Aerobraking hat endlich fertig!

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Raumfahrt aus der Froschperspektive
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Gestern Abend um 18:20 MEZ führte die ESA-Marssonde ExoMars-TGO (Trace Gas Orbiter) am Apozentrum seiner Bahn, 1050 km über der Oberfläche des roten Planeten, ein Manöver durch, das den tiefsten Punkt der Bahn auf 200 km anhob. (Artikel im Webauftritt der ESA –> hier)

Das Perizentrum liegt nunmehr deutlich außerhalb der Atmosphäre, und dort wird es auch bleiben, bis die Sonde irgendwann einmal abstürzt. Dies wird aber erst in mehr als 50 Jahren passieren, zumindest wenn der zuständige Missionsanalytiker seinen Job ordentlich gemacht hat (wovon man bei dem aber nicht ausgehen kann!). Damit hat der TGO die mittlerweile fast ein Jahr andauernde Aerobraking-Phase endgültig abgeschlossen. Diesr kritische Missionsphase ist nun Vergangenheit.

Endlich. Durch die Räume der Abteilungen für Flugdynamik und Satellitenoperationen beim ESOC in Darmstadt ging ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Die Bahnperiode lag zuletzt bei etwa 127 Minuten. Das bedeutet mehr als 11 atmosphärische Durchgänge pro Tag. Die Gesamtzahl der Durchgänge (“aerobraking passes”) während des Aerobraking liegt bei über 950.

Am Anfang war es nur einer pro Tag, weil die Bahnperiode zu Beginn der Phase genau einen Erdtag betrug. Aber bei jedem Durchgang verlor die Bahn Energie, das Apozentrum senkte sich ab und die Bahnperiode wurde reduziert. So wurden es mehr und mehr tägliche Durchgänge, und die Arbeitsbelastung nahm entsprechend zu.

Von Juni bis September gönnte sich der TGO – praktischerweise in der Ferienzeit – eine Auszeit, um eine obere Konjunktion auszusitzen. Während dieser Zeit war die Kommunikation zwischen Erde und Mars eingeschränkt bis ausgeschlossen, und Signalstörungen hätten die Genauigkeit der Bahnbestimmung beeinträchtigen können.

Warum ist Aerobraking stressfördernd?

Die Raumsonde verbringt zwar nur den kleineren Teil eines Umlaufs in der Atmosphäre. Aber sie muss bereits deutlich vor dem Eintritt in die Hochatmosphäre in die zuvor bestimmte optimale inertiale Lage gebracht werden. Diese ist so, dass der TGO mit der Oberseite Unterseite nach vorn in die Atmosphäre taucht. Die “Unterseite” (im raumsondenfesten System die -x-Seite) ist die Seite, an der das Haupttriebwerk sitzt. Das Haupttriebwerk wird nicht mehr verwendet, nachdem es der Atmosphäre ausgesetzt worden ist. Die “Oberseite” (im raumsondenfesten Koordinatensystem die +x-Seite) ist die, auf der während des Transfers der Landedemonstrator Schiaparelli saß.

Gleichzeitig müssen die Solargeneratoren so gedreht werden, dass sie mit ihrer Rückseite der Anströmung ausgesetzt sind – die mit Solarzellen belegte Seite zeigt somit nach +x.

Die ausrichtbare Hauptantenne muss zwingend während der atmosphärischen Durchgänge heruntergeklappt werden, sodass die Schüssel eng am Raumsondenkorpus liegt, mit der Öffnung nach außen. Zu Beginn der Aerobrakingphase blieb die Hauptantenne noch während des gesamten Umlaufs so. Dann musste aber zur Kommunikation mit der Erde die gesamte Raumsonde geschwenkt werden, und vor dem nächsten Durchgang wieder zurück.

Wer jetzt aufgepasst hat und ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen hat, dem ist sicher aufgefallen, dass es in der Lage der Raumsonde beim atmosphärischen Eintritt immer noch einen Freiheitsgrad gibt. Zwar muss die -x-Seite in Flugrichtung zeigen, aber die Raumsonde kann um die x-Achse herum so ausgerichtet werden, wie es am besten passt – d.h., so, dass die Lagekorrekturen vor und nach dem atmosphärischen Durchgang minimiert werden.

Je tiefer die Bahn ist, desto länger ist die Dauer des atmosphärischen Durchgangs. Am Anfang sind es nur etwa 6 Minuten von Eintritt bis Austritt, weil die Bahn noch stark exzentrisch ist und die Sonde deswegen steil ein- und austritt und weil ihre Geschwindigkeit noch deutlich höher ist. Gegen Ende des Aerobraking sind Ein- und Austritt dagegen flach und die Sonde ist am Perizentrum deutlich langsamer – der Durchgang dauert dann rund 20 Minuten.

Während des Durchgangs ändert sich die inertiale Ausrichtung der Sonde erheblich. Der TGO verhält sich wie eine Wetterfahne. Sein Massenmittelpunkt liegt deutlich weiter zur Anströmrichtung hin als der aerodynamische Angriffspunkt. Die atmosphärische Abbremsung erzeugt somit ein Drehmoment, das die Orientierung relativ zum Inertialsystem zwischen Ein- und Austritt beträchtlich ändert.

