Diese Woche: Keine drei Migräneattacken sind gleich

Einseitig und pulsierend, das sind die typischen Merkmale des Migränekopfschmerzes. Doch ein stumpf stechender, beidseitiger Kopfschmerz kann laut geltender Klassifikation auch ein Migränekopfschmerz sein, wenn er nur mittelschwer ist und sich bei körperlicher Routinearbeit verstärkt. Außerdem müssen in jedem Fall noch weitere Kriterien erfüllt sein. Auch bei diesen lässt die Klassifikation gewisse Spielräume zu. Mit anderen Worten, die Merkmale der Migräneattacken variieren. Nicht nur von Patienten zu Patienten, sondern auch die Attacken eines Patienten gleichen sich sehr selten, wie jetzt eine Studie zeigt [1].

Untersucht wurden nicht allein die Merkmale des Kopfschmerzes, sondern fast die ganze Bandbreite möglicher Symptome: Übelkeit und/oder Erbrechen; Licht-, Lärm- und Geruchsüberempfindlichkeit; gesteigerte Schmerzempfindlichkeit durch geringfügige Reize; mindestens eins der sechs kranialen autonomen Symptome;und mindestens ein Vorbotensymtom.2

Diese Merkmale treten jeweils in unterschiedlichen Kombinationen in den wiederkehrenden Attacken auf. Erstmals wurde dies nun systematisch bei 30 Patienten untersucht. Mit dem Resultat, dass keine drei aufeinanderfolgenden Migräneattacken sich vollständig gleichen.

Selbst wenn man sich nur auf die typischerweise einseitig und pulsierenden Merkmale der Kopfschmerzen bei Migräne beschränkt, lagen diese Merkmale nur bei einem Drittel der Fälle immer vor. Untersucht wurde bei den 30 Patienten drei aufeinanderfolgende Migräneattacken.

Diese hohe Variabilität überraschte sogar die Experten und sie stellen sogleich die geltende Klassifikation in Frage [1].

Diese Woche gibt es im Streifzug durch die aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nur noch ein kurzes weiteres Thema. Ein Thema, dass uns wahrscheinlich – und hoffentlich – über Jahre hinweg erhalten bleibt, denn eine neue Wirkstoffgruppe verspricht quasi eine vorbeugende Impfung gegen Attacken.

So titel eine weitere neue Veröffentlichung [2]: „CGRP-Antikörper: der Heilige Gral zur Vorbeugung von Migräne?“ Diesen CGRP-Antikörpern wird auf der kommenden Scottsdale Headache Symposium ein Extratag gewidmet. Dann gibt es sicher Neues.

ahs2015

 

Wann wird das Thema für Patienten wirklich relevant? „In drei Jahren Antikörper gegen Migräne?“ fragt die Ärzte Zeitung letzten Mittwoch und gibt damit zumindest mal den ungefähren Zeitrahmen vor.

 

Fußnoten

  Zu den zählen kranialen autonomen Symptome der Migräne zählen

  • Bindehautentzündung, Tränenfluß, oder beides;
  • verstopfte Nase, Fließschnupfen, oder beides;
  • Lidödem (Schwellung der Augenlider);
  • verstärktes Schwitzen der Stirn und Gesicht;
  • Pupillenverengung, herabhängende Augenlider, oder beides;
  • Druckgefühl im Ohr

2 Die Vorboten einer Migräneattacke sind sehr vielfätig. Zu ihnen grhört: Licht-, Geruchs- und Lärmempfindlichkeit und Gesichtsblässe, kalte Extremitäten (Hände und/oder Füße), Rücken- oder Nackenschmerzen, Nackenverspannung, Schlafstörungen, Intensives Gähnen, Gereiztheit, Stimmungsschwankung, Hyperaktivität, Antriebslosigkeit, depressive Stimmung, Erschöpfung, Müdigkeit, Sprachstörungen, Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel, Übelkeit, Durchfall, Appetitlosigkeit, Durst und Heißhunger.

Viele Auslöser sind nur vermeintlich die entscheidenden Anstößen einer Migräneattacke. Es können auch einfach Vorboten sein. Seit langen ist beispielsweise bekannt, dass Heißhunger nach Süßem oft ein Vorbotensymptom der Migräne ist, aber Süßigkeiten insbesondere Schokolade fälschlich als Auslöser angesehen wird.

 

Literatur

[1] M. Viana, G. Sances, N. Ghiotto, E. Guaschino, M. Allena, G. Nappi, P. J. Goadsby and C. Tassorelli, Intra-variability of the characteristics of migraine attacks, The Journal of Headache and Pain16(Suppl 1):A702015 2015

[2] Pascual, J. (2015). CGRP antibodies: the Holy Grail for migraine prevention? The Lancet Neurology. [Link]

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

7 Kommentare

  1. Wenn (fast) jeder Migräneanfall anders verläuft liegt es nahe, Migräne mit Phänomenen wie Gewittern, Erdbeben oder Stürmen zu vergleichen. Ganz ähnlich wie bei einem Gewitter mit seinen elektrischen Entladungen in Form von Blitzen wäre die Migräne durch einen bestimmten Zustand charakterisiert, der die Voraussetzung für die Migräneattacken bildet. Wie genau sich die Attacken aber entwickeln hängt von mehr oder minder zufälligen Ungleichgewichten ab , genau so wie die Bahnen und Häufungsstellen von elektrischen Entladungen in Gewittern von der Lokalisation der elektrisch geladenen Gewitterwolken abhängen.

  2. Erschütternd, dass die Medizin das bisher nicht wusste. Das zeigt, dass Ärzte sich zu wenig mit den Patienten auseinandersetzen. Sonst wäre der Verdacht, dass jeder Migräneanfall anders ist, schon früher aufgekommen. Jeder Migränepatient weiß das zu berichten – wenn man ihn lässt.

    • Es wurde bisher nicht systematisch untersucht. Und das erschreckt in der Tat.

      Hingegen denke ich, dass viele erfahrene Ärzte durchaus aus der eigenen Praxis dies wußten, ohne eben verlässliche Zahlen zu haben. Es zeigt auch, dass die Gefahr einer Fehldiagnose bei weniger erfahrenen Ärtzen sehr hoch ist, was wiederum für intelligente Assistenzsysteme für Ärzte spricht.

      Beispielsweise werden aufgrund der kranialen autonomen Symptome der Migräne, die vor allem bei Kindern oft für eine Migräne stehen, oft Sinusitis-Kopfschmerz diagnostiziert.

      • “Es zeigt auch, dass die Gefahr einer Fehldiagnose bei weniger erfahrenen Ärtzen sehr hoch ist, was wiederum für intelligente Assistenzsysteme für Ärzte spricht.”

        Das ist richtig, sollte man aber nicht zu laut sagen, sonst hat man selbst schnell eine ungünstige Diagnose ‘am Hals’ :-).

        Interessant hierbei: bekanntermaßen lassen sich auch die meisten Fehleinschätzungen in der wissenschaftlichen Forschung vermeiden, wenn man die bereits vorhandenen intelligenten Assistenzsysteme für Wissenschaftler benutzt. Das hat schon so manchem den Nobelpreis eingebracht, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Das führt soweit, daß wir heute demütig erkennen müssen, daß die gesamte Epistemologie durch intelligente Assistenzsysteme verbessert und schließlich durch diese ganz geleistet werden kann. Die Frage liegt auf der Hand: Warum sich noch eigenständig Gedanken machen, wenn (obendrein lernfähige!) Algorithmen das viel besser für einen leisten können? Einfach in der Hängematte vegetativ sein und darauf warten, was das Google- oder Facebook- oder Amazon-Device sagt (nach einer Millisekunde für uns herausgefunden und automatisch an Millionen Follower getwittert hat).

      • Sehe ich auch so. Medizin braucht mehr systematische Unterstützung. Es ist leider Fakt, dass eine so häufige Krankheit wie Migräne immer noch oft schlecht diagnostiziert und behandelt wird. Habe als Journalistin öfter mit Patienten gesprochen, die erschütternde Lebenswege hinter sich haben. Zugegeben: Das gibt ein verzerrtes Bild, weil die gut Eingestellten oder leicht Betroffenen ja nicht auffallen. Aber viele der schweren Kopfschmerzschicksale müssten einfach nicht sein.

  3. Pingback:Arzt oder Computer – Wer macht die bessere Diagnose? › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

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