Die Fotos von Morgen im Gehirn

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

arrowOfTimeMeinen freien Willen mich heute im Laufe des Tages noch zu entscheiden, gestern eine Pizza – vielleicht war’s auch ein Pastagericht gewesen, ich weiß es jetzt noch nicht – gegessen zu haben, den lasse ich mir doch von der Physik nicht nehmen. Ich habe auch Erinnerungen an Morgen. Denn soweit ich gucken kann ist die Zeit in der Physik umkehrbar. Sie erlaubt mir nach rechts und links zu gehen und schauen genau wie nach gestern und morgen. — Der zweite Satz der Thermodynamik? Kein Gesetz wie die anderen, eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die allein sagt, dass die Entropie mit der Zeit anwächst und zwar auch mit der umgekehrten Zeit, wenn ich den Zeitpfeil umdrehe. Das war schon Josef Loschmidts Umkehreinwand, den er prompt seinem Schüler Ludwig Boltzmann zurecht entgegenbrachte. Den Zeitpfeil kann der zweite Satz der Thermodynamik allein gar nicht erklären.

Woran liegt es eigentlich, dass unser Gehirn Erinnerungen an gestern besitzt aber nicht von morgen? Das ist kein Problem des Gehirns allein. Im Fotoalbum kleben auch nur Bilder aus der Vergangenheit und nicht aus der Zukunft. Auch wenn wir noch nicht verstehen, wie Erinnerungen sich im Gehirn manifestieren. Es sind in Aspekten, die den Zeitpfeil betreffen, d.h. im abstrakten Sinn, Zeugnisse nicht unähnlich den Fotografien.

Woran liegt es eigentlich, dass wir denken, die Zukunft planen zu können aber die Vergangenheit für uns fest steht? Auch das ist kein Problem des Gehirns allein.

Wenn wir also das Gehirn als kognitives System in seinem Fundament verstehen wollen, kommen wir um ein allgemeines Verständnis des Zeitpfeils nicht herum. Thermodynamik ist allerdings nicht Teil des Curriculums der diverseren Studiengängen, die sich mit dem Gehirn beschäftigen. Nächste Woche zum Beispiel unterrichte ich eine Blockvorlesung mit insgesamt 15 Doppelstunden über neuronale Modelle einzelner Gehirnzellen und Netzwerke. Dort kommt u.a. auch das Hopfield-Netz vor, eine besondere Form eines künstlichen neuronalen Netzes das als Modell eines assoziatives Gedächtnis gilt. Ich weiß, dass ich gerade bei den Kursteilnehmern (Doktorandinnen und Doktoranden meist mit einem Hintergrund aus der Psychologie) viel Wissen voraussetzen kann. Leider wird jedoch ein Grundverständnis der Aussagen der Thermodynamik wohl eher nicht dazu gehören, weil dies eben nicht zum ihrem Curriculum gehört.

Auch wenn es keine ganze Physikvorlesung ersetzt, es gibt eine verständliche Einführung von Sean Carroll, eine Vorlesung allein zum Zeitpfeil. Sie ist erschienen in der Reihe The Great Courses (TGC), eine schöne Reihe von College-Level-Audio- und Video-Kursen. Die aber leider nur auf englisch verfügbar ist. Bei audible gibt es den Audio Kurs (12 Stunden) für ca. US$40. Wo der Unterschied zu den US$129 liegt, der auf der TGC Website angeben ist, weiß ich nicht. Den audible-Kurs habe ich gehört und kann ihn sehr empfehlen.

 

Avatar-Foto

Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

38 Kommentare

  1. Meine alte These: Die physikalische Zeit und das Ursache-Wirkungsprinzip sind für unser Bewusstsein schwer auseinander zu dividieren. Letzteres gibt eine Richtung vor, ist möglicherweise aber völlig anders, als wir glauben. Erstere wäre ohne UWP wie jede andere physikalische Größe ohne Probleme umkehrbar, also sowohl mit einem positiven wie mit einem negativen Vorzeichen auszustatten. Wie Weg auch.

