Wie riskant ist ein LEGA-Manöver?
Gestern nacht absolvierte die ESA-Jupitersonde JUICE erfolgreich den ersten Teil vom LEGA-Manöver (LEGA=”Lunar-Earth Gravity Assist”): den Swingby am Mond. Bilder der Mondbegegnung treffen gerade ein und werden veröffentlicht, sobald sie bearbeitet werden konnten. Hier eine der ersten Aufnahmen, von mir minimal bearbeitet.
Wer manche der Web-Artikel zum LEGA-Manöver im Vorfeld gelesen hatte (beispielsweise diesen oder diesen), könnte meinen, dass es Anlass zur Sorge gibt. Man sollte das alles aber mit einem Körchen Salz nehmen.
Bahnbestimmung und Kontrolle
Natürlich sind in der Raumfahrt die Anforderungen an die Bahngenauigkeit meist hoch, nicht nur bei einem LEGA-Manöver. Aber es ist auch nicht so schwer, diese Anforderungen zu erfüllen. JUICE hat im vergangenen November ein großes Triebwerksmanövr absolviert. In den Wochen danach wurde eine Serie aus Bahnbestimmungen und zunehmend kleinen Korrekturmanövern gefahren. Damit wurde die Trajektorie auf den Mondvorbeiflug gestern nacht getrimmt.
Jede Bahn unterliegt Störungen. Die Störeffekte durch die Gravitation der Planeten im Sonnensystem können mit hoher Genauigkeit vorausberechnet werden, weil die Bahnen und Massen der für JUICE relevanten Körper recht genau bekannt sind. Es gibt jedoch auch nicht-gravitationelle Störungen. Der Solardruckeffekt ist wegen der großen Solargeneratoren relativ hoch. Die anfallenden Beschleunigungen werden im Störmodell berücksichtigt.
Es gibt gewisse Unsicherheiten, weil die Reflektivität der Solargeneratoren und anderer großer Flächen nicht genau bekannt ist und diese sich zudem mit der Zeit verändern kann. Mit zunehmender Missionsdauer verringern sich jedoch die Unsicherheiten, weil diese Parameter immer besser kalibriert werden können, je mehr Bahnbestimmungen durchgeführt werden. Am Ende verbleiben noch stochastische Effekte wie das Ausgasen volatiler Materialen von Bauteilen der Raumsonde oder kleine Undichtigkeiten von Ventilen im Treibstoffsystem. Diese Effekte sind zwar klein, summieren sich aber mit der Zeit auf und erfordern regelmäßig, aber meist sehr kleine Korrekturmanöver.
Ansonsten ist der Betrieb eines Raumfahrzeugs im Wesentlichen ein “hands-off”-Prozess. Die Sonde folgt ihrem vorausberechneten Pfad. Da sitzt niemand mit einem Joystick, der das Gerät haarscharf an Hindernissen vorbeisteuert wie in einem Videospiel. Die größte Störquelle sind ohnehin Triebwerksmanöver, da diese meist mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind. Vor und während kritischen Phasen vermeidet man es nach Möglichkeit, mit den Triebwerken herumzufeuern.
Es ist zwar richtig, dass es ein sehr großes Problem für JUICE wäre, wenn das LEGA-Manöver vollkommen vergeigt würde. Dann wäre JUICE in der vollkommen falschen Bahn und könnte vielleicht das nächste Ziel, die Venus nicht mehr erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, ist aber realistischerweise minimal.
Seit November wird auf das LEGA-Manöver hingearbeitet. Die letzten Kontrollmanöver seit Ende Juli waren (wie erwartet) sehr klein, im Bereich von cm/s. Was für ein Ereignis hätte JUICE seitdem beträchtlich von der vorausberechneten Bahn abbringen können? Da fehlt mir ein bisschen die Phantasie, mir so etwas vorzustellen.
Notfallmanöver im letzten Moment?
Der zitierte Web-Artikel der ESA spricht die Möglichkeit eines Eingreifens durch das Kontrollzentrum wáhrend der 24 Stunden zwischen Mond- und Erdswingby ein. Es ist richtig, dass eine solche Möglichkeit eingeplant wurde. Dass es jedoch dazu käme, ist sehr unwahrscheinlich.
Das einzige, was die Bahn vor dem Mondvorbeiflug stark gestört haben könnte, wäre eine Fehlfunktion im Antriebssystem. Vielleicht ein Fehler des Bordrechners, der ein ungeplantes Triebwerksmanöver veranlasst. Oder Ventile, die versagen und Brennstoff oder Oxidator entweichen lassen. Falls aber so etwas aufgetreten wäre, dann hätte man ohnehin keine zuverlässig funktionierende Raumsonde mehr. In dem Fall wäre es keine gute Idee, auch noch ein Rettungsmanöver zu versuchen. Das Risiko wäre groß, dass man das Problem nicht behebt, sondern verschlimmert.
Allenfalls könnte man sich vorstellen, dass kurzfristig die Möglichkeit der Kollision mit Weltraumschrott in Erdnähe erkannt wurde und ein Ausweichen erforderlich macht.
Das alles ist aber nur hypothetisch. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass beim Mondvorbeiflug etwas schief ging. Alles spricht dafür, dass JUICE noch genau auf Kurs ist und dass der zweite Akt des am Ende doch nicht so dramatischen LEGA-Manövers problemlos abläuft.