Anmerkung: Wenn ich vom Ein- und Austritt in die Atmosphäre spreche, dann darf man sich das nicht so vorstellen wie das Durchqueren einer Wasseroberfläche. Die Dichte der Marsatmosphäre nimmt nach oben hin exponentiell ab, die Abbremsung nimmt damit graduell zu und wieder ab. Grob gesagt: Bei unter etwa 150 km Höhe ist die Sonde “in der Atmosphäre”. 

Wenn man die Dauer des Durchgangs nun in Relation zur Umlaufperiode setzt, dann ist die Zunahme wirklich dramatisch. 5 von 1440 Minuten am Anfang: da bleibt noch massenhaft Zeit für alle notwendigen Operationen außerhalb der Atmosphäre. Wenn aber schon mal 20 von 127 Minuten weg sind, dann muss man zur Nutzung der verbleibenden Zeit einen straffen Zeitplan einhalten. Zumal man von der verbleibenden Zeit ja auch noch die Dauer der Schwenkmanöver abrechnen muss.

In der wirklich zur Verfügung stehenden Zeit gilt es, die Batterien aufzuladen, Telemetrie zur Erde zu senden, Telekommandos zu empfangen, Bahnbestimmungsdaten zu sammeln und vielleicht auch noch ein kleines Manöver am Apozentrum durchzuführen. Die Telemetrie und die Messdaten zur Bahnbestimmung müssen im ESOC in Darmstadt ausgewertet werden – auch das ein sehr zeitintensiver Prozess. So hat die ganze Mannschaft gut zu tun, und zwar 24/7.

Steuerung der Bahn während der Aerobrakingphase

Durch die atmosphärische Abbremsung während der Durchgänge wird in erster Linie das Apozentrum abgesetzt. Das Perizentrum ändert sich dabei kaum – von anfangs etwa 115 km auf am Ende noch etwas über 100 km. Ziel ist, dass der maximale Wärmestrom dabei nicht 1400 W/qm übersteigt. Dem entspricht ein dynamischer Druck von etwa 0.3 N/qm.

Für beide Werte sind Sicherheitsmargen von 100% vorgesehen, falls die Luftdichte bei einem Durchgang viel höher sein sollte als beim vorherigen. Das kommt durchaus vor. Zudem ist noch auf eine Begrenzung der gesamten Wärmemenge während eines Durchgangs vorgesehen. Gegen Ende der Aerobrakingphase ist diese Begrenzung dominant, davor die Begrenzung des Wärmestroms.

Es kann zwar durchaus vorkommen, dass etliche Tage verstreichen, ohne dass aktiv eingegriffen werden muss, um das Perizentrum abzusenken oder anzuheben. Das Anheben kann automatisch erfolgen – entweder um einen kleinen Betrag, wenn die Raumsonde beim Durchgang misst, dass die Abbremsung zu stark wird. Oder aber um einige Dutzend Kilometer, falls eine schwere Fehlfunktion festgestellt wird. Es ist aber auch möglich, per Telekommando ein Manöver ausführen zu lassen.

Warum wurde schon bei 1050 km aufgehört?

Die Planung sah eigentlich so aus, dass das Aerobraking erst dann endet, wenn die Apozentrumshöhe bei etwa 400 km angekommen ist – also bei der Nominalhöhe der operationellen Bahn (dazu bald mehr an dieser Stelle). Aber gerade in der Endphase des Aerobraking steigt nicht nur die operationelle Arbeitsbelastung (siehe oben), sondern auch das Missionsrisiko nimmt unverhältnismäßig zu.

Wenn es eine Zeit gibt, wo etwas schief gehen kann, sodass nicht einmal mehr die automatische Anhebung aus der Gefahrenzone funktioniert, dann hier. Und selbst wenn der Safe-Mode funktioniert, kostet er hier am meisten Treibstoff.

Hinzu kommt ein weiteres Problem. Das wahrscheinlich wichtigste Messgerät während des Aerobraking sind die Beschleuningsmesser. Diese messen den Verlauf der atmosphärischen Abbremsung während des Durchgangs, stellen fest, wo das Maximum lag und integrieren die Abbremsung über die Zeit, um das verabreichte Delta-v zu bestimmen.

Aus diesen Daten kann an Bord berechnet werden, welche Umlaufperiode die Bahn noch hat und zu welchem Zeitpunkt das Perizentrum durchlaufen wurde. Wenn der Bordcomputer diese beiden  Kenngrößen kennt, kann er auch ausrechnen, wann das Apozentrum durchlaufen wird. Er weiß damit, wo ein eventuelles Manöver zur Anhebung des Perizentrums durchgeführt werden müsste.

Allerdings ist das Maximum der Abbremsung bei zunehmend niedriger Bahn und damit flacherem Ein- und Austritt auch weniger ausgeprägt. Es wird also schwieriger, die Zeit des Perizentrums zu berechnen. