War der Weiterbetrieb von Envisat fahrlässig?

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Raumfahrt aus der Froschperspektive
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In einem Vortrag auf dem 63. International Astronautical Congress (IAC) in Neapel hat eine Kongressteilnehmerin schwere Vorwürfe gegen die europäische Weltraumbehörde ESA erhoben: Der Weiterbetrieb des großen Umweltsatelliten Envisat über das Jahr 2010 hinaus sei eine grob fahrlässige Entscheidung gewesen, wegen der die ESA haftbar gemacht werden könne, wenn es zu einem Schaden an einem anderen Satelliten komme.

(Read this article in English here)

Die Vortragende, Martha Mejía-Kaiser von der Universidad Autónoma Nacionál de México (UNAM) und Mitglied des International Institute of Space Law (IISL), ist promovierte Politik- und Sozialwissenschaftlerin (und somit wohl punktgenau qualifiziert, um über den Betrieb von Satellitenbetrieb zu urteilen). Ihr Vortrag wurde inzwischen auch von Medien aufgegriffen, darunter der in Fachkreisen viel beachteten Space News. Auffallend ist, dass dort nur Mejía-Kaiser zitiert wird und keinerlei Versuch stattfindet, ihre Behauptungen zu verifizieren oder der ESA Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, was doch eigentlich bei einem so schwer wiegenden Vorwurf eine journalistische Selbstverständlichkeit sein sollte.

Der Satellit, um den es geht, der im Jahr 2002 gestartete Envisat, ist ein 8 Tonnen schwerer Umweltsatellit der ESA auf einer sonnensynchronen Bahn von zuletzt 780 km Höhe. Am 8. April 2012 riss vollkommen unvermittelt der Kontakt zum Satelliten ab und konnte seitdem nicht wieder hergestellt werden. Die Ursache des Versagens liegt nach wie vor im Dunkeln.

Das zentrale Argument in Mejía-Kaisers Vortrag (das dazugehörige Paper hat die Nummer IAC-12.E7.5.11 und den Titel “ESA’s Choice of Futures: Envisat Removal or First Liability Case”) ist wie folgt aufgebaut:

  1. Im Jahre 2010 entschloss sich die ESA, die Bahnhöhe von ENVISAT auf nur 780 km abzusenken.
  2. Die Absenkung auf 750 km hätte nochmals 60 kg Treibstoff gekostet.
  3. Diese 60 kg waren vorhanden, die Absenkung der Bahn auf 750 km wäre damit machbar gewesen.
  4. Auf 750 km Höhe wäre die verbleibende orbitale Lebensdauer 25 Jahre gewesen und nicht etwa 150 Jahre wie im jetzigen 780-km-Orbit
  5. Eine orbitale Lebensdauer von 25 Jahren wäre im Einklang mit den Richtlinien gewesen, zu denen die ESA sich selbst als Mitglied des Inter-Agency Space Debris Coordination Committee IADC verpflichtet hat.

Punkte 1 bis 3 sind zwar formal richtig, aber daraus lässt sich kein Vorwurf ableiten. Punkt 4 ist die wirklich zentrale Aussage, und diese Aussage ist schlicht falsch. Nicht einfach offen für Interpretation oder mehrdeutig, sondern ganz einfach falsch.

Mejía-Kaiser bezieht sich auf ein im Paper zitiertes, öffentlich zugängliches Dokument des IADC, und zwar “Support to the IADC Space Debris Mitigation Guidelines“. Allerdings zitiert sie aus diesem Paper nur eine sinnenstellende Verkürzung. Auf Seite 21 des Dokuments steht:

[…] the removal of objects from LEO as soon as possible after the end of a mission is beneficial. Fortunately, natural forces, especially drag, work to clean debris from this region, although this is effective primarily for satellites below 700 km. It is recommended that orbital lifetime be reduced to less than 25 years at the end of mission (approximately 750 km circular orbit for A/m = 0.05 m2/kg, and approximately 600 km circular orbit for A/m=0.005 m2/kg, depending on solar activity to be more exact) […]

Mejía-Kaiser verweist explizit auf diese Seite des IADC-Dokuments, gibt das Zitat aber wie folgt wieder:

“It is recommended that orbital lifetime be reduced to less than 25 years at the end of mission (approximately 750 km circular orbit for A/m = 0.05 m2/kg…)”

Dort, wo bei Mejía-Kaiser das Zitat mit “…” endet, steht das, worauf es gerade ankommt. Die Lebensdauer eines Objekts im niedrigen Erdorbit hängt von zwei Faktoren ab: 1.) der Luftdichte und 2.) des Verhältnisses A/m, also aerodynamische Querschnittsfläche zu Masse.

