“Tiangong fliegt auf einer Wellenbahn …”

So, jetzt habe ich genau ein Mal zu oft im Radio gehört oder auf einem Presseportal gelesen: “Tiangong fliegt auf einer (komplizierten) wellenförmigen Bahn”. Nein, Leute. Glaubt das nicht. Tiangong 1 fliegt wie alle  erdnahen Satelliten auf einer elliptischen Bahn.

Ich weiß, ich könnte jetzt auf irgendeine der vielen Webseiten verweisen, in denen das auseinanderklamüsert wird. Aber was soll’s, ich habe die zwei Videodateien, die ich zur Erklärung brauche, ohnehin gerade zur Hand. Dann kann ich sie auch verwenden.

Also.

Eine Satellitenbahn im Inertialsystem

Im folgenden Film ist die Bahn eines erdnahen Satelliten in einem inertialen Koordinatensystem dargestellt. Nehmen wir an, der Betrachter schwebt irgendwo reglos (relativ zur Erde) im Weltraum und schaut auf die Erde hinab. Natürlich hinterlässt eine Satellitenbahn keine rote Spur im Weltraum, aber wenn sie es täte, dann sähe das so aus wie hier.

Die simulierte Bahn hat eine Höhe von 200 km. Sie ist kreisförmig und die Neigung der Bahnebene gegenüber dem Erdäquator liegt bei 43 Grad. Das alles ist aber egal – die Erklärung funktioniert ganz unabhängig von den tatsächlichen Parametern. Sie sehen: Die Bahn ist ein Kreis. Sie läuft einmal um die Erde herum und kommt dann nach 88.5 Minuten wieder ganz genau am Ausgangspunkt an.

Ganz?

Nein, nicht ganz … eine Bahn ist gestört, und auch in dieser Simulation wurden Störungen berücksichtigt. Zum Einen unterliegt die Bahnebene der Präzession aufgrund eines konstanten Drehmoments, das wegen der Abplattung der Erde wirkt. Bei einer Inklination von weniger als 90 Grad (wie hier) driftet die Bahnebene westwärts. Die Drift ist allerdings in der Zeit eines Umlaufs so klein, dass man sie im Film noch nicht erkennen kann.

Man sieht deutlich, dass sich die Erde in diesen 88.5 Minuten weiter gedreht hat. Das aber hat auf die Bahn keinen Einfluss, denn sie ist hier ja im inertialen Referenzsystem dargestellt, wie sie ein relativ zur Erde still stehender Beobachter sehen würde.

Also, nix mit Wellenbahn.

Die Projektion der Bahn auf die Erdoberfläche

Angenommen, wir schauen uns die Position des Satellit im obigen Film in Abständen von einer Minute an, und zwar relativ zur Erdoberfläche. Das heißt, man schaut in jeder Minute nach, über welchem Punkt der Erde der Satellit (egal, ob nun Tiangong oder die ISS oder irgendein anderes Raumfahrzeug) sich gerade befindet, schreibt sich die aktuelle geographische Länge und Breite auf, nimmt dann eine Weltkarte und trägt die Folge aus Positionsdaten dort ein: das Ergebnis dieser Projektion auf die Erdoberfläche ist eine wellenförmige Kurve. Genauer gesagt: eine Sinuskurve. Das ist die Subspur, die Subsatellitenbahn oder auf Englisch: ground track.

Ja, die Subspur ist wellenförmig. Aber Tiangong ist in der Hinsicht nichts Besonderes. Die Subspur jedes Satelliten ist eine Sinuskurve – die Bahn ist aber natürlich elliptisch.

Ganz einfach, oder?

In der Projektion der Bahn sieht man übrigens deutlich den Effekt der Erdrotation. Zwischen dem Anfangs- und Endpunkt klafft eine Lücke von knapp 22.5 Grad. Um diesen Winkel hat sich die Erde weiter gedreht, während der Satellit einen Bahnumlauf vollführte.

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

3 Kommentare

  1. Eine Sinus-ähnliche Spur ist es aber nur in dieser einfachen Kartenprojektion, und bei LEO-Satelliten mit nicht zu großer Inklination oder Extrentrizität. Im GEO wird daraus ein Punkt oder Kreis, und polare Orbits oder sonnensynchrone Orbits sehen in der Projektion auch deutlich anders als ein Sinus aus.

    • Vollkommen richtig. Aber ich wollte langsam einsteigen und habe Tiangong 1 und seine Bahn als Aufhänger genommen. Wenn demnächst mal ein Satellit in einem SSO oder einer hochexzentrischen Bahn im Medieninteresse steht, schreibe ich häppchenweise was darüber, wie die Subspuren solcher Bahnen aussehen. Diese Art von Artikel ist ja nicht an die Leser gerichtet, die schon vertiefte Kenntnisse haben, denn die wissen ohnehin, dass das mit der wellenförmigen Bahn nicht stimmt.

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