Bei Migränepersönlichkeiten tanzt ein Gewitter La Ola auf dem Tsunami

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Trifft Migräne auf Journalisten beginnt schnell die Suche nach einer geeigneten Metapher für das Migränegehirn. Genauso schnell kommt da eine angeblich prämorbide Persönlichkeitsstruktur durch die Hintertür.

Zum letzten Beitrag gab es eine interessante Frage:

Mal angenommen, ich möchte als Journalistin einen allgemeinverständlichen Text über Migräne schreiben UND mich dennoch mit wissenschaftlicher Korrektheit vom Rest meiner Zunft abheben: Was wäre denn dann eine korrektere und trotzdem knackige Formulierung für das, was bei Migräne im Kopf los ist?

Vielleicht so: Migräne wird durch eine Übererregung des Gehirns verursacht.

Das ist nach dem heutigen Stand der Kenntnis eine gute Beschreibung (und war Thema des letzten Beitrages und in vielen davor). Doch ist dies eine knackig Formulierung? Kaum. Also lieber vom Hirngewitter oder Tsunami sprechen? Wichtiger ist zwischen physiologischer und psychischer Übererregung zu unterscheiden. Metaphern können diese Unterscheidung fördern aber auch verwischen. Diese Unterscheidung darf nie einer knackigen Formulierung zum Opfer fallen.

In der Zeitschrift Psychologie Heute1 wurde z.B. eine Überschrift zu einem Artikel von mir von dem zuständigen Redakteur in “In Hirngewittern” umgeschrieben. Da hatte ich nichts dagegen, damals vor zehn Jahren nicht und heute immer noch nicht.

Der Tsunami ist eine gern genutzte Metapher für ein bestimmtes Symptom der Migräne, die Aura, weil die Aura von einer Welle massiver neuronaler Übererregung, der Spreading Depression, in der Hirnrinde ausgelöst wird. Wobei ich sie lieber mechanistisch begründet – als “La Ola” statt “Tsunami” bezeichne, einer gewissen emotionalen Inkongruenz trotzend.2 Diese Welle reizt mit einer gewissen Verzögerung auch die Schmerzrezeptoren und kann so auch den Kopfschmerz auslösen, aber sie steht doch eher für die Auraphase.

Welche rhetorische Figure ist für Migräne als ganzes geeignet? Oder sollte wir eher ohne Metapher auskommen?

Neben der Spreading-Depression-Theorie der Migräne existiert noch eine andere.  Es ist wohl sogar zur Zeit die Mehrheit der Experten, die die Migräne-Generator-Theorie im Hirnstamm für plausibler halten. Dann ist Migräne ein neuropathischer Schmerz,3 der die Schmerzmatrix betrifft ohne dass die Schmerzrezeptoren aktiviert wurden. Auch diese endogene Aktivität kann als innere Übererregung bezeichnet werden und diese wiederum kann dann als Gewitter bezeichnet werden. (Wobei “Migräne-Generator-Theorie” schon allein knackig formuliert ist.)

Letztlich kommt es auf den Zusammenhang an, in dem die Aussagen, mit oder ohne Metapher, gestellt werden. Hierbei werden gerne und wohl auch vorsätzlich bestimmte Fehler gemacht, die Journalisten vermeiden sollten.

Folgende konstruierte Beispiele stellen das Wort “Übererregung” und “Hirngewitter” in verschiedene Zusammenhänge bezüglich Migräne. Alle Aussagen sind überzogen oder gar falsch, es geht mir nur um die Veranschaulichung, wie leicht sich hier Fehler einschleichen und die Metapher meist noch hilft auf der schiefen Ebene ins Wanken zu geraten …

(1)  Moderne Migräne-Theorien gehen davon aus, dass im Gehirn der Betroffenen ständig oder zumindest zeitweise eine Übererregung vorliegt, die sich in einem Hirngewitter entlädt.

Fortsetzungen:

(a) Viele Gehirnzellen feuern dabei synchron.  

(b) Deswegen erscheint die asiatischen Küche, die Geschmacksverstärker wie Glutamat einsetzt, welche eine weitere Erregung fördern, nicht ratsam.

(c) Deswegen ist ein regelmäßiger Schlafrhythmus für Betroffene sehr wichtig.

(d) Deswegen erkranken an Migräne meist hysterische/angespannte Menschen, die jedoch auch als sehr leistungsfähig/perfektionistisch gelten. 

(e) Vorbotensymtome einen Tag vor dem Anfall sind nichts als die Ruhe vor dem Sturm.  

Was wurde hier gemacht? Zunächst halte ich die Aussage in (1) allein, ohne eine der angegebenen Fortsetzungen für recht nichtssagend, es sei denn, man ist noch Anhänger der alten, rein vaskulären Migräne-Theorie, dann wäre die Aussage neu. Das habe ich natürlich absichtlich so langweilig konstruiert. (Spannend wäre natürlich die Frage, ob die Übererregung nun  ständig oder zeitweise vorhanden ist! Dies habe ich bewußt offen gelassen. In den Fortsetzungen kommen diesbezüglich verschiedene Nuancen durch.)

Gucken wir nochmal was grob behauptet wurde.

(1a) Die Übererregung ist durch Synchronisation gekennzeichnet. Naheliegend aber unklar, ob es so ist.

(1b) Glutamat, übrigens verschlüsselt mit E620-E625, ist ein potentieller Auslöser des Gewitters. Glutamat kann Migräne auslösen, offen ist aber die Frage, wie Glutamat durch die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn gelangt, nach dem Verzehr einer Frühlingsrolle.

(1c) Schlafrhythmus wird als Prophylaxe genannt. Aus der Erfahrung richtig, aber wie hängt dies mit der Übererregung zusammen?

(1d) Die ständige/zeitweise Übererregung und die Entladung in Form des Gewitters wird mehr oder weniger direkt auch auf mentale Zustände übertragen, negativ (hysterisch/angespannt) und positiv (leistungsfähig/perfektionistisch), wobei explizit nicht davon ausgegangen wird, das diese im Verlaufe der Krankheit reaktiv erworben wurden. – Ohje, hier sehen Sie  mich facialpalmieren.

(1e) Es wird behauptet, dass Vorbotensymtome der Migräne sich durch eine besondere Ruhe auszeichnen, weil (!) dies beim Sturm ja auch so sei. – Das quietscht schon beim Lesen.

Ich kann hier nicht weiter auf Sinn und Unsinn einzelner Aussagen eingehen. Alle diese Aussagen habe ich so schon gelesen und alle sind fragwürdig auch ganz ohne Metapher. Nur die Verbindung beider Aussagen und die Unterstützung der Metapher soll mich in diesem Beitrag interessieren.

Die Aussagen in (a)-(c) verlassen nicht die Ebene der Physiologie, wobei Verhalten in (a) gar nicht, in (b) und (c) aber im steigendem Maße eine Rolle spielt. Das Verhalten betrifft nur Ernährung und Schlaf, also Ernährungsphysiologie und Schlafphysiologie, nicht aber Verhalten durch psychosoziale Belastungen oder die Persönlichkeitsstruktur.

Wenn die Metapher für physiologische und psychische Vorgänge gleichermaßen genutzt wird (wovon ich schon im letzten Beitrag abriet) oder als Bindeglied einen angeblichen Zusammenhang untermauern will (Gewitter assoziiert den hysterischen Anfall), wie in (1d), wird es schlicht unsinnig und zutiefst beleidigend. Zumindest ist eine “Migränepersönlichkeit”, die prämorbid, also schon vor der Erkrankung, angelegt ist, wissenschaftlich unhaltbar. In (1f) wird die Metapher ausgeweitet und damit tut man der Sache ebenso keinen Gefallen, um es mal vorsichtig auszudrücken.

Mein Hauptproblem mit knackigen Formulierungen “was bei Migräne im Kopf los ist”, ist eigentlich immer die Überleitung zu einer angeblich prämorbiden Persönllichkeitsstruktur. Was physiologisch und psychisch im Kopf los ist, wird in einen Topf geworfen, völlig ohne Grundlage, wie es in (1d) geschieht. Nur weil Wörter wie “Übererregung” und “Gewitter” für beides, Physiologie und Psyche, anwendbar sind, überträgt man sie. Dagegen ist das Überschreiten der physiologischen Reichweite einer Metapher (Beispiel (1f)) letztlich harmlos, wenn auch nicht weniger ärgerlich.

Wer sich also mit “wissenschaftlicher Korrektheit vom Rest [s]einer Zunft abheben” will, sollte genau das machen: wissenschaftlich korrekt bleiben. Wobei hier die Frage schon implizierte, dass dies nicht der Fall sei. Ich habe persönlich bisher immer sehr gute Erfahrungen gemacht habe, allerdings hatte  ich auch immer nur mit Journalisten für wissenschaftliche Zeitschriften oder wissenschaftliche Radio- und Fernsehsendungen zu tun. Im grassen Gegensatz dazu steht leider, was in gewissen Blättern über Migräne zu lesen ist.

Von Journalisten, die über Migräne schreiben, wünsche ich mir einerseits eine saubere Gegenüberstellung der corticalen Spreading-Depression-Theorie der Migräne und der Migräne-Generator-Theorie im Hirnstamm. Zweitens eine sorgfältige Abgrenzung der Physiologie dieser Theorien und der psychischen Aspekte, welche natürlich auch bei dieser Volkskrankheit gegeben sind.

Fußnoten

1 siehe: Markus A. Dahem, In Hirngewittern Die „Aura“ bei Migräne: Forscher kommen einer sonderbaren Erscheinung auf die Spur, Psychologie Heute (August 2002).

“Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge ihre Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.“ So beschrieb Erich Kästner 1931 in seinem Kinderbuch Pünktchen und Anton eine Volkskrankheit, unter der nach heutigen Schätzungen bis zu ein Fünftel der Bevölkerung leidet. Migräne ohne Kopfschmerzen, so widersprüchlich das zunächst klingen mag, kann nach der Klassifikation der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft (IHS) sogar tatsächlich als eine gesonderte Variante dieser Krankheit diagnostiziert werden.

Kästner ging es allerdings weniger um diagnostische Spitzfindigkeiten als um die Charakterisierung von Pünktchens Mutter als feine Dame der Gesellschaft, die sich um das Wohl von Kindern aus aller Welt sorgt, dabei aber ihre eigene Tochter vergisst. Migräne wurde damals – und heute leider zum Teil immer noch – bestenfalls abgetan als Hysterie, eher aber noch als Hypochondrie oder gar als Drückebergertum. Wieso haftet der Migräne dieses Image an?

So stieg ich damals in den Artikel ein. Diese Frage nach dem schlechten Image der Migräne, muss wohl leider auch durch schlechten Journalismus beantwortet werden. Aufklärung tut nach wie vor Not.

2 Der Tsunami wird auch eher für Spreading Depression bei Schlaganfall genutzt. Übrigens, in peer review Publikationen habe ich stattdessen auch schon “killer wave” (Nature) und “wave of death” (PLoS ONE) im Titel gelesen. Der Tsunami hat meines Erachtens zwar keine emotionale aber eine physikalische Inkongruenz, was der Laie kaum bemerk und Fachleute sogar strittig diskutieren. Auch der Tsunami wurde mir schon von einer Journalistin in den Mund gelegt. Man muss schon sehr genau hinschauen, um den Fehler zu verstehen. Gewisse mechanistische Aspekte sind treffend andere nicht.

 

3 Nach meinem Verständnis dieser in vielen Punkten noch ominösen Theorie. Andere Theorien sind leider auch nicht schlüssiger. Keine hat bisher die Potenz alle Migräneformen zu erklären. Wahrscheinlich werden wir eines Tages feststellen, dass die Erkrankung, die wir heute aufgrund einer Symptom-basierten Diagnose Migräne nennen, mehrere Ätiologien hat. Ich bin eigentlich recht sicher, dass sowohl die Spreading-Depression-Theorie als auch die Migräne-Generator-Theorie stimmen können.

© 2012, Markus A. Dahlem

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

3 Kommentare

  1. wissenschaftlich korrekt bleiben

    … und auf alles weitere, was nicht einer wissenschaftlich korrekten Darstellung entspricht, verzichten. Wissenschaft wird mehr und mehr als eine Karnevalsversanstaltung verkauft, mit oder ohne Tusch. Das führt so weit, daß sogar “Ideen” zur Diskussion gestellt werden, das Konzept “Germany’s Next Top Model” ließe ließe sich “durchaus auch in die Wissenschaft übertragen”.

    Die Wissenschaft als solche ist spannend genug, um nicht in den Sumpf fernsehgerechten Formats inkl. entsprechenden Vokabulars und Getöses ausweichen zu müssen. Der Schritt zur Populärwissenschaft muß behutsam, nicht zu laut und didaktisch klug bis hervorragend sein. Insbesondere R. Feynman hat das (u.a.) mit seinen Lectures “The Character of Physical Law” dankenswerterweise vorgemacht.

  2. .

    Ich nehme den Gedanken vielleicht bald noch mal detaillierter auf.

    Ich denke, es geht bei vielen Blogs zum Glück ganz klar nicht um eine Art Wissenschaftsshow sondern um Dinge, wie
    Schrödingers Katze und Einsteins Gott, der nicht würfelt, also um einen ernsten Diskurs, wie die Dinge sind, in einer Form, die auch populärwissenschaftlich sehr attraktiv ist.

    Viele Wissenschaftler können gar nicht anders, sie müssen ihre Gedanken kommunizieren, sie suchen Austausch und nutzen Gedankenexperimente und Metaphern (meist außerhalb der peer review Publikationen). Was man früher in Briefen oder mündlich am Rande von Konferenzen gemacht hat, geschieht heute u.a. in den Blogs von Wissenschaftlern.

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