Die Dichte ist eine Funktion der Höhe und, neben anderen Einflussfaktoren, vor allem der Sonnenaktivität. Da wir bei Bahnhöhen von 750 km und mehr aber mit Lebensdauern zu tun haben, die mindestens in Jahrzehnten zu bemessen sind, ist die kurz- und mittelfristige Entwicklung der Sonnenaktivität nicht von Belang, man betrachtet dort für jede Bahnhöhe die über die Sonnenaktivität gemittelte Dichte.

Die Relation A/m ist ebenfalls mit Unsicherheiten behaftet, weil die aerodynamische Querschnittsfläche, also die Fläche, die ein Objekt den eintreffenden Partikeln der Atmosphäre entgegenstellt, nicht exakt bestimmbar ist. Da Satelliten keineswegs gleichmäßig geformte Körper sind und es einen großen Unterschied macht, ob beispielsweise Solargeneratoren senkrecht zu ihrer Oberfläche, also mit maximalem Luftwiderstand oder quer angeströmt werden, ist es wichtig, dass man eine gewisse Vorstellung hat, wie die räumliche Ausrichtung des Objekts ist.

Wenn man diese nicht kennt und deswegen nicht genau weiß, welche Querschnittsfläche anzunehmen ist, dann kann man konservativ an die Sache herangehen und annehmen, dass der maximale Luftwiderstand vorliegt. Das ist zwar unwahrscheinlich, gibt aber zumindest einen Minimalwert für die Lebensdauer.

Genau das mache ich jetzt mal: Die Masse von Envisat liegt bei rund 8 Tonnen. Die Querschnittsfläche des Solargenerators ist 70 Quadratmeter, siehe diese Broschüre der ESA, Seite 7. Selbst wenn durch den Korpus des Satelliten und die SAR Antenna noch einmal so viel hinzukäme (es sind eher weniger, aber ich will konservativ rechnen und auf eine möglichst niedrige Lebensdauer kommen, dann wäre die Querschnittsfläche 140 qm.

Die Relation A/m, die im IADC-Dokument erwähnt wird, läge also bei schlimmstenfalls 140 qm/8000 kg = 0.0175 qm/kg. In der Realität liegt sie noch einmal deutlich geringer, denn ich habe von vorneherein eine zu große Fläche angenommen und dann auch noch angenommen, dass der defekte Satellit konstant so ausgerichtet bleibt, dass er immer maximalen Luftwiderstand erzeugt – ein Ding der Unmöglichkeit.

Wie man dem Zitat aus dem IADC-Dokument entnehmen kann, gilt die empfohlene Zielbahnhöhe von 750 km aber für eine Relation A/m von 0.05 m2/kg, also fast drei Mal mehr als das, was man für Envisat schlimmstenfalls und schon mit Übertreibung annehmen könnte. Die Lebensdauer hängt linear von der A/m-Relation ab. Wenn ein Objekt mit einem A/m von 0.05 m2/kg bei 750 km Bahnhöhe 25 Jahre Lebensdauer hat, dann hat ein Objekt mit einem drei Mal kleineren A/m – wie bei Envisat der Fall – zwangsläufig bei 750 km Bahnhöhe eine drei Mal längere Lebensdauer, also 75 Jahre. Dies unter Annahme selbst der konservativsten Bedingungen, die zur kürzesten Lebensdauer führen. Bei realistischen Annahmen, also der, dass die mittlere Querschnittsfläche deutlich kleiner als die maximale ist, kommt für Envisat zwangsläufig eine noch viel längere Lebensdauer als 75 Jahre selbst bei 750 km Bahnhöhe heraus.

Das ist einfach mal so.

