Ursache des Proton-Fehlstarts: Qualitätsmängel
BLOG: Go for Launch
Die russische Raumfahrtagentur Roskosmos hat am vergangenen Freitag in einem Statement ein Versagen der Turbopumpe der Drittstufe als Ursache für den Fehlstart am 15. Mai genannt. Kern des Problems war demnach eine Unwucht in der Turbopumpe aufgrund von Materialversagen bei hohen Temperaturen und unzureichender Auswuchtung. Das ist schon mal bedenklich und klingt eher nach etwas, was man bei einer neuen Rakete erwarten könnte. Nicht nach etwas, womit man sich noch bei einer Rakete herumschlagen müsste, die in unterschiedlichen Versionen bereits seit 1967 im Einsatz steht.
Eine Turbopumpe ist eine von einem Gasgenerator (eigentlich selbst ein kleines Raketentriebwerk) angetriebene Pumpe. Heißgas aus der Verbrennung des Brennstoffs und des Oxidators im Gasgenerator treibt eine Turbine an. Diese dreht über eine Welle einen Kompressor, der Brennstoff und Oxidator in großen Mengen und unter hohem Druck in die Brennkammer des Haupttriebwerks fördert. Turbopumpen sind hochbelastete Komponenten und laufen mit sehr hohen Drehzahlen. Von allen kritischen Komponenten in einer Raketenstufe sind die Turbopumpen wahrscheinlich die am höchsten belasteten und die mit dem größten Ausfallrisiko behafteten.
Der Hersteller der Rakete, Khrunichev, hat drei Punkte idenitifiziert, an denen angesetzt werden soll, um das Problem nun endlich auszuräumen. Zutat aus der Übersetzung der russischen Pressemitteilung in Space News:
Changing materials used for the turbo pump rotor shaft manufacturing;Revision of the turbo pump rotor balancing techniques;Upgrade of the steering engine turbo pump mount to the main engine frame, and others.
Also drei massive Eingriffe, von denen nur einer, nämlich “Revision of the turbo pump rotor balancing techniques” (Änderung der Auswucht-Technik des Turbopumpenrotors) prozeduraler Art ist. Die beiden anderen sind technisch: “Änderung der Materialen für die Welle” und “Änderung der Turbopumpenmontierung”. Offenbar geht man davon aus, obwohl das nicht explizit genannt wird, dass ausgehend von einer anfänglichen Unwucht die Hauptwelle der Turbopumpe gebrochen ist und ein Abriss der Turbopumpe aus ihrer Befestigung erfolgte (wenn allerdings die Welle bereit gebrochen ist, ist es auch schon egal, ob die Pumpe selbst dann auch noch abreißt)
Diese Aussage dürfte allen Kunden steile Sorgenfalten auf die Stirn treiben. Eine solche Ansammlung tief greifender Veränderungen? So fundamental sind die Probleme bei der Proton? Und kann man nun davon ausgehen, dass das Übel behoben ist? Oder wird hier nach dem Bananenprinzip verfahren? Unreif ausliefern und beim Kunden reifen lassen? Der Kunde darf dann allerdings jeweils sein Hunderte Millionen teures Eigentum als Ballast für den Teststart zur Verfügung stellen.
Verschärft wird das Problem dadurch, dass Khrunichev auch der Hauptauftragnehmer für die in der Entwicklung befindliche neue russische Raketenfamilie Angara ist. Die Anzahl erfahrener Raketeningenieure und Techniker ist begrenzt. DIe Leute können sich nicht zweiteilen. Entweder arbeiten sie Vollzeit an Angara. Dann haben sie aber keine Zeit, noch neu auftretende Probleme der Proton-Rakete zu lösen, die ohnehin als Auslaufmodell gesehen wird und in die man deswegen nur noch so wenig wie eben möglich investieren will.
Oder aber, man zieht die Leute von der Angara ab, damit sie die Proton wieder auf Kurs bringen. Dann gerät das neue, politisch wichtige Raketenprojekt in Verzug.
Oder aber, man setzt die Leute unter Druck, damit sie neben der Entwicklung der Angara auch noch das neue Proton-Problem in den Griff kriegen. Dann kann man sich jetzt schon ausrechnen, dass es bei der Proton nicht besser und bei der Angara von vorneherein nicht gut werden wird. Auch erfahrene und hochqualifizierte Menschen können nur einen gewisse Anzahl von Stunden die Woche produktiv arbeiten. Wenn man ihnen mehr aufhalst als realistischerweise machbar ist, steigt die Fehlerquote steil an, weil sie gezwungen werden, Abkürzungen zu nehmen, die sie lieber nicht nehmen sollten (und auch nicht nehmen wollen, aber müssen), und weil sie nicht mehr ausreichend Zeit zur Entspannung haben. Das ist eine der Offensichtlichkeiten, die Manager üblicherweise nicht kapieren.
Ein weiterer Artikel in Space News stellt das aktuelle Problem in den weiteren Kontext des Marktumfelds für Satellitenstarts. Dort wird ein Vertreter der Versicherungsindustrie mit folgender Aussage zitiert:
There is no new risk in Proton — that’s part of the problem. This is not a new rocket with a design defect. This is a rocket that fails from time to time because of quality control problems. There is nothing new.
So, und nun lasst mich raten, Leute: Die Rakete fällt wegen der erforderlichen Modifikationen ein halbes Jahr aus und der erste Start der modifizierten Version wird im Januar 2016 erfolgen – mit der europäisch-russischen Mars-Mission “ExoMars 2016” als Testnutzlast.
Och nee, oder? Oder doch? Oder was?
Irgendwie muss man die revididierte Turbopumpe der Proton ja testen. Die ExoMars-Mission ist da so gut wie jede andere Mission.
Aus Sicht des Raketenbetriebers vielleicht. Der hat ohnehin von interplanetaren Missionen nichts, den die machen einen Haufen Zusatzarbeit, bringen aber nicht mehr Gewinn. Der Eigner der Nutzlast sieht das aber verständlicherweise ganz anders.
Als die erste Ariane 5 G im Jahr 1996 wegen vermeidbarer Softwareprobleme ein Höhenfeuerwerk veranstaltete, gingen die vier Satelliten der Satellitenkonfiguration “Cluster” zu Bruch. Die nächsten zwei Starts, von denen der erste eigentlich auch wieder ein Fehlschlag war, trugen weitgehend Dummy-Nutzlasten.
Arianespace lernte aber daraus nichts und startete die erste Version der neuen Ariane 5 ECA im Dezember 2002 ebenfalls mit einer kommerziellen Nutzlast. Auch dieser Start war ein Fehlschlag. Der darauffolgende ECA-Start brachte wiederum hauptsächlich Dummys hoch und war ein Erfolg.
Nach einer Modifikation, wie sie jetzt offenbar bei der Proton ansteht (wohlgemerkt ist dies keine brandneue Rakete, wo man die Notwendigkeit solcher Modifikationen ja noch einsehen könnte), wäre auch der Start von Dummys ratsam. Oder vielleicht stellt die russische Regierung ein paar GLONASS-Navigationssatelliten zur Verfügung. Die sind mit Starts von denen ja Kummer gewohnt.
Ja, kaum ein Erststart der nicht ein Misserfolg war (ist mein persönlicher unbelegter Eindruck). Auch die beiden ersten SpaceX-Flüge mit der Falcon 1 misslangen, wobei deim Erststart die Nutzlast FalconSAT–2 verlorenging und beim Zweitstart die Nutzlast DemoSat ( for DARPA and NASA). Beim dritten Start der Falcon I klappte dann die erste Stufe tadellos, nicht aber die zweite Stufe, so dass die Nutzlasten Trailblazer (Jumpstart-1) satellite for the US Air Force,[10] the NanoSail-D and PREsat nanosatellites for NASA and a space burial payload for Celestis.[11]) den Orbit nie erreichten.
Normal. Ein so komplexes System wie eine Rakete, bei der alles unter Höchstbelastung steht und dennoch funktionieren muss, kann einfach nicht auf Anhieb laufen. Da braucht es ein paar Teststarts, ebenso wie eine Fußballmannschaft ein paar Testspiele verlieren dürfen muss, damit sie zu einer Mannschaft wird.
Was aber Besorgnis erregt, ist, wenn die Zuverlässigkeit des Systems nach Jahren und Jahrzehntes des Betriebs nicht annähernd die marktüblichen Werte erreicht. Dann liegt da etwas im Argen.
Könnte man heute nicht eine Rakete vollständig in Software nachbauen und dann 1:1 simulieren. Dabei könnte man die Steuerungssoftware ohne jede Codeänderung testen. Im Idealfall baut man die Rakete bereits aufgrund eines sehr detaillierten Computermodells und parametrisiert schliesslich die verschiedenen Bauteile gemäss Messungen an der fertiggestellten Rakete.
Wenn man genau wüsste, was man alles falsch machen kann, dann würde das ja nicht falsch gemacht werden.
In der Theorie kann die Theorie die Praxis identisch abbilden. In der Praxis kann sie das aber nicht.
@Michael Khan: Eine Simulation nützt nichts, wenn Komponenten aus völlig unvorhersehbaren Gründen versagen. Sie hilft aber bei der Aufdeckung von systematischen Fehlern und bei Schwächen im sequentiellen Ablauf. Ferner kann man eine Simulation hunderte Mal durchspielen mit leicht veränderten Paramtern und damit Schwachstellen finden.
