Neurobiologische Grundlagen der Migräne – Ein neues Lehrbuch

Ein neues medizinisches Lehrbuch der Migräne ist erschienen. Es ist eine zeitgerechte, breit angelegte Erforschung der neurobiologischen Grundlagen der Migräne. Die 21 Kapitel reichen von der Anatomie, Physiologie und molekularen Mechanismen über klinische Merkmale der Migräne hin zur Genetik und der sogenannten Migränewelle. Sie enden mit der Modellierung und Bildgebung bei Migräne. Eines der letzten Kapitel, Kapitel 17, über die mathematische Modellierung durfte ich schreiben. Hier ist die Übersetzung der Einleitung.

“Wir blicken auf mehr als 50 Jahre mathematischer Modelle der Migräne zurück. Im allgemeinen formuliert das Fachgebiet »Computational Neuroscience« abstrakte Modelle der Neurobiologie in mathematischer Sprache. Es geht darum Daten zu interpretieren. Damit wollen wir ein prinzipielles Verständnis des gesunden sowie kranken Nervensystems erlangen.

Die Komplexität neuronaler Systeme kann es uns jedoch schwierig machen. Wie sollen wir den Wert solcher mathematischer Modelle einschätzen? Aus den zahllosen Details wird doch so stark abstrahiert und am Ende werden doch nur wenige Aspekte berücksichtigt, nämlich die, die man als wichtig erachtet – im Nachhinein. Man trifft also eine Wahl, weil sie »funktioniert«.

Von Tiermodellen und Computermodellen

Genau in Bezug auf diese Schwierigkeit unterscheidet sich ein Computermodell jedoch oft nicht grundlegend vom tierexperimentellen Vorgehen.  Insbesondere in Tiermodellen für Schmerzen wird die Wirksamkeit eines Medikaments oft erst am Menschen und dann im Tiermodell demonstriert, was als Rückwärtsvalidierung bezeichnet wird.

Im Gegensatz zu Tiermodellen kann ein Computermodell bewusst und absichtlich in beliebiger Weise verändert werden, d.h. Komponenten können in beliebiger Reihenfolge modifiziert oder hinzugefügt werden. Daher kann man eine Rückwärtsvalidierung gleich mehrfach durchführen, indem man den Prozess der Computational Science zyklisch gestaltet. Tatsächlich wurden in den letzten 50 Jahren der Migräne-Forschung viele Zyklen abgeschlossen. Darüber hinaus stellen Schmerzversuche mit Tieren oder sogar mit Menschen große ethische Probleme dar. Computermodelle sind also eine attraktive, jedoch auch begrenzte Lösung des Problems.

Nicht zuletzt werden zudem experimentelle Tiermodelle und klinische Studien immer ausgefeilter und haben zu einer enormen Fülle biologischer Daten geführt, die sich über viele räumliche und zeitliche Skalen erstrecken: von Molekülen bis zum Gehirn und von Sub-Millisekunden der Steuerung von Ionenkanälen bis hin zu mehreren Stunden Attackendauer, ja sogar bis hin zu Jahrzehnten, in denen sich der Krankheitsverlauf ändert.  Detailgenaue Computermodelle können dabei helfen, solch verschiedene Datensätze zu integrieren und Informationen zu vereinheitlichen.

In diesem Kapitel [dem siebzehnten des Lehrbuches] werden wir verschiedene Beispiele für zwei Klassen von Computermodellen der Migräne  kennenlernen, ohne auch nur zu versuchen, die mathematische Methoden genau zu verstehen; diese können in der zitierten Originalliteratur gefunden werden. Der Faden, der sich durch diese Beispiele zieht, ist die Verdeutlichung, wie die jeweilige Fragestellung des Modells die gewählte Abstraktionsebene bestimmt.

Zuerst stellen wir mikroskopische Modelle vor, die zelluläre und zytoarchitektonische Details der pathophysiologie der Migräne enthalten. Solche Modelle können Fragen im Zusammenhang mit der elektrophysiologischen Charakterisierung von Membranen während der Attacke beantworten. Im zweiten Teil, der auf dem ersten Teil durch weitere Abstraktion aufbaut, stellen wir makroskopische Modelle vor. Jetzt wird es um eine großräumige Musterbildung in Gewebe des Großhirns gehen. Mit diesem Modell werden Fragen beantwortet, die durch die neurologische Manifestation der sogenannten Migränewelle aufgeworfen wurden. Wir schließen mit einigen Vorhersagen aus diesem computergestützten, wissenschaftlichen Ansatz.”

 

Wer noch dieser Einleitung weiter lesen möchte, der findet hier das Buch: Neurobiological Basis of Migraine.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

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