Nun ist das zitierte IADC-Dokument ja auch nicht die einzige Quelle, aus der sich erwartete Lebensdauern berechnen lassen. Man kann auch einfach nachrechnen, wie ich es getan habe, im Rahmen eines Projekts, das gar nichts mit Envisat zu tun hatte. Die Ergebnisse sind aber dennoch anwendbar:

Orbital Lifetime of Spacecraft in Low Earth Orbit as Function of Mass/Area Ratio and Altitude, source: Michael Khan

 Orbitale Lebensdauer als Funktion der Bahnhöhe und der Relation m/A (Masse/Querschnittsfläche) auf Kreisbahnen, Quelle: Michael Khan

Die Relation m/A ist einfach nur der inverse Wert der im IADC-Bericht verwendeten Relation A/m. Im gegebenen Fall, bei Annahme einer Masse von 8000 kg und einer Querschnittsfläche von 140 qm, käme m/A= 8000/140 kg/qm = 57 kg/qm heraus. Im Diagramm sind die Lebensdauerkurven für m/A-Werte von 25, 50 und 100 kg/qm gegeben. Envisat liegt zwischen 50 und 100. Für die hier getroffenen, unrealistisch konservativen Annahmen wäre die Lebensdauer jeweils knapp oberhalb der blauen Linie abzulesen. In der Realität wäre man sehr viel dichter an der grünen Linie.

Nehmen wir nun den konservativen Wert, knapp über der blauen Linie. Da lese ich aus dem Diagramm (Vorsicht, die y-Achse ist logarithmisch!) für eine Bahnhöhe von 750 km eine Lebensdauer von 70 Jahren ab. Das passt recht gut zu dem, was ich weiter oben anhand der IADC-Daten überschlägig berechnet habe.

Also gut, sowohl die IADC-Daten, die auch auf Berechnungen basieren, wie auch meine, davon vollkommen unabhängigen Berechnungen, kommen zum selben Ergebnis, nämlich dem, dass Envisat auf einer Bahnhöhe von 750 km nie und nimmer eine Lebensdauer von nur 25 Jahren hätte erreichen können, sondern dass der Satellit selbst unter Annahme eines unrealistisch hohen Luftwiderstands immer noch mindestens rund drei Mal so lange im Orbit bleibt. Unter realistischen Annahmen sogar noch einige Jahrzehnte mehr.

Was bedeutet das?

Ganz einfach: Das bedeutet, dass die Analyse und Behauptungen von Mejía-Kaiser ganz einfach auf einer falschen und nicht zu verifizierenden Annahme basieren:

  • Es ist falsch, und zwar offenkundig und wissenschaftlich nachprüfbar falsch, dass die ESA durch eine Absenkung der Bahn von Envisat auf eine Höhe von 750 km die orbitale Lebensdauer auf 25 Jahre hätte reduzieren können.
  • Es ist somit auch falsch, dass die ESA mit ihrer Entscheidung, die Bahn nicht auf 750 km abzusenken, in grob fahrlässiger Weise andere Satelliten gefährdete.
  • Richtig ist, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Absenkung der Bahn keinerlei Möglichkeit gegeben war, die Lebensdauer des Satelliten auf 25 Jahre zu reduzieren. Dies hätte vielleicht bei der Bemessung des Treibstoffvorrats bei Entwicklung und Bau des Satelliten geschehen müssen. Damals aber gab es aber noch keine Vereinbarung über die Einführung von Maßnahmen zur Limitierung der orbitalen Lebensdauer.
  • Es gibt somit keine Rechtfertigung dafür, der ESA einen Bruch gemachter Vereinbarungen zum Schutz des erdnahen Weltalls vor Weltraumschrott vorzuwerfen.
  • Damit ist auch die Behauptung nicht nachvollziehbar, die ESA sei nun Schadenersatzforderungen seitens anderer Satellitenbetreiber ausgesetzt, sollte ein anderer Satellit Schaden nehmen.

Ich habe mich bei den Zitaten und Berechnungen hier ausdrücklich auf frei verfügbares Material beschränkt und konnte dennoch zeigen, dass die Grundannahmen für Mejía-Kaisers Paper offenkundig unzutreffend sind. Jeder kann das verifizieren und nachrechnen, auch Martha Mejía-Kaiser hätte das tun können und sollen, bevor sie zu so heftigen Behauptungen und Anschuldigungen vorbringt, deren Beleg allerdings schwer fallen dürfte.