  2. Das erinnert mich gerade an die folgende, höchst bemerkenswerte Beobachtung:

    Time flies like an arrow. Fruit flies like a banana.
    – Groucho Marx

  3. Glückwunsch! Wenn Sie zeigen können, dass physikalische Vorgänge umkehrbar sind, dann haben Sie das Perpetuum Mobile erfunden.

  4. Hallo Herr Dahmen,
    Sie schreiben:
    “Woran liegt es eigentlich, dass wir denken, die Zukunft planen zu können aber die Vergangenheit für uns fest steht?”
    Hier der Versuch einer Antwort – um überhaupt mal ins Gespräch zu kommen:
    Wenn zur Realität, die wir erleben, nicht nur die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit gehört, sondern auch die Menge der Möglichkeiten, die mit den Naturgesetzen vereinbar sind, dann ist die Zukunft eine Teilmenge dieser zur Realität gehörenden Möglichkeiten, die Vergangenheit aber nur eine einzige realisierte Möglichkeit, die die Menge der zukünftig realisierbaren Möglichkeiten durch das Setzen von Randbedingungen einschränkt und prägt, aber die Menge immer noch so gross belässt, dass wir die Wahl für weitere Einschränkungen haben. Wir erleben immer eine Realität, die mit einem Möglichkeitsraum verbunden ist, und diese Definition von Realität schafft Freiräume für Erklärungen des Zusammenhangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ohne diese Möglichkeitsräume kann man wohl nicht viel erklären. Es wäre interessant zu erfahren, ob Physik und Neurowissenschaften diesem Aspekt hinreichend Aufmerksamkeit schenken.
    Grüsse Fossilium

    • Wenn man sichs überlegt, gibt es auch in der Vergangenheit keine Sicherheit. Seit dem letzten Mal an dem sich erinnert wurde, kann sich eine Erinnerung verändert haben. Nur durch ihre Verbindung zu anderen Erinnerungen kann sie als einigermaßen fest betrachtet werden. Wer sagt denn, dass alles nicht ganz anders war?

  5. Hallo Fossilium, danke für Ihren Kommentar. Ich möchte mit folgender Ausführung nachfragen:

    Zu unserer unmittelbaren erfahrbaren Realität gehört allein die “sinnliche” Wirklichkeit. Womit ich “übersinnlich” als der Naturwissenschaft widersprechend meine. (Es mag also noch Sinne geben, die wir derzeit nicht kennen. Ich denke das ist geschenkt.) Zur Realität “an sich”, die wir sicher nicht vollständig erleben können, gehört mehr. Auch das ist wahrscheinlich zwischen uns einvernehmlich klar. Aber durch wissenschaftliche Methoden erweitern wir unsere unmittelbar erfahrbare Realität.

    Nun sei die Zukunft eine Teilmenge dieser Realität, sagen Sie. Weil wir eben nicht der Laplace’sche Dämon sind (oder verstehe ich Sie da nicht?).

    Aber gilt das nicht auch für die Vergangenheit? Umkehreinwand. Wie oft gestehen wir uns nicht ein, uns wahrscheinlich falsch zu erinnern? Das mag quantitativ jedoch zu einem Unterschied führen, denn ich erinnere mich sicher oft genug richtig, ich sage die Zukunft dagegen viel, viel öfter falsch voraus. Aber zunächst nachgefragt: ist das (allein) ihr Punkt?

    Ich bin mir schlicht unsicher, ob ich Ihre Frage verstanden habe. Viele Grüße zurück.

  6. Hallo Herr Dahlem,

    was ich meine ist folgendes: wir erleben die Realität anders, als sie von den empirischen Wissenschaften beschrieben wird. Wenn wir in den Himmel gucken und sagen, “es regnet zwar jetzt, aber es gibt die Möglichkeit, dass in einer Stunde wieder die Sonne scheint.” dann haben wir die sinnlich wahrgenommene Wirklichkeit als existierend angenommen, und als existierend zusätzlich auch verschiedene Möglichkeiten. Für uns existiert neben der aktuellen Realität immer auch eine spezifische Potentialität. Das ist in den Naturwissenschaften anders.

