu. Melden Sie sich jetzt zur Diskussion über die unterschiedlichen Formen des Schmerzes an.
Profifußballer Ivan Klasnić, Hebamme Livia Görner, Chefarzt Götz von Wichert und „Tattoo“-Kuratorin Susanna Kumschick sprechen über den Schmerz als Krankheitssymptom und gesellschaftliche wie kulturelle Prägung.
Jenseits des Symptoms Schmerz soll auf der Veranstaltung darüber gesprochen werden, dass manche Menschen den Schmerz suchen. Wie passen Menschen mit Migräne in dieses Bild? Eigentlich gar nicht. Oder doch?
Zumindest suggeriert wird hier ein gängiges Vorurteil. Eine angebliche Persönlichkeitsstruktur von Menschen mit Migräne bedingt eine Lebensführung, bei der billigend Migräne in Kauf genommen wird. So wie man Krämpfe in Kauf nimmt, weil man sich im Sport verausgabt, oder den Schmerz beim Stechen eines Tattoos. Richtig ist: Bestimmte, prämorbide Persönlichkeitszüge oder Verhaltensweisen sind bei Menschen mit Migräne wissenschaftlich nicht nachweisbar. Es bleibt zu hoffen, dass genau diese gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen korrigiert und nicht propagiert werden.
„Mit Migräne unter Mördern“
Um Persönlichkeit und Stressbewältigung geht es auch im Film Gunman. Als eine Orgie von Schauplätzen und Schießereien, bei der der interessante gesellschaftliche Hintergrund aus dem Blick gerät, bezeichnet Deutschlandradio Kultur den Actionfilm. So weit so gut.
Die Tiroler Tageszeitung kündigt den Film mit „Mit Migräne unter Mördern“ an. Sean Penn in der Rolle des Agenten Jim Terrier leidet unter posttraumatischen Kopfschmerzen – eine bessere Diagnose gibt das Skript eigentlich nicht her. Der Alliteration wegen wird kurzerhand Migräne daraus.
Man darf wohl vermuten, dass Terriers Trauma vor allem mental ist. Das wäre dann ein erzählerischer Kniff, der uns darauf hinweist, dass seine frühern mörderischen Attentate ihn irgendwie belasten und folglich er doch ein Guter ist, der gegen das Böse kämpft. Vielleicht trug er auch ein Schädel-Hirn-Trauma davon.
Wie dem auch sei, seine schrecklichen Kopfschmerzen werden von Doppelbildern und Erbrechen begleitet. Das passt durchaus auch zur Migräne. Doch der posttraumatischer Kopfschmerz ist oft eine dumpf-drückender Schmerz, während Kopfschmerzen bei Migräne in der Regel pochend sind. Damit ist das klinische Bild des Patienten mit posttraumatischen Kopfschmerzen eine Mischung von Merkmalen der Migräne und des Spannungskopfschmerzes.
Wieso? Menschen mit Krämpfen unterstellt man ja auch nicht, sie würden den Schmerz suchen, oder?
Langsam denke ich, es sollten nur Menschen über Schmerzen schreiben, die sie bereits am eigenen Körper über längere Zeit erlebt haben. Dummerweise sind diese oft nicht mehr in der Lage dazu. Nichts scheint so schwierig zu begrefen, wie Schmerz als eigene Krankheit und nicht nur Symptom von irgendwas.
Migräne ist so häufig, dass sogar ich zwei schwer davon Betroffene kenne. Doch das Wissen über diese Krankheit ist auffallend gering und eine Diskussion über sie und die damit verbundenen Schmerzen scheint nur möglich, wenn man den Schmerz interessanter macht, indem man unterstellt, dieser Schmerz werde von einzelnen Migränikern gesucht oder indem man den Schmerz sogar mit Aggression in Verbindung bringt.
Mir scheint, wir haben es bei Phänomenen wie Migräneschmerz, Migräneaura, Depression, Zwangsgedanken etc. mit etwas Ähnlichem zu tun wie dem, was man als Taboo-Themen bezeichnet – nur mit dem Unterschied dass es hier nicht um moralisch Verwerfliches geht, sondern um Geisteszustände über die man nicht reden kann und will, weil sie den Geist lähmen. Ein einziges dieser Themen hat es in letzter Zeit in die Öffentlichkeit geschafft: Alzheimer. Wahrscheinlich deshalb, weil Alzheimer vor allem die anderen betrifft – diejenigen, die mit Alzheimerkranken umgehen müssen. Halt – jetzt fällt mir noch etwas weiteres ein: Burn- Out. Doch Alzheimer und Burn-Out sind wohl deshalb dikutierbar, weil beides überwinbare Zustände sind. Alzheimer endet mit dem Tod (in einigen Büchern und Filmen dazu auch mit dem Freitod) und Burn-Out endet damit, dass sich der Betroffene wieder so gut fühlt, dass er ein Buch darüber schreiben kann. Der Ausgang von Migräne aber ist ungewiss. Zudem entziehen sich die Erfahrungen eines Migränikers der Imagination – nicht Betroffene können sie nicht empfinden, sie nicht nachvollziehen.