Sicher ist es keine gute Idee, einen Satelliten ins erdnahe Orbit zu starten, ohne Vorkehrungen zu seiner Begrenzung seiner Lebensdauer vorzunehmen. Heutzutage würde das so nicht mehr gemacht werden. Damals war das anders, nicht nur bei Envisat, sondern bei Satelliten aller Raumfahrt treibenden Nationen. Das ist aber ein genereller Fall eines langsam und oft erst spät wachsenden Problembewusstseins, und nicht ein spezifisches Problem einer groben Fahrlässigkeit einer einzelnen Seite.

Mejía-Kaisers Paper endet mit einem wahren Trommelfeuer an Anschuldigungen: “… negligent conduct ….” “…. affects ESA’s credibility ….” “…ESA’s damaged credibility ….”, “…. endangered astronauts ….”, “…. ESA’s actions and omissions harm the IADC’s work of 20 years ….” “…. ESA’s political decision to take risks ….”, “… creates a non-measurable harm to the whole international community.”. Starker Tobak, das alles. Wer so etwas sagt, sollte vorher schon sehr genau überprüft haben, ob die eigenen Daten richtig sind.

Hier sind sie es offenkundig nicht, das sieht man sofort, wenn man sich nur ein bisschen auskennt (und wenn nicht, dann ist das ein weiterer Grund, sich sehr gut zu informieren, bevor man sich weit zum Fenster hinauslehnt). Auch die Publikationen, allen voran Space News, schaden ihrer eigenen Reputation, wenn sie diese Art von Behauptungen ungeprüft übernehmen.

Guter Journalismus geht anders. Wissenschaft geht auch anders.

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

17 Kommentare

  1. Deorbiting von Satelliten

    Zahlengläubigkeit ist besonders dann schlimm, wenn man den erst besten Zahlen glaubt und nicht in der Lage ist, eine numerische Behauptung nachzurechnen. Eigentlich wundere ich mich, dass es nicht schon lange frei verfügbare Software gibt, mit der man Fragen zu kurz- und langfristigen Veränderungen von Satellitenorbits selber modellieren kann.

    Bei einem Satelliten in einem niedrigen bis mittleren Orbit sollte man sicher (Zitat)“Vorkehrungen zur Begrenzung seiner Lebensdauer” treffen.

    Doch um 8000 Tonnen – die Masse von Envisat – in eine andere Umlaufbahn zu bringen, gar ein Deorbiting einzuleiten, braucht es wohl schon eine rechte Menge Treibstoffe.

    Eigentlich sollte es eine Standardlösung für das Deorbiting geben. Ein kleines Ionentriebwerk zusammen mit einem Kilogramm Treibstoff dafür sollte eigentlich in jedem Fall ausreichen. Das Gesamt-Deorbiting-Paket via Ionenstrahltriebwerk könnte wohl unter 50 kg (Gewicht des Xenon-Treibstoffs von Smart-1) zu liegen kommen und damit an jeden grösseren Satelliten angeflanscht werden. Eine Alternative wären aufblasbare Ballone. Diese würden den Widerstand erhöhen und wären wohl noch leichter als ein Zusatztriebwerk.

    [Antwort: Zunächst eine kleine Korrektur: Die Masse von Envisat is 8000 kg, nicht, wie Sie schreiben, Tonnen. Das war nur ein Tippfehler.

    Zur Sache, das Delta-v für ein komplettes Deorbit aus rund 800 km liegt bei etwa 400 m/s, ist also nicht viel, wenn man ein Ionentriebwerk einsetzt.

    Es würde bereits vollkommen ausreichen, mit nur einem Manöver das Perigäum auf etwa 500 km abzusenken. Das würde 80 m/s kosten. Mit Hydrazin allein läge die Treibstoffmasse, die dafür erforderlich ist, bei etwa 300 kg.

    Mit einem Ionentriebwerk würde man also wahrscheinlich weniger Masse brauchen, dafür würde das ganze Deorbit allerdings einige Monate dauern. Sollte kein großes Problem sein, solange der Satellit steuerbar bleibt.

