Cortical Spreading Depression und Migräne – Letzte offene Fragen einer neuen alten Theorie

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Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Seit etwas über zehn Jahren gewinnt eine jahrzehntelang ignorierte Migräne-Theorie an Ansehen. Einige wenige Fragen sind noch offen.

sdmohyOliver Sacks war einer der ersten. 1992 schrieb er in seinem populärwissenschaftlichen Buch “Migräne” darüber. Ausgearbeitet wurde sie in den 1980er Jahren, nicht zufällig in einer Zeit, in der die Chaosforschung auf ihren Zenith zuging. Die Rede ist von der “Spreading-Depression-Theorie der Migräneso auf den Punkt gebracht titelte ein Übersichtsartikel aus dem Jahr 1994 [1].

Wobei schon 1945 das gerade erst ein Jahr zuvor entdeckte Phänomen der “Cortical Spreading Depression” mit Migräne in Zusammenhang gebracht wurde [2]. Doch dies wurde jahrelang konsequent nicht beachtet. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Gleich mehrfach wurde dieser Zusammenhang zwischen Spreading Depression und Migräne “neu”, sprich wiederentdeckt, z.B 1958 [3]. Andere versuchten es mit Wiederbelebung. Forschergruppen um den Entdecker der Cortical Spreading Depression, Aristides Leão (1914 – 1993),  und seinen Schüler Hiss Martins Ferreira (1920 – 2009) in Brasilien, oder in Tschechien (damals noch Tschechoslowakei) um Jan Bureš (1926 – 2012), so wie eine heute noch sehr aktive Gruppe aus Dänemark, die in den 1980er Jahren die Speerspitze hielt [4] und u.a. besagten Übersichtsartikel schriebt [1], sie alle* brachten nur mühsam die Spreading-Depression-Theorie der Migräne voran.

Zu guter Letzt etablierte sich diese Theorie nämlich erst ab 2001. Eine wirklich hübsche Studie mit funktioneller Bildgebung vermochte mehr als alle Versuche zuvor [5] – was viel über unser Bedürfnis Theorien mit bunten Bildern zu belegen sagt, wenig aber über den Mangel der Daten zuvor.

Was ist eine Cortical Spreading Depression?

Der Neurologe Jens Dreier bezeichnet in der Zeitschrift NeuroForum das Phänomen der kortikalen (also die Großhirnrinde – Kortex – betreffend) Spreading Depression als „das mit weitem Abstand wichtigste pathophysiologische Phänomen des Hirns“, weil Cortical Spreading Depression nicht nur mit Migräne sondern auch mit Schlaganfall und Epilepsie zusammenhängt. Das beantwortet natürlich noch nicht die Frage, zeigt aber, dass es verschiedene Blickwinkel gibt.

Aus Sicht der Migräne ist die Spreading Depression ein sich ausbreitender (spreading) gleichwohl vorübergehender Zustand. Ein Zustand in dem Nervenzellen fast völlig entladen und damit inaktiv (depressed) werden. Die Nervenzellen geraten in diesen Zustand, da sie ihre verfügbare freie – im thermodynamischen Sinn – Energie viel viel schneller verbrauchen als sie ihnen über den normalen Stoffwechsels wieder zugefügt werden kann. Das ist so, wie wenn man mit vollem Portemonnaie Hunger leidet, weil der Kühlschrank leer ist. Aus Sicht des Schlaganfalls ist bei CSD auch das Portemonnaie betroffen. Nervenzellen können dann den Hungertod sterben. Aus Sicht der Epilepsie füllt sich der Kühlschank rasch und immer wieder (Stichwort: bursting) bevor er auch nur 10% entleert wird, der Konsum ist also bedenklich hoch, ohne je Hunger zu leiden. (Was zu präzisieren wäre.)

Übrigens, der Name des Phänomen ist schon im Original eher unglücklich gewählt, doch die Übersetzung in Deutsch ist noch problematischer: die (Cortical) Spreading Depression heißt dort (kortikale) Streudepolarisierung. Bleiben wir bei Cortical Spreading Depression oder kurz CSD oder SD.

Anfang des Jahres wurde in der Zeitschrift Science eine Arbeit veröffentlicht, die zeigt wie CSD Kopfschmerz auslösen kann [6]. Der Mechnismus, der von CSD zum Kopfschmerz bei Migräne führt, galt lange als Missing Link. Einige stellen den jetzt vorgeschlagenen Mechanismus zwar noch in Frage, doch sind die Fortschritte in der Theorie unverkennbar.

