Der Wärmetod im Gehirn und seine Brüder
BLOG: Graue Substanz
Der Wärmetod des Universums besiegelt endgültig das Schicksal des Universums: In einem Zustand ohne freie Energie kann Leben nicht aufrecht erhalten werden. Den Wärmetod gibt es aber auch im Gehirn und er hat dort zwei Brüder.
Im Kinderzimmer ist es samstagabends soweit, die maximale Unordnung wird erreicht. Maximale Unordnung, so lautet eine andere Formulierung des Wärmetodes. Solange diese Unordnung nur lokal erreicht ist, gibt es Hoffnung. Wie fleißige Eltern – oder Großmutter in unserem Fall – verhindern Ionenpumpen den Wärmetod im Gehirn. Darum geht es in einer Arbeit, die gerade publiziert wurde.*
Wir schlagen vor, die elektrophysiologischen Vorgänge im Gehirn nach einem Schlaganfall als einen eben solchen Wärmetod anzusehen, um so einen thermodynamischen Referenzwert zu erhalten, bezüglich dem wir andere krankhafte Ereignisse im Nervengewebe messen können.
Nervenzellen beziehen ihre Energie aus einem Gefälle von elektrisch geladenen Teilchen, den Ionen. Außen sind viele Natrium- und Chlorid-Ionen. Die waren schon immer da, schon zu Zeiten als nur die Einzeller im kochsalzhaltigen Meer schwammen. Im Inneren der Zellen werden diese Ionensorten des Kochsalzes dagegen in deutlich geringer Konzentration gehalten und das geht nicht ohne Aufwand, da diese Ionen in die Zellen hinein diffundieren können, in der Richtung, die das Gefälle in der Konzentration ausgleichen würde. Also müssen aktive Ionenpumpen genau dies verhindern. Denn wenn alles gut durchmischt wird, ist dieses perfekte Gleichgewicht an Konzentrationen der Wärmetod.
Die Ionenpumpen brauchen für ihre Aufgabe Energie.
Wenn diese Energie fehlt, weil zum Beispiel die Blutversorgung verstopft ist, geht alles seinem thermodynamisch geregelten Gang dem Gleichgewicht entgegen. Die perfekt ausgeglichene Mischung setzt die Gibbs-Energie frei (früher freie Enthalpie genannt). Das ist die frei verfügbare Energie mit der Nervenzellen normalerweise kommunizieren. Dass alles ist eigentlich gar nicht wirklich neu.
Unbekannt war dagegen, wie zwei grundlegende, pathologische Ereignissen im Nervengewebe als Annäherung hin zu den thermodynamischen Gleichgewicht zu betrachten sind: epileptische Aktivität und die Ausbreitung von Depolarisationen (auch Spreading Depression genannt), wie sie u.a. bei Migräne eine Rolle spielen. Bei beiden ist noch Gibbs-Energie verfügbar. Nur wie viel?
Bei epileptischer Aktivität sogar noch recht viel. Bei Migräne dagegen kommt es zur nahezu vollständigen Freisetzung der Gibbs-Energie. Unsere Berechnungen zeigen bei einem schrittweisen Übergang von dem physiologisch gesunden Zustand zunächst sehr schnell die epileptische Aktivität und erst viel später die migränöse Depolarisation bis schließlich die Gibbs-Energie vollkommen freigesetzt wird. Das sind nicht wirklich schrittweise Übergänge. Zum einen unterscheidet sich die Epilepsie in vielen Aspekten vom Schlaganfall und Migräne. Zum anderen kann man die Migräneaura und den ischämischen Schlaganfall eher als ein Kontinuum betrachten.
Trotzdem kann man vereinfacht Epilepsie und Migräne als des Wärmetodes kleine Brüder sehen, wobei die Migräne der größere der beiden ist, der sich energetisch kaum unterscheidet. Wenn der Tod 22 Jahre alt ist, dann ist Migräne 19.5 Jahre, Epilepsie dagegen ist ein Kleinkind, noch keine 3 Jahre alt. Die elektrophysiologischen Vorgänge bei Migräne mit Aura erscheinen uns als ein Dämmerzustand dem Tode sehr nahe. Es ist eine der spannenden Fragen, warum (zum Glück) das Gehirngewebe immer noch gerade rechtzeitig die Kurve kriegt und sich von Migräne mit Aura erholt.