    Deshalb können wir zwischen Zukunft und Vergangenheit unterscheiden, weil diese unterschiedliche Potentialitäten haben. Und deshalb kann die Physik keine Unterscheidung treffen, weil die Potentialität nicht in ihrem Realitätsbegriff enthalten ist.

    Eigentlich ziemlich simpel.

    Grüsse Fossilium

    • Ich frage mich, wie solche Systeme entstehen. Ist das ein typisches Phänomen der kognitiven Systeme? Kann man (zuminst rudimentär) solche Eigenschaften, auch in technischen Systemen finden, die “zwischen Zukunft und Vergangenheit unterscheiden, weil diese unterschiedliche Potentialitäten haben haben” bzw. just die Eigenschaft “unterschiedliche Potentialitäten” aufzuweisen? Oder in einfachen physikalischen Systemen? Ich denke ja.

  7. Du fragst: “Woran liegt es eigentlich, dass unser Gehirn Erinnerungen an gestern besitzt aber nicht von morgen?”

    Nimmt man die Gegenwart als zeitlichen Referenzpunkt ist Erinnerung, die mentale Vorstellung vergangener Erlebnisse und Erfahrungen und Vorhersehung, die mentale Vorstellung zukünftiger Erlebnisse und Erfahrungen. Sich auf dem Zeitpfeil in entgegengesetzte Richtungen zu bewegen und beides Erinnerung zu nennen halte ich nicht für sinnvoll. Das Subjekt kann erstens zwischen mentaler Vorstellung und physikalischer Realität unterscheiden und setzt zweitens die mentale Vorstellung in eine zeitliche Beziehung zur physikalischen Realität, damit es unterscheiden kann, ob es sich erinnert oder vorhersieht. Ist eine der beiden Fähigkeiten gestört wird es allerdings schwierig.

    • Meine Frage ist ja: wie ensteht aus der physikalischer Realität ein kognitives System das mentale Prozesse durchführt. Bei der Antwort dieser Frage sehe ich (das sollte nicht wundern) nicht die Notwendigkeit versteckt einen Vitalismus wieder einzuführen und wenn wir stattdessen auf die Physik schauen, ist es die Entropie, die hier den Weg zu einer Antwort zeigt.

  8. Der Zeitpfeil der Entropie wirkt sich natürlich auch auf unseren Stoffwechsel aus.

    Wir verwandeln energiereiche und hochgeordnete Nahrung in energiearme und ungeordnete Ausscheidungsprodukte.

    Diese hochwertige Nahrung müssen wir uns in einer räumlichen und in einer zeitlichen Entfernung beschaffen.

    Diese Bewegung in eine zukünftige Raumzeit wird von unserem Gehirn gesteuert, das für diese Tätigkeit optimiert ist.

    Natürlich hat das Gehirn nur Informationen über die Nahrung, die es bereits gefunden hat, aber keine Informationen über die Nahrung, die es noch finden wird.

    Natürlich entsteht diese hochwertige Nahrung nicht von selbst, sondern dadurch, dass die Erdoberfläche eine hochwertige Strahlung von mehr als 5000 Kelvin absorbiert, und sie dann als niederenergetische Strahlung von weniger als 300 Kelvin abgibt, in einen Raum hinein, der kälter als 3 Kelvin ist.

    Die anwachsende Entropie des Universums treibt einen Energiefluss an, der den Lebewesen vorübergehend ermöglicht, ihre Entropie zu verringern.

  9. Markus A. Dahlem schrieb (1. Februar 2014):
    > […] es gibt eine verständliche Einführung von Sean Carroll, eine Vorlesung allein zum Zeitpfeil. Sie ist erschienen in der Reihe The Great Courses (TGC) […] den Audio Kurs […] habe ich gehört und kann ihn sehr empfehlen.

    Hat das Abhören dieses Kurses dabei geholfen, Entscheidungen zu treffen, die zum Schreiben der zitierten Textteile erforderlich waren; also insbesondere

    – die Formulierung “es gibt” zu wählen, anstatt z.B. “gäbe es”;

    – die Formulierung “ist erschienen” zu wählen, anstatt z.B. “könnte erscheinen”;

    – die Formulierung “habe ich gehört” zu wählen, anstatt z.B. “würde ich hören”
    ?