Der aktuelle Stand der Forschung wurde vor wenigen Wochen in der Zeitschrift Nature Reviews Neurology unter dem Titel “Cortical spreading depression and migraine” zusammengefasst [7].

Der letzte Abschnitt dieses Reviews mit der Überschrift “Schlussfolgerungen und offene Fragen” (“Conclusions and unresolved questions“) geht auf unsere Forschungsarbeit ein. Er beginnt wie folgt:

Wenn CSD [Corticale Spreading Depression], wie es im Tiermodell charakterisiert wurde, tatsächlich bei Migräne auftritt, bleiben eine Reihe von Fragen. Zum Beispiel, wie kann ein solch tiefgreifender neurophysiologischer Prozess, wie CSD, solch geringfügigen neurologischen Symptome verursachen, oder in einigen Fällen möglicherweise überhaupt keine Symptome? Es gibt eine Reihe von möglichen Erklärungen. Eine historische Hypothese war, dass CSD nicht zu schwereren Symptome führt, weil sie räumlich auf die oberflächlichen Schichten der Großhirnrinde beschränkt ist und somit in erster Linie neuronale Dendriten anstatt ihre Zellkörper betrifft13 [hier 8]. Eine andere Hypothese ist, dass die Ausbreitung der CSD viel stärker räumlich in der X-Y-Ebene begrenzt ist als traditionell dargestellt. Anstatt konzentrisch sich auszubreiten, wie im Gehirn des Nagetier ohne die Hügel und Täler der Hirnwindungen und Hirnfurchen, könnte CSD beim Menschen bevorzugt entlang einer einzigen Hirnwindung oder innerhalb einer einzigen Hirnfurche propagieren88 [hier 9]. Diese mehr räumlich eingeschränkte CSD könnte symptomatischen weniger zum Ausdruck kommen, als ein sich weit ausbreitendes Phänomen. Das Problem mit dieser Hypothese ist, dass sie nicht im Einklang mit den Mustern der sich weit ausbreiteten Veränderungen des Blutflusses wäre, die in einigen Studien der funktionellen Bildgebung beobachtet wurden78 [hier 10]. Eine spekulative Erklärung, um diesen Widerspruch zu versöhnen, ist, dass eine räumlich begrenzte CSD eine weitere Ausbreitung eines anderes Phänomen triggern könnte, beispielsweise interzelluläre Wellen in Astrozyten, welche eine größere Ausbreitung der Veränderung der Blutströmung verursacht, die nicht notwendigerweise zu neurologischen Symptomen führen würden.

[eigene Übersetzung, Original in der Fußnote]

Zitiert wird hier unsere Arbeit aus der Zeitschrift PLoS ONE von 2009 [9]. Die erwähnte Lösung der einen letzten großen offenen Frage haben wir mittlerweile noch genauer untersucht [11]. Was für einem kommenden Beitrag aufgehoben wird. Die andere große offene Frage, die in Nature Reviews Neurology identifiziert wurde,ist die Beziehung zwischen Migräne und Epilepsie in Bezug auf das Phänomen Cortical Spreading Depression.

Literatur

 

[1] Lauritzen M. Pathophysiology of the migraine aura the spreading depression theory. Brain 117,199-210; 1994.

[2] Leao A.A.P., Morrison R.S., Propagation of spreading cortical depression. J Neurophysiol 8,33-46; 1945.

[3] Milner P.M., Note on a possible correspondence between the scotomas of migraine and spreading depression of Leão, Electroencephalogr. Clin. Neurophysiol. 10,705; 1958.

[4] Olesen, J. , Larsen, B. and Lauritzen, M. , Focal hyperemia followed by spreading oligemia and impaired activation of rCBF in classic migraine, Ann. Neurol9, 344; 1981.

[5] Hadjikhani N, Sanchez Del Rio M, Wu O, Schwartz D, Bakker D, Fischl B, Kwong KK, Cutrer FM, Rosen BR, Tootell RB, Sorensen AG, Moskowitz MA. Mechanisms of migraine aura revealed by functional MRI in human visual cortex.Proc Natl Acad Sci U S A. 2001 98:4687-92.