Referenz:
* Dreier J.P., Isele T., Reiffurth C., Offenhauser N., Kirov S.A., Dahlem M.A., Herreras O. „Is Spreading Depolarization Characterized by an Abrupt, Massive Release of Gibbs Free Energy from the Human Brain Cortex?“ Neuroscientist. 2012 Aug 20. doi
Verständnis
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, liegt das eigentliche Problem bei der Regelung der Energiezufuhr (Blutversorgung). Der ´Wärmetod´ ist nur ein Sekundäreffekt.
Referenzwert
Es geht hier nicht um die Ursachen sondern um einen Vergleichsmaßstab. Das Nervengewebe ist fern vom thermodynamischen Gleichgewicht (Wärmetod) und diese Ferne nehmen wir als Referenzwert.
Migräne Symptom eines erkannten Problems
Wenn Migräne einem partiellen Hirntod nahe kommt, dann ist es wohl so, dass es sich bei Migräne um ein bekanntes Problem handelt, mit dem das Hirn (oder die Evolution des Hirns) aus grundsätzlichen Gründen schon lange kämpfte. Deshalb hat die Evolution wohl dafür gesorgt, dass es nur zur Todesnähe und nicht zum Tod selber kommt. Es wird also einen Selbstbegrunzungsmechanismus geben.
@ Martin Holzherr: Einen “Selbstbegrunzungsmechanismus” würde ich sehr gerne mal in Aktion sehen 🙂
Ich werd mir morgen an der Uni das Paper mal besorgen. Ich hatte bisher noch keine Ahnung, wodurch eine Migräneaura erzeugt wird; wegen des Flimmerns nahm ich an, dass die zugrundeliegende Ursache eher eine rhytmische Aktivität der Neurone wäre. Stattdessen, wenn ich das richtig verstehe, ist der betroffene Gehirnbereich komplett lahmgelegt, oder?
Aura
Ja, wobei ich hier nur von der Migräneaura spreche.
Nervenzellen speichern Energie wie Battereien in chemischen Gradienten,
die bei Migräne mit Aura sich innerhalb weniger Sekunden entladen werden können. Diese massive Störung im Energiehaushalt kann sich durch Diffusion der freigesetzen
Ionen im extrazellulären Raum des Nervengewebe ausbreiten und geht mit einer zeitweisen Unterdrückung aller Nervenaktivität einher. Die sich ausbreitende Unterdrückung der
Aktivität führt zu seltsamen Symptomen (Aura). Ob sie auch die Kopfschmerzen verursacht ist noch nicht geklärt.
Wärmetod und andere Tode
Unterscheidet sich der Wärmetod qualitativ von anderen (thermodynamischen) Gleichgewichtszuständen oder ist er nur, angesichts der Umstände, als der exquisiteste von allen zu nennen?
Spektrum als Synapsenschrittmacher
Nochmal nachgetragener Dank und Nachgedanken über einen vielfach anregenden, dank der Metaphorik so verständlichen wie übertragbaren Ansatz..
Für meine synaptischen Ionenpumpen bringt das Lesen in diversen Scilogs immer wieder neue Energie; Investierte Zeit dafür sollte als Gesundheitsvorsorgeaufwendung absetzbar sein.
Besonders passend für mein Leseerlebnis heute, dass ich just zuvor auf dem neuen englischen Scilog “Gray Matter” über die Mechanismen und Wirkungen von Migräne-Aura sehr anschaulich Neues gelernt habe… vom gleichen Autor, ebenso anregend: http://www.scilogs.com/gray-matters/migraine-attack-dont-drive/
Mehr über eigene Wahrnehmung nachdenken, wie nach letzterem Artikel, mehr Zusammenhänge zu verstehen beginnen, wie seit der Lektüre des vorliegenden – verringert jedenfalls deutlich das gefühlte Risiko, einem eigenen Wärmetod vorzeitig auf die Schippe zu hüpfen – und auch die Risiken versehentlich im Alltag über die eine oder andere Schippe zu stolpern.
Am I going out too far on a limb by suggesting that perhaps curiosity doesn’t kill…, but can help keeping any individual’s synaptic network in a dynamic balance of “pump action” – possibly preventive of entropic (re)lapses?
Universum und dahinter
@Jörg: der Wärmetod ist eigentlich für das thermodynamische GG des Universums bestimmt. Aber ansonsten ist da nichts besonderes und jedes abgeschlossene System (wenn denn das Universum überhaupt eines ist) nähert sich einem GG.
@textgruen Freue mich über jeden neuen Leser.