TASS und RT haben übrigens das Versagen der Turbopumpe auf einen Designfehler zurückgeführt. Solch ein Fehler sollte sich bei der Finite-Elemente-Simulation als Überbeanspruchung zeigen.
Sollte es wirklich so sein, dass ein Schadenfall ein Mal im Jahr 1988 aufgetreten ist (vielleicht ja auch nicht, das ist nur eine Theorie, und offenbar wured sie von einem Politiker vorgebracht, nicht von einem Techniker), damals noch bei der Proton K, und dann 26 Jahre und Hunderte von Starts später (auch da wieder unsicher) bei einer Proton M, dann dürfte es wohl schwierig sein, nachzuweisen, dass es hier eine gemeinsame Ursache gibt.
Es ist zugegebenermaßen allerdings so, dass der Fehlstart am 15. Mai 2014 und der am 15 Mai 2015 auffallende Ähnlichkeiten aufweisen, dort beide Male mit derselben Rakete.
Die eher kryptischen Verweise auf eine Änderung des Materials für die Welle der Turbopumpe kann auf verschiedene Weise gedeutet werden. Zum einen kann es sein, dass es da ein Problem gibt, dass sich nur unter einem ganz bestimmten, seltenen Zusammenspiel von Randbedingungen manifestiert. Es kann aber auch sein, und angesicht dessen, was man gerade mit dieser Rakete bereits erlebt hat, würde ich denen das zutrauen, dass die einen ganz konkreten Verdacht haben, weil sie nämlich vor nicht allzu langer Zeit an dieser Stelle im Design herum gefummelt haben. Die aktuellen Vorschläge zur Behebung des Problems wären dann nur eine Verklausulierung von “Upps. Das hätten wir lieber nicht machen sollen. Gehen wir lieber zurück zur alten Version”.
Zitat: the recent [Proton] crash “is miraculously similar” to the crashes in 1988 and 2014, when the state commission also failed to establish the exact causes for malfunctions.
Hat hier die Qualitätskontrolle und die Aufarbeitung von Unfällen (wohl analog zur Aufklärung von Flugunfällen) versagt? Mit anderen Worten: Hätten NASA und ESA Konsequenzen aus den ähnlich gelagerten Proton-Unfällen 1988 und 2014 gezogen und nicht locker gelassen bis sie die Schwachstelle gefunden hätten? Oder kommt es vor, dass man einfach sagt: Pech gehabt, wird nächstes Mal schon klappen.
An irgendeinem angeblichen Ereignis im Jahre 1988 kann man doch zweieinhalb Jahrzehnte später nichts fest machen. Und überhaupt: Welche Konsequenz soll denn die ESA ziehen können? Die Russen boten 2011 an, beim ExoMars-Projekt einzusteigen, als die NASA gerade dabei war, die Europäer schnöde sitzen zu lassen. Die Europäer wollten das von ihnen selbst finanzierte Projektvolumen nicht um die Kosten einer Rakete vergrößern. Da kam das Angebot der Russen gerade recht. Den Europäern muss klar gewesen sein, worauf sie sich einlassen. Selbst schuld.
Ich weiß jetzt nicht, was Sie im Zusammenhang mit der Proton-Rakete von der NASA erwarten?
Das war wohl missverständlich formuliert. Ich meinte: Wenn die NASA oder ESA ein Problem a la Proton 1988 und 2014 bei einer ihrer eigenen Raketen gehabt hätte (Absturz aus nur halbwegs abgeklärten Umständen) hätten dann die NASA und die ESA nicht geruht bis sie die Fehlerquelle gefunden hätten. Oder gibt es auch bei der NASA und ESA einen Aufklärungsschlendrian?
OK, jetzt verstanden. Nein, die ESA hat beispielsweise nach dem letzten Fehlstart einer Ariane 5 eine Untersuchungskommission einberufen, deren Befund von Arianespace akzeptiert und deren Empfehlungen umgesetzt wurden. Dieser Start war im Dezember 2002. Offenbar waren die getroffenen Maßnahmen also wirkungsvoll.
Laut dieser Webseite war der Ausfallgrund beim Start vom Mai 2014, dass ein Verbindungselement zwischen Turbopumpe und Haupttriebwerksrahmen seine Festigkeit einbüßte:
Womit sich die Frage stellt, ob beim 2014er-Start der Festigkeitsverlust des Verbindungselements die eigentliche Versagensursache war oder oder wie beim Start von vor zwei Wochen nur die Folge einer Unwucht im Turbopumpenrotor.
Siehe dazu mein neuer Artikel. Offenbar ein Zusammenwirken verschiedener Umstände. “Borderline conditions”, was auch immer damit genau gemeint ist, eine unzureichende Auswuchtung, verschärft durch ein falsches Material in der Antriebswelle und eine zu schwache Konstruktion der Pumpenaufhängung.