[6] Karatas H, Erdener SE, Gursoy-Ozdemir Y, Lule S, Eren-Koçak E, Sen ZD, Dalkara T. Spreading depression triggers headache by activating neuronal Panx1 channels. Science. 2013; 339:1092-5.

[7] Charles AC, Baca SM. Cortical spreading depression and migraine.Nat Rev Neurol. 2013; 9:637-44.

[8] Canals S, Makarova I, López-Aguado L, Largo C, Ibarz JM, Herreras O. Longitudinal depolarization gradients along the somatodendritic axis of CA1 pyramidal cells: a novel feature of spreading depression. J Neurophysiol. 2005; 94:943-51. Epub 2005 Mar 30.

[9] Dahlem MA, Hadjikhani N. Migraine aura: retracting particle-like waves in weakly susceptible cortex.PLoS One. 2009;4:e5007

[10] Woods RP, Iacoboni M, Mazziotta JC. Brief report: bilateral spreading cerebral hypoperfusion during spontaneous migraine headache. N Engl J Med. 1994 Dec 22;331(25):1689-92.

[11] Dahlem MA, Isele TM. Transient localized wave patterns and their application to migraine..J Math Neurosci. 2013 29:7.

 

 

Fußnote

Im Original heißt es:

“If CSD, as it has been characterized in animal models, does indeed occur in migraine, a number of questions remain. For example, how could such a profound neurophysiological event as CSD cause such minor neurological symptoms, or in some cases possibly no symptoms at all? There are a number of possible explanations. One historical hypothesis has been that CSD does not cause more-severe symptoms because it is spatially limited to superficial layers of cortex, and thus primarily affects neuronal dendrites rather than their cell bodies13. Another hypothesis is that the spread of CSD is much more spatially limited in the X–Y plane than has been traditionally portrayed. Rather than spreading concentrically as it does in rodent brains, which lack the hills and valleys of gyri and sulci, CSD in humans may propagate preferentially along a single gyrus or within a single sulcus.88 This more spatially restricted CSD could result in less symptomatic expression than a more widely spread phenomenon. The problem with this hypothesis is that it would not be consistent with the patterns of widespread blood flow changes observed with some functional imaging studies.78 A speculative explanation to reconcile this inconsistency is that a spatially limited CSD event could trigger more-widespread propagation of a different phenomenon such as, for example, propagated intercellular waves in astrocytes, which could result in more-widespread changes in blood flow that would not necessarily produce neurological symptoms.”

 

*Natürlich waren es noch einige mehr. In Deutschland kann man noch Alfred Lehmenkühler nennen, der 1992 Hiss Martins Ferreira und Jan Bureš nach Münster einlud, um auf dem internationalen Symposium “Migraine, Basic Mechanisms and Treatment” zu sprechen. Beide kamen anschließend nach Göttingen, in dessen Folge ich mein Forschungsthema für eine Diplomarbeit und bis heute über 20 Jahre spannende Forschung fand. Mein Dank gilt in Göttingen Konrad Kaufmann dafür.

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

12 Kommentare

  1. Ich bin überrascht über den langen Zeitraum, in dem die Theorie der spreading depression als Ursache von Migräne schon herumgeistert. Es erinnert mich von Ferne an die Geschichte des Higgs-Bosons. Dieses wurde schon vor Ewigkeiten eingeführt, um ein Problem der Theorie der Elementarteilchen zu lösen. Da es aber nicht dingfest gemacht werden konnte wurde seine Existenz und seine Bedeutung auch immer wieder in Frage gestelllt.
    Erst der Nachweis des Higgs-Bosons hat die Situation grundlegend geändert. Wobei jetzt aber immer noch die Frage übrigbleibt ob man wirklich schon alles – oder auch nur genug – über das Higgs-Boson und den Higgs-Mechanismus wisse um ihm gerecht zu werden.

    • Der Vergleich von “spreading depression” und Higgs-Boson ist so dermaßen absurd weit hergeholt. An dieser verwaschenen Koinzidenz ist rein gar nichts außer Ihrer Überraschung folgerichtig, den OP mag es freuen.