Thermodynamik
“Es ist eine der spannenden Fragen, warum (zum Glück) das Gehirngewebe immer noch gerade rechtzeitig die Kurve kriegt und sich von Migräne mit Aura erholt.”
Gibt es eigentlich migräneähnliche Vorgänge auch bei anderen Tieren? Die Thermodynamik hat ja einen breiten Anwendungsbereich. Noch eine Frage: Was ist eigentlich der Mechanismus, der für die Ausbreitung der Depolarisation sorgt? Einfache Diffusion eines Botenstoffs oder doch eine Wechselwirkung zwischen Informationsverarbeitung und Thermodynamik auf einer Zwischenskala?
Maus-Grimassen-Skala
@HF Zur Migräne bei Mäusen: Auf der Maus-Grimassen-Skala eine 4.
Ausbreitung: Einfache Diffusion, wahrscheinlich die der extrazelluläre Kalium-Ionen.
@Markus, Joseph und seine Brüder
“…der Wärmetod ist eigentlich für das thermodynamische GG des Universums bestimmt…”
Das war mir (natürlich) bekannt. Ich wollte eigentlich darauf hinaus, ob die Benutzung des Begriffes in diesem Zusammenhang reine Publicity ist, oder, Hand aufs Herz, zur Klarheit beitragen soll. Es handelt sich insofern um eine freundschaftliche Kritik, nicht auf Breite zu formulieren, sondern auf Höhe.
Stilkritik, noch ein Ehrliches
“Der Wärmetod des Universums besiegelt endgültig das Schicksal des Universums..” Sonore Stimme, musikunterlegt.
Handelt es sich hier um Wissen? Traut sich jemand zu, zu erklären, was Endgültigkeit (folgerichtig in den Zusammenhang mit Schicksal gesetzt) bedeutet (bedeuten soll)? Wie wird Endgültigkeit in der ([…] theoretischen) Physik behandelt und aufgefaßt?
Geradeaus gefragt, warum reicht nicht die pure Fulminanz der Erkenntnisse als Stichwortgeber?
andauernd
Wann entsteht das ZickZack, ist es der Moment in dem die Zelle beinahe ihre gesamte Energie abgibt?
Was wäre wohl wenn die Zelle die Möglichkeit hätte ihre Energie umgehend zu ersetzen, würde die Aura dann niemals enden? Wäre das womöglich eine Erlärung für eine persistierende Migräneaura?
@Alex
Im Prinzip ja. (Ich fasse mich mal kurz.)
Off Topic
In den letzten Wochen war Manfred Spitzer öfters mal in der Flimmerkiste um seine, meiner Meinung nach irreführenden, Thesen zu verbreiten. Ein Blogbericht zum Thema “Digitale Demenz” wäre sicher sehr lesenswert!
Neurodidaktik und Digitale Demenz
Ich habe mich 2003 mal mit Spitzer länger unterhalten können, damals im Rahmen der Nachwehen des PISA-Schocks von 2001.
Spitzer hat u.a. gegen zuviel fernsehen gewettert (was ich gut fand).
Von wem berechtigterweise was in der Digitalen Demenz-Debatte zu hören ist, wiederholt in Teilen einen alten Streit der 2003 aufkam, nämlich ob Neurobiologen überhaupt etwas hierzu sagen können oder doch eher Pädagogen. Der Streit wurde damals in der Zeit geführt und begann mit Jochen Paulus’ Kritik, dass Wissenschaftler nur dürftige Beweise anführen können, wie mit Hilfe neurobiologischer Erkenntnisse die Pädagogik zu revolutionieren sei.
Eine Woche später antworteten dann Spitzer (“Medizin für die Pädagogik”) und Hennig Scheich (“Lernen unter der Dopamindusche”) in zwei Beiträgen zu dieser Neurodidaktik-Debatte.
Wieder eine Woche später wies dann Elsbeth Stern (“Rezepte statt Rezeptoren”) darauf hin, dass die “Auseinandersetzung mit schulischem Lernen … jenseits der (Hirnforschungs-)Labors eine lange Tradition in der Psychologie, der Pädagogik und den Fachdidaktiken” hat und auch in der dritten Woche gab es noch eine weiteren Beitrag “Im Land der märchenhaften Zahlen” von Gerhard Friedrich, der eher die Brücken baut.
Die Auseinandersetzung mit den Digital Natives sollte wohl auch vorwiegend jenseits der Hirnforschungslabors geführt werden, ich selber kann nichts dazu beitragen, außer eben auf diese alte Kompetenz-Debatte mal wieder hinzuweisen.