    Oder konnten solche Entscheidungen von vornherein getroffen werden?
    Ist die Fähigkeit, solche Entscheidungen zumindest im Prinzip treffen zu können, eventuell sogar vorauszusetzen, um den empfohlenen “Audio Kurs” hören und verstehen zu können? …

  10. Augustinus von Hippo (354-430), Bekenntnisse, Buch 11, Kapitel 20:

    “Das ist nun wohl klar und einleuchtend, daß weder das Zukünftige noch das Vergangene ist. Eigentlich kann man gar nicht sagen: Es gibt drei Zeiten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, genau würde man vielleicht sagen müssen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Gegenwart, eine Gegenwart in Hinsicht auf die Vergangenheit und eine Gegenwart in Hinsicht auf die Zukunft. In unserem Geiste sind sie wohl in dieser Dreizahl vorhanden, anderswo aber nehme ich sie nicht wahr. Gegenwärtig ist hinsichtlich des Vergangenen die Erinnerung, gegenwärtig hinsichtlich der Gegenwart die Anschauung und gegenwärtig hinsichtlich der Zukunft die Erwartung. Wenn es uns gestattet ist, so zu sagen, so sehe ich allerdings drei Zeitunterschiede und gestehe, daß es wirklich drei gibt. Man mag auch sagen: Es gibt drei Zeiten, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, wie es einmal der Mißbrauch der Gewohnheit ist; mag man es sagen, ich kümmere mich nicht darum, ich widerstrebe nicht, ich tadele es nicht; wem man nur versteht, was man sagt, und nicht der Meinung ist, als ob das Zukünftige oder Vergangene jetzt sei. In der Sprache gibt es weniges, was mit dem eigentlichen Ausdruck gesagt werden kann, das meiste uneigentlich, dessenungeachtet erkennt man, was wir wollen.”

    Ich habe an anderer Stelle über diese Frage gebloggt:
    https://scilogs.spektrum.de/wirklichkeit/vierdimensionalit-t-r-ckkehr-des-geist-materie-dualismus/
    und
    https://scilogs.spektrum.de/wirklichkeit/ein-stein-rollt-2/

    Hier trifft man auf bestimmte unhintergehbare Voraussetzungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die ich als “personales Wirklichkeitsverhältnis” charakterisieren würde. Ein wesentlicher Zug dieses Wirklichkeitsverhältnisses besteht darin, dass wir geschichtliche Wesen mit einer bleibenden Vergangenheit sind – und dadurch z.B. reale Veränderungen in der Zeit beobachten können – und zugleich mental Optionen/Möglichkeiten einer uns offen erscheinenden Zukunft durchspielen können, so dass wir uns nicht nur verhalten, sondern handeln.

    • Danke für das Zitat!

      Was ich am Ende nicht verstehe ist Deine Formulierung: “unhintergehbare Voraussetzungen naturwissenschaftlicher Erkenntnis”, die Du auch als “personales Wirklichkeitsverhältnis” bezeichnest (charakterisierst).

      Ich frage mich warum kognitive Systeme “geschichtliche Wesen mit einer bleibenden Vergangenheit sind” und ob auch technische/physikalische Systeme in einer Form geschichtliche Systeme sind, die eine mit einer bleibenden Vergangenheit haben.

      • In den verlinkten Blogbeiträgen führe ich aus, dass wir, wenn wir naturwissenschaftliche Erkenntis für möglich halten wollen, von der bleibenden Wirklichkeit des Vergangenen ausgehen müssen: was je wirklich war, kann im Nachhinein nicht mehr ungeschehen oder geändert werden. Die Wirklichkeit des Vergangenen hängt keinesfalls von unserer Erinnerung oder unserem historischen Wissen ab, sondern im Gegenteil müssen sich Erinnerung und Wissen an dem, was wirklich war, bemessen lassen. Ohne diese Annahme wären nicht nur historische Naturwissenschaften (Kosmologie, Geologie usw.) obsolet, sondern Naturwissenschaft überhaupt, weil sie im Wesentliche Veränderungen in der Zeit zu erklären versucht. Die Annahme ist deswegen heikel, weil wir (1) tatsächlich nicht in die Vergangenheit zurückkehren können und (2) während eines großen Teils der beforschten Geschichte noch überhaupt kein (menschliches) Bewusstsein in diesem Universum war.