    Die Sache mit der Vergrößerung der Querschnittsfläche fiunktioniert gut bei kleinen Satelliten, bei denen ja ohnehin das Verhältnis Oberfläche zu Masse größer ist. Bei Envisat wäre das kein wirklich effizienter Prozess. Aktives Deorbit ist besser. MK]

  2. Alternative De-Orbiting Methoden

    Wäre es bei zukünftigen Missionen möglich so etwas wie einen Bremsfallschirm an Satelliten zu befestigen? Reicht die Restatmosphäre auf 800km überhaupt aus um dieses Konstrukt zu entfalten/aufzublähen? Wenn ich den Artikel richtig verstanden habe ist Drag das einzige was noch die Bahn absenken kann wenn der Treibstoff verbraucht ist. Eine kleine Feder welche durch eine Art “Totmannschalter” den Bremsschirm ausstößt sobald der Satellit keinen Strom mehr produziert oder keine Signale von der Erde mehr verarbeitet, müsste doch als autonomes System recht simpel und robust herzustellen sein. Da auch in diesen Umlaufbahnen die mechanischen Beanspruchungen nicht sehr groß sein dürften könnte man auch extrem dünne/leichte Materialien verwenden.

    Wo ist mein Denkfehler? Es muss ja einen geben sonst hätte man das bestimmt schon gemacht, oder?

  3. Oh hatte den Kommentar von Martin noch nicht gesehen, diesem stimme ich natürlich vollumfänglich zu wobei ich mich gerade bei Themen wie End-of-life Technologien am liebsten auf die einfachsten Methoden konzentrieren würde

  4. @Martin Holzherr: Zahlengläubigkeit?

    Wer sich wissenschaftlich betätigt und Papers schreibt und auf Konferenzen vorträgt, sollte doch zur kritischen Bewertung seiner Daten imstande sein. Wenn Envisat im aktuellen Orbit von 780 km Höhe 150 Jahre Lebensdauer hat, nur 30 km tiefer, bei 750 km, aber schon nur 25 Jahre Lebensdauer haben soll, dann müsste ja von 780 km auf 750 km die Luftdichte um den Faktor 6 zunehmen.

    Oder warum sollte sonst die Lebensdauer sich derart verringern? Spätestens dieser Punkt hätte auffallen sollen, als das betreffende Paper geschrieben wurde.

  5. @Michael Khan: Sprache == Denken?

    Unter Absolventen von Phil.I-Fächern (Sprachen und Geisteswissenschaften) ist es verbreitet, Denkkraft mit Sprachfertigkeit, differenziertem sprachlichen Ausdruck usw. gleichzusetzen.

    Da würde Mejía-Kaiser gut abschneiden, wenn man all die Wendungen liest, die sie in ihrem Papier verwendet ( “”… negligent conduct ….” “…. affects ESA’s credibility ….” “…ESA’s damaged credibility ….”…)

    Doch letztlich kommt es auf die Sache an und aus der gut verstandenen Sache folgt alles andere.

  6. Schlechter Stil @Martin Holzherr

    Die Art und Weise wie Martha Mejía-Kaiser auf die ESA losgeht ist einfach schlechter Stil, darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Es ist jedoch völlig unangebracht sich wegen dieser Vorkommnisse pauschal über “Absolventen von Phil.I-Fächern” auszulassen. Da es immer eine individuelle Angelegenheit ist, wie gut jemand bestimmte Dinge versteht und beurteilt. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft kann nun mal nicht jeder alles leisten. Insofern hätte sich Martha Mejía-Kaiser natürlich besser informieren müssen. Vielleicht macht sie aber auch für jemanden Lobbyarbeit und wollte die Tatsachen bewusst verdrehen, wer weiß das schon.

    Es schüttelt einem immer wieder, welche Leute in Bezug auf Raumfahrt etwas zu sagen haben. Beispielsweise der amerikanische Abgeordnete Paul Broun, er ist Mediziner und Mitglied des Ausschusses für Wissenschaft, Weltraum und Technologie des Repräsentantenhauses. Er scheint da aber eine recht spezielle Ansicht zu vertreten, denn er sagt: “Ich habe gelernt, das zu verstehen. All das Zeug, das ich über Evolution und Embryologie und den Urknall beigebracht bekommen habe, sind Lügen direkt aus der Hölle”.

    http://derstandard.at/…ege-direkt-aus-der-Hoelle

  7. @Mona: Kreise der Kompetenz

    Als Mitglied des International Institute of Space Law ist Martha Mejía-Kaiser sicher befugt Aussagen über die Sicherheit von Satelliten im Orbit zu machen. Allerdings bräuchte sie wohl wie Juristen, die Ärztefehler vor Gericht bringen, Experten, die ihr in nicht-juristischen Fragen zur Seite stehen.
    Der Vorfall, der in diesem Beitrag geschildert wird, zeigt deshalb, dass das Raumfahrtsrecht noch zu wenig professionalisiert ist und erst einige inkompetent wirkende Einzelstreiter dieses neue Feld beackern.