      • Es geht nicht um die Sache sondern um die Geschichte. Die Theorie eilt voraus kann aber nicht bestätigt werden. Als Laie vermute ich einmal, dass dies daran liegt und lag, dass es kein sicheres Tiermodell für Migräne gibt/gab. Andernfalls hätte man die Vermutung, Migräne sei mit einer Spreading Depression verbunden in Tierversuchen bestätigen können.

        • Im Rahmen eines theoretischen Modells (Standardmodell) macht man eine Vorhersage (Existenz einesHiggs-Boson), die es zu überprüfen gilt. Das ist eigentlich nicht unypisch, selbst die lange Zeit, die es im Fall des Higgs-Boson brauchte, lag ja nicht an einem mangelnden Glauben sondern an dem extremen Aufwand.

          Mit SD wurde zunächst ein Phänomen experimentell entdeckt, dazu dann eine “Theorie” (wenn wir schon mit physikalischen Theorien es vergleichen, komm ich nicht umhin, Theorie zumindest einmal in Anführungszeichen zu setzen) entwickelt, die einer neuen experimentellen Überprüfung bedurfte, die auch schwierig war.

          Ich glaube nicht, dass der Vergleich wirklich uns viel bringt. Aber ein Unterschied ist sicher, dass wohl die Mehrheit doch der Existenz des Higgs-Boson positiv gegenüberstand und man eben auf die experimentelle Überprüfung formal warten musste. Man wäre überrascht gewesen, es nicht zu finden.

          Während die Mehrheit doch der Existenz von CSD bei Migräne sehr kritisch entgegenstand. Man war dann überrascht, sie zu finden.

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  3. @Markus A. Dahlem 14. November 2013 19:23
    Der Vergleich Geschichte des Higgs/Geschichte der Migränpathophysiologie hat vielleicht doch noch mehr zu bieten:
    Im Nachhinein wird man wie jetzt beim Higgs-Boson als Erklärung der Masse von Elementarteilchen ebenfalls sagen, SD sei schon immer der Kandidat für die Erklärung der Migräne gewesen. Doch beides stimmt nur bedingt. Der Higgsmechanismus und das Higgsboson drängte sich nur denjenigen als Erklärung auf, die fest an die Erklärungsmacht des Standardmodells glaubten trotzt den zunehmenden Stimmen, die das Standardmodell für unvollständig halten. Steven Hawking gehörte nicht zu denen und hatte eine Wette abgeschlossen, dass Higgs-Boson werde nicht gefunden.
    Jetzt, nachdem das Higgs-Boson gefunden wurde, liegt es viel näher, nachträglich zu sagen (Zitat): “Man wäre überrascht gewesen, es nicht zu finden.”. Ebenso wird man wohl später sagen, es sei schon immer klar gewesen, dass SD der überzeugenste Kandidat für die Erklärung der Migräne sei.
    Noch eine Analogie fällt einem da ein: Die Entdeckung des Higgs-Bosons bei 125 GeV, einer überraschend tiefen Energie, bedeutet, dass unser Universum möglicherweise instabil ist. Zitat Wikipedia:

    If the masses of the Higgs boson and top quark are known more exactly, and the Standard Model provides a correct description of particle physics up to extreme energies of the Planck scale, then it is possible to calculate whether the universe’s present vacuum state is stable or merely long-lived.[36][37] (This was sometimes misreported as the Higgs boson “ending” the universe[41]). A 125 – 127 GeV Higgs mass seems to be extremely close to the boundary for stability (estimated in 2012 as 123.8 – 135.0 GeV[30]) but a definitive answer requires much more precise measurements of the top quark’s pole mass.[30]

    If measurements of the Higgs boson suggest that our universe lies within a false vacuum of this kind, then it would imply – more than likely in many billions of years[42][Note 8] – that the universe’s forces, particles, and structures could cease to exist as we know them (and be replaced by different ones), if a true vacuum happened to nucleate.

    Auch die SD führt ein Element der Instabilität in den Bereich der neuronalen Aktivität.Im Artikel Wenn Gehirnzellen kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen zeigt ja, dass gerade auch die SD bei der Migräne zur Bildung von Neuronenpopulationen führt, die “neuronal tot” sind, obwohl sie an und für sich noch genügend Stoffwechselenergie zur Verfügung haben.
    Also auch hier ein Element der Instabilität im neuronalen Geschehen vergleichbar (?) mit der Instabilität des Vakuums, welches ein Higgs-Boson von 125 GeV impliziert.

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