        Wenn wir technische Systeme als Erinnerungshilfe nutzen – von Videos über Netzwerke bis Chips – nutzen *wir* sie in einer Weise, die unserem Zeitbewusstsein entspricht. Diese Geräte wissen selbst aber nichts von irgendeiner Vergangenheit, sie befinden sich jetzt in dem Zustand, in dem sie sich nun einmal befinden – und daran ändert sich auch dadurch nichts, dass wir irgendwo ein altes Datum oder einen Time Marker in sie “eingravieren”, weil wiederum nur uns als bewussten Usern dieses Datum oder dieser Zeitcode etwas sagt und auf die Vergangenheit verweist, von der nur wir wissen, nicht aber das technische Gerät.

        Der einfach Verweis auf das Gehirn als materielle Struktur in einem je jetzigen Zustand kann daher – bei unserem jetzigen Kenntnisstand – keine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Gedächtnisses und damit des Zeitbewusstseins bzw. unseres historisch angelegten personalen Wirklichkeitsverhältnisses sein. Der Verweis auf das Gehirn erklärt heute daher auch noch nicht, wie so etwas wie naturwissenschaftliche Erkenntnis in diesem Universum überhaupt möglich ist.

        Für mich sind nur Fragen nach den metaphysischen und erkenntnistheoretischen (metanoetischen) Voraussetzungen, die man machen muss, wenn man (natur-)wissenschaftliche Erkenntnis für möglich hält, philosophische Fragen im eigentlichen Sinne. Aus Naturwissenschaft ein populäres Weltbild machen, zähle ich hingegen nicht dazu. (Nur Ersteres berührt auch Fragen der Theologie.)

        • Ich verstehe nicht genau was Du meinst, was aber daran liegt, das ich eben auch nicht Deine anderen Beiträge alle las und teilweise die Begriffe nicht genau kenne und nun nicht nachgearbeitet habe.

          Mir scheint aber, das wir uns schon nicht widersprechen sondern eher über andere Dinge reden. Zum Beispiel ist mir klar das ich (d.h. mein Thema in dem Beitrag) nichts zu “Fragen der Theologie” beisteuern kann.

  11. Hi Karl Bedanik,

    “Die anwachsende Entropie des Universums treibt einen Energiefluss an, der den Lebewesen vorübergehend ermöglicht, ihre Entropie zu verringern.”

    Die Entropie treibt garnichts an. Sie ist keine physikalische Kraft oder Energie. Sie bewirkt Null komma Garnichts. Entropie ist eine beschreibende physikalische Grösse, welche zusammenfasst, dass in abgeschlossenen Systemen nach und nach auf Grund der abgegebenen Strahlung alle Wechselwirkungen abnehmen (das System ein Energieminimum anstrebt).
    Entropie beschreibt einen Vorgang, ist aber ursächlich zu nichts wirksam.
    Der Zeitpfeil ist rein physikalisch nicht erklärbar.
    Grüsse Fossilium

    • Hallo fossilium,

      es ist viel wahrscheinlicher, dass die Photonen die Sonne verlassen, als dass die Photonen aus dem Weltraum zur Sonne zurück kehren.

      Wenn sich ein Gasbehälter in den Weltraum hinein entleert, dann ist die treibende Kraft der Gasdruck, der aus den Bewegungen der Gasmoleküle aufgebaut ist.

      Von zehn hoch viele Milliarden Universen gibt es vielleicht ein Universum, in dem die hier beschriebenen Vorgänge umgekehrt ablaufen.

      Womöglich ist sogar unser Universum auf diese Weise entstanden.

    • Das sehe ich nicht so: “Der Zeitpfeil ist rein physikalisch nicht erklärbar.”