    Etwas anderes sind dagegen fachfremde Personen in Ausschüssen oder auch Geschworene in richterlicher Funktion. Diese Laien entscheiden oft wichtige Dinge wie eben ob jemand schuldig oder unschuldig ist oder ob ein bestimmtes Raumfahrtprojekt finanziell unterstützt wird oder nicht. Nehmen wir das Commitee on Science, Space and Technology des US-Repräsentantenhauses und dort das Subcommittee on Space and Aeronautics, welches überwachende Funktionen wahrnimmt und für gesetzgeberische Fragen zuständig ist. Zudem kümmert es sich stark um kommerzielle Fragen im Zusammenhang mit der Raumfahrt.
    Man könnte natürlich nur Raumfahrtspezialisten in solch ein Komitee reinlassen. Die würden sich aber wohl zuwenig um gesellschaftliche Aspekte und um die Finanzierbarkeit relativ zu anderen Projekten kümmern. So gesehen macht es Sinn, prinzipiell jedem Kongressmann den Zutritt zu gewähren. Selbst Abgeordneten wie Paul Broun. Allerdings stehen seine Ansichten – Kreationismus, Leugung des Urknalls, Ablehnung der embryologischen Erkenntnisse – konträr zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten paar hundert Jahre.
    Wichtig ist das natürlich, weil er kein Einzelfall ist und seine Ansichten in den Reihen der Republikaner beinahe Mainstream sind. Das bedeutet, dass sich Teile der amerikanischen Gesellschaft, die den Ton angeben und die dortigen Gesetze bestimmen von der modernen Welt verabschiedet haben.
    Das ist sicher nicht auf die USA beschränkt. Auch in Europa gibt es Homöopathen oder/und Impfgegner, die zugleich Mediziner sind und die Einfluss nehmen wollen auf die Gesetze, die den Umgang unserer Gesellschaft mit Wissenschaft und Technologie bestimmen.

    Es gibt das Paradox, dass eine Gesellschaft, die vieles der Wissenschaft und Technologie verdankt, zunehmend eine Elite hervorbringt, die dafür sorgen will, dass nur noch jener Teil von Wissenschaft und Technologie gefördert wird, der kompatibel zu ihrem unswissenschaftlichen, oft esoterisch angehauchten Weltbild, ist.

    Dagegen ist wohl kein Kraut gewachsen. Nur Aufklärung. Wer sich aber nicht aufklären lassen will, was soll man mit so einem machen?

    Man kann sich zukünftige Gesellschaften vorstellen, in der viele Menschen ihren verrückten persönlichen, aber der Wissenschaft widersprechenden Weltbildern anhängen, die aber letztlich ihr Leben trotzdem der von ihnen abgelehnten Wissenschaft und Technologie verdanken. Also Eltern, die ihr Kind einer Gentherapie unterziehen lassen, aber nicht an die Evolution und die Macht der Gene glauben. Viele dieser Menschen würden in einer Illusionsblase leben und nicht realisieren, dass diese Blase nur als parasitäres Objekt existieren kann und ihre Existenz einem Überfluss verdankt, der auf die von ihnen abgelehnte Technologie zurückgeht.

    Das könnte den Weg öffnen zu einer Gesellschaft in der es nur noch eine Pseudodemokratie gibt und die in Wirklichkeit von einer fürsorgenden, vielleicht sogar künstlichen Rationalität gelenkt wird, welche den von ihr umsorgten “Kindern” alles einlöffelt – inklusive bonbonartige Illusionen. Das Zeitalter der künstlichen Intelligenz, die die natürliche Dummheit managet, wäre angebrochen.

  8. Ölspur

    Vorsicht, Öl auf der Fahrbahn.

    Man könnte genau auf der Umlaufbahn des beschädigten Satelliten eine Wolke aus gegenläufigen Öltröpfchen aussetzen.