      Ich hoffe das wurde im Beitrag nicht falsch verstanden. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik erklärt allerdings nur einen doppelten Zeitpfeil mit zwei Spitzen, d.h. wir müssen noch ein Minimum festlegen. Den Tag “Null”. Dieser Tag ist nicht der Tag, den ein kognitives System mit “heute” bezeichnen würde, sondern irgendein Tag von dem an sich die Entropie in beide Zeitrichtungen erhöht (hier nutze ich das Anthropische Prinzip und schließe sogenannte Boltzmann-Gehirne aus). Erst diese Erhöhung ermöglicht die Entstehung komplexer Systemen. Einige dieser komplexen Systemen zeigen verhalten, die diese Systeme selber als “mentale Prozesse” bezeichnen, so dass sich diese Systeme als kognitive Systeme verstehen.

      Eine noch ungeklärte Frage ist, warum das Minimum überhaupt so niedrig ist, und das Universum nicht eher mit einer hohen Entropie “startet”. Dazu habe ich aber im Beitrag oben auch eine der möglichen Erklärungen schon gleich als erstes verlinkt. Auch ungeklärt ist, es wirklich in der “anderen Richtung der Zeit” auch weiter geht.

  12. Begriffe wie ´Zeitpfeil/Zeitrichtung´ sollten genauer defindiert werden – sonst hat man bald das Problem, diskutieren zu müssen, dass sich Licht in unterschiedlichen Richtungen ausbreitet.

    • Den Einwand verstehe ich (noch) nicht.

      Mit “Zeitpfeil” meine ich die Richtung die der unabhängigen Variable t in den Bewegungsgleichungen der Physik vorgegeben wird. Diese unabhängige Variable kann ich gegen t’ austauschen mit der Transformation t’=-t. Dann erhalte ich die selben Gesetze (genaugenommen muss man Ladung und Parität auch umkehren, aber das ist in diesem Zusammenhang ein unwichtiges Detail).

      • Als Diskussionsgrundlage sollte definiert werden, in welchem Zusammenhang und wozu ein Begriff verwendet wird.
        Verwendet man den Begriff ´Zeitpfeil´ in Formeln, dann ergibt sich eine völlig andere Bedeutung, als wie wenn man den Begriff in Schilderungen des eigenen Erlebens verwendet (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft). Unser Erleben geschieht immer in der Gegenwart.

  13. Spielt bei diesen Zeitpfeilbetrachtung die „Information“ eine Rolle?

    Wir können einen Film vorwärts und rückwärts laufen lassen. Das geht, weil alle Informationen in dem Film vorhanden sind. Im realen Leben entsteht Information aber immer neu. Ich vermute, nur in einem absolut determinierten Universum könnte ein Dämon die Zeit rückwärts laufen lassen. Denn nur dort könnte z. B. in einem Spiegelei die Information für die Freilandhaltung der Henne enthalten sein.

    • @Balanus / Zeitpfeil, Daemon, Information

      Hier wäre es vielleicht angebracht, die Begriffe etwas zu sortieren.

      Die thermodynamische Entropie, wie von Clausius ad hoc eingeführt, hat überhaupt keine intuitive Deutung. Der Aspekt von Information kommt erst durch die statist. Mechanik herein. Die berühmte Boltzmann Formel, S = k log(W), bringt’s noch nicht, aber die allgemeinere Formel von Gibbs zeigt formal dieselbe Struktur wie die von Shannon.

      Die Gibbs Entropie S zur Zeit t beschreibt dann anschaulich so etwas wie ein Defizit an Information über den Systemzustand zu diesem Zeitpunkt. Doch nicht eine positive Entropie impliziert Irreversibilität, sondern deren monotone Zunahme, also wenn dS/dt > 0. Die zeitliche Asymmetrie kommt hier genaugenommen nicht durch die Entropie zustande, sondern dadurch, dass das System dissipativ ist. (Mehr dazu hat Wolkenstein, sowohl zur Thermodynamik als auch den dissipativen Strukturen im Sinne von Prigogine.)

      Doch hat das etwas mit der Entropie zu tun, die den Laplace Daemon daran hindert, seinen Job als Wahrsager beim Doppelpendel erledigen zu können? Das ideale Doppelpendel ist nicht dissipativ, und man könnte an ihm in einem Film nicht erkennen, ob der Film vor- oder rückwärts läuft. Nun, die Entropie dynamischer Systeme, die dem Daemon das Leben sauer macht, beschreibt eben ganz etwas anderes. Sie kennzeichet insbesondere keinen Zustand, sondern einen Prozess. Grob gesagt misst sie einen Grad an Information, die das System pro Zeitschritt im Mittel erzeugen kann. Dies entspricht wiederum der algorith. Komplexität generischer Orbits des dynamischen Systems und ist somit ein Mass für deren Unvorhersagbarkeit.

    • @Chrys

      »Ohne an die Gerichtetheit der Zeit zu rühren, kann man Ereignisse in der Zeit so legen, daß die Ursachen den Wirkungen vorangehen. Das hat etwas mit der Ordnung in der Zeit zu tun, aber noch nicht mit Ihrer Gerichtetheit.«

      Na, wer hat das gesagt?

    • @Balanus

      »Na, wer hat das gesagt?«

      Meine Vermutung wäre, dass es im zitierten Text sinngemäss wie folgt weitergeht:

      But such matters are puzzling. We shall not attempt to provide answers to such complex questions, lying as they do on the boundary between physics and philosophy.

      Falls das stimmt, dann weiss ich die Antwort. 😉

      Bei der Gelegenheit sei noch auf einen zeitpfeiligen SciAm Artikel hingewiesen (wirklich lesenswert, wie ich meine):

      Layzer, D. (1975). The arrow of time. Scientific American, 233(6), 56-69. [PDF]

    • @Chrys

      Wow, … aber eigentlich habe ich’s nicht anders erwartet 

      Das hier: “But such matters are puzzling”, fehlt in der mir vorliegenden deutschen Übersetzung von Wolkensteins „Entropie und Information“, bzw. ist etwas anders formuliert.

      Und danke für den Link!

  14. Hi Marcus A. Dahlem,
    auch der zweite Hauptsatz der Thermondynamik beschreibt den Zeitpfeil nur, er führt ihn nicht auf irgendeine fundamentale Kraft, Antrieb, Disposition o.ä. zurück.
    Der Grund, warum jedes abgeschlossene physik. System ein Energieminimum anstrebt, ist physikalisch unerklärt. Falls Sie dies nicht glauben, nennen Sie den Grund !
    Übrigens gibt es auch irreversible Mikroprozesse: die Dekohärenz eines verschränkten quantenmechanischen Systems lässt sich zeitlich nicht umkehren ! Allerdings gibt es auch keine mathematische Formel, die diesen Prozess beschreibt, und in der man t durch t´ ersetzen könnte.
    Grüsse
    Fossilium.

  15. Der Grund, warum jedes abgeschlossene System eine Verteilung der Energie anstrebt, lässt sich leicht erklären.

    Wenn sich ein Gasbehälter in den Weltraum hinein entleert, dann ist die treibende Kraft der Gasdruck, der aus den Bewegungen der Gasmoleküle aufgebaut ist.

    In dem Gasbehälter sind viele Moleküle und wenig Zwischenräume, während es im Weltraum genau umgekehrt ist.

    Bei rein zufälligen Bewegungen der Gasmoleküle ist die Wahrscheinlichkeit für ihre Rückkehr in den Gasbehälter ungefähr Gasbehältervolumen geteilt durch das Weltraumvolumen.

    Antimaterieteilchen sind nach Richard P. Feynman Materieteilchen, die in der Zeit zurücklaufen.

    Das gilt aber nicht für Gasbehälter aus Anti-Eisen, die mit Anti-Wasserstoffgas gefüllt sind, denn diese würden sich immer noch in den Weltraum hinein entleeren.

    Auch hier besteht die Zukunft in der Verteilung im freien Raum.

    Antimaterieteilchen haben ebenfalls eine positive Masse und Energie, und werden daher auf die Gravitation genau so reagieren wie Materieteilchen.