    Nach einiger Zeit entsorgen sich diese Öltröpfchen von selbst durch Verdunstung, aber vorher simulieren sie eine bremsende Atmosphäre, wo sonst keine ist.

    Für Satellitentrümmer muss die Wolke aus gegenläufigen Öltröpfchen einen grösseren Durchmesser haben.

    Text:

    http://www.e-stories.de/…geschichten.phtml?33860

  9. Antwort @Martin Holzherr

    “Als Mitglied des International Institute of Space Law ist Martha Mejía-Kaiser sicher befugt Aussagen über die Sicherheit von Satelliten im Orbit zu machen.”

    Es geht hier nicht darum, dass Martha Mejía-Kaiser keine Aussagen machen darf, sondern darum, wie sie diese Aussagen macht. Meines Erachtens kann man alles kritisieren, wenn man dabei sachlich bleibt und seine Kritik sauber belegt. Außerdem hätte sie ihre Kritikpunkte doch jederzeit mit den entsprechenden Fachleuten abklären können, statt dessen wirft sie mit gefühlsbeladenen Anschuldigungen um sich. Wenn jemand Mitglied des “International Institute of Space Law” ist, dann sollte seine Kritik auch Hand und Fuß haben.

    “Das ist sicher nicht auf die USA beschränkt. Auch in Europa gibt es Homöopathen oder/und Impfgegner, die zugleich Mediziner sind und die Einfluss nehmen wollen auf die Gesetze, die den Umgang unserer Gesellschaft mit Wissenschaft und Technologie bestimmen.
    Es gibt das Paradox, dass eine Gesellschaft, die vieles der Wissenschaft und Technologie verdankt, zunehmend eine Elite hervorbringt, die dafür sorgen will, dass nur noch jener Teil von Wissenschaft und Technologie gefördert wird, der kompatibel zu ihrem unswissenschaftlichen, oft esoterisch angehauchten Weltbild, ist.”

    Das sehe ich etwas anders. Erzkonservative Republikaner, wie der US-Abgeordneten Paul Broun, vertreten kein harmloses esoterisch angehauchtes Weltbild, das sind Hardcore-Religiöse. In der Geschichte wurde die Religion oft von der Politik instrumentalisiert oder umgekehrt. Das gelang deshalb so gut, weil beiden der selbe Antrieb zugrunde liegt, nämlich das Streben nach Macht. Und wer ein klares konfessionelles Bekenntnis hatte, der war auch bereit dafür in den Krieg zu ziehen. Diese Gefahr sehe ich bei “Homöopathen oder/und Impfgegnern” nicht.

  10. @Mona: Glauben in Religion + Esoterik

    Vertreter von alternativen Heilmethoden glauben oft in ähnlicher Weise wie Religiöse, das ist mindestens meine Erfahrung. Zu diesem Glauben gehört das Ausblenden von Erfahrungen, die dem Glauben widersprechen. Ein Homöopath beispielsweise, der eine Person mit rheumatischer Arthritis “behandelt”, lässt sich nicht davon beirren, wenn es der Arthritikern nach Absetzen der von der Schulmedizin verordneten Medikamente schlechter geht, was ich in meinem Bekanntenkreis selber erlebt habe. Der Glaube ist bei diesen Anhängern einer Religion oder einer Heilslehre eben stärker als die Erfahrung.

    Religiöse und Alternativ”mediziner” sind meiner Erfahrung nach auch bereiter, irrationalen Begründungen auch in anderen Lebensbereichen als denen, denen sie sich verschrieben haben, anzunehmen. Der Glaube an tiefgreifende Unterschiede zwischen den Geschlechtern und verschiedenen Menschenrassen ist ebenfalls häufig in diesen Kreisen anzutreffen.

  11. Nicht alles vermischen @Martin Holzherr

    Ja, das mag ja alles sein! Aber Sie sollten schon einen Unterschied zwischen fanatischen Gläubigen machen, die anderen Leuten ihren Glauben aufzwingen und dafür auch bereit sind Kriege zu führen und solchen, die mit Zuckerkügelchen Krankheiten heilen möchten. Mir ist auch keine Kirche der Leichtgläubigkeit bekannt. Aber das hier ist nicht Platz, um über solche Dinge zu diskutieren.

  12. Um mal wieder zum Thema zurück zu kommen: Habe eben gesehen, dass in einem Artikel bei Raumfahrer.net auf diesen Beitrag verwiesen wird. Na das nenn ich doch mal Verbreitung. 😉

  13. Pressemitteilung der ESA zum Thema

    Am 11.10.2012 ist eine Pressemitteilung der ESA zu diesem Thema herausgegeben worden, die natürlich viel vornehmer und diplomatischer formuliert ist als mein Blog-Artikel, aber zum wesentlichen Punkt dasselbe sagt, nämlich, dass für Envisat das Erreichen einer Bahnhöhe, von der aus die Lebensdauer nur 25 Jahre betragen hätte, ausgeschlossen war.

    Wer die ESA-PM aufmerksam liest, wird die Höhenangaben verwirrend finden. Dort steht, dass Envisat nach dem Start auf 780 km Bahnhöhe war und nun auf 768 km abgesenkt wurde, wohingegen in meinem Artikel von einer aktuellen Bahnhöhe von 780 km gesprochen wurde. Die ursprüngliche Bahnhöhe war bei 797 km, das Absenkmanöver im Oktober 2010 reduzierte die Bahnhöhe um 17 km.

    Die scheinbare Differenz liegt in einem Unterschied in der Definition des Begriffs Bahnhöhe. Die Angaben in der ESA-PM (780 km ursprünglich, 768 km jetzt) beziehen sich auf den Erdäquator. Meine Werte (780 km jetzt, 797 km vorher) beziehen sich auf den mittleren Radius des Geoids. Das ist auch konsistent mit den Angaben, die bis jetzt immer seitens der ESA gemacht wurden, beispielsweise in dieser PM vom Oktober 2010, in der die Absenkung der Bahnhöhe von etwa 800 auf etwa 783 km im Rahmen der Missionsphase Envisat 2020+ beschrieben wird. Gleichzeitig muss man bei den Angaben der Bahnhöhe sowieso immer aufpassen, insbesondere bei niedrigen, polaren Bahnen. Die instantanen Bahnelemente weichen kräftig von den “mittleren”, über deren Definition man auch noch streiten kann, ab. Das einzige, was wirklich unzweideutig geht, ist die Definition instantaner, “oskulierender” Bahnelemente zu einem definierten Zeitpunkt.

    Auf heavens-above.com können die Two-Line-Elements für Envisat eingesehen werden. Dort ist die Anzahl der Umläufe pro Tag mit 14.37548911 angegeben (was natürlich absurd übergenau ist). Wie auch immer, hieraus erhält man eine Bahnperiode von 6010.23 s und daraus eine mittlere große Halbachse von 7144.74 km. Subtrahiert man hiervon den Äquatorialradius von 6378.14 km, kommen 766.6 km heraus. Subtrahiert man aber den mittleren Radius eines Ellipsoids, der die Form der Erde approximiert, dann landet man bei etwa 780 km.

  14. Warum nutzt man nicht solche Herausforderungen wie Envisat um per modularer Bauweise universell umrüstbare Reparatursatelliten/Roberter zu bauen, die auf der ISS stationert bzw. dort angedockt werden und bei Bedarf zur Reparatur von Sateliten jeweils spezifisch umgerüstet, in die Entsprechende Bahn eingeschossen werden und nach erfolgter Reparatur mit den ausgetauschten Teilen zur ISS zurückkehren? Wäre der regelmäßige An-/Abtransportg von Ersatzteilen mit ISS-Versorgungsmissionen machbar?
    ISS als Weltraumwerkstatt eine sinnvolle Weiternutzungsperspektive?

  15. Modulare Satelliten – das ist zwar eine gute Idee, aber nicht zur Reparatur, sondern um an einem defekten oder alten, abgeschalteten Satelliten anzudocken und dann mit einem Manöver des eigenen Bordtriebwerks beide zum Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zu veranlassen. Andocken an einem nicht-kooperativen, wahrscheinlich taumelnden Objekt ist hochgradig nichttrivial. Man kann schon froh sein, wenn das gelingt. Reparatur und Wiederinstandsetzung ist dann keine realistische Perspektive.

    Allerdings ist die ISS keine geeignete Ausgangsbasis für diese Art von Rendezvous- und Docking-Missionen. Dazu sind die Bahnen der möglichen Ziele zu unterschiedlich und zu stark von der Bahn der ISS abweichend.

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