    Beide Arten von Teilchen fallen zu Gravitationszentren hin, und geben ihre kinetische Energie als Strahlung in den strahlungsärmeren Raum ab.

    Der Grund, warum die Strahlung nicht zurück kommt, liegt an der Grösse des leeren Raumes.

    Wenn allerdings Materieteilchen und Antimaterieteilchen mit niedriger Relativgeschwindigkeit auf einander treffen, dann entsteht sofort sehr viel mehr Strahlung.

    http://members.chello.at/karl.bednarik/ANANTRI.jpg

  16. Hallo Herr Bednarick,

    “Wenn sich ein Gasbehälter in den Weltraum hinein entleert, dann ist die treibende Kraft der Gasdruck, der aus den Bewegungen der Gasmoleküle aufgebaut ist.”

    Die Zeitrichtung lässt sich nicht mit Phänomenologien erklären, bei denen Prozesse immer in eine Richtung ablaufen. Die Beschreibung eines Phänomens und die verschiedenen Faktoren, die man als Ursache für den Prozess anführen kann, erklären nur, warum ein spezieller Prozess nicht umkehrbar ist, aber eine solche Beschreibung führt dies nicht auf ein allgemeines Prinzip, eine für alle Phänomene dieser Art geltende Ursache, zurück.

    Das einzige allgemeine Prinzip, das für die Zeitrichtung steht, ist – wie schon gesagt – die unerklärliche Tatsache, dass jedes physikalische System seine innere Energie durch Abgabe von Energie über die Systemgrenzen hinweg zu minimieren versucht.

    Wenn Sie dafür einen Grund nennen (ausser dem mystischen plötzlichen Vorhandensein von Energie im Urknallmoment), erhalten Sie sicher den Nobelpreis.

    Grüsse Fossilium

    • Durch die Ausdehnung des Universum nimmt der Energieinhalt pro Volumen immer mehr ab. Hier haben Sie einen entscheidenden Grund, warum die Zeit in eine Richtung verläuft

    • Hallo fossilium,

      die Tatsache, dass jedes physikalische System seine innere Energie durch Abgabe von Energie über die Systemgrenzen hinweg zu minimieren versucht, erklärt sich dadurch, dass jedes System Energie abgeben kann, und Energie aufnehmen kann.

      Jene Systeme, die mehr Energie enthalten, können mehr Energie abgeben, als jene Systeme, die weniger Energie enthalten.

      Aus diesem Grund nehmen jene Systeme, die weniger Energie enthalten, mehr Energie auf, als jene Systeme, die mehr Energie enthalten.

      Auf diese Weise kommt ein Ausgleich der Energieverteilung zustande.

  17. In der Mathematik gibt es keine Zeit, das heißt, in mathematischen Formulierungen von Vorgängen, lässt sich die Zeit problemlos umgekehren.

    Platon und die “Platonisten” betrachteten mathematische Objekt deshalb als eine Art überzeitliche Entität.
    Heute kann man oft lesen, die Mathematik habe keinen “Objektbezug”, sondern stelle nur formale Beziehungen auf einer abstrakten Ebene dar.

    In der realen Physik jedenfalls scheint es eine Zeit zu geben. Wieso das (der allgemeine Sachverhalt) so ist, erscheint mir wie ein Rätsel.

  18. Die Woche war nicht genug Zeit, um immer gleich die Fragen in den Kommentaren oder Aussagen zu beantworten bzw. ebenfalls zu kommentieren.

    Einige Aussagen kommen mir seltsam vor. Für die, die den Zeitpfeil besser verstehen wollen, sich nicht sich von der Englischen Sprache abschrecken lassen (oder den US$40), denen sei nochmal die verständliche Einführung von Sean Carroll ans Herz gelegt.

    Ich schreibe bestimmt auch nochmal einen Beitrag. Wahrscheinlich schon in Kürze. Das scheint mir lohnenswerter als nun verspätet hier alles zu kommentieren.

  19. Pingback:Arbeitet die Physik immer reduktionistisch? Thermodynamische Fußnote › Graue Substanz › SciLogs - Wissenschaftsblogs

Schreibe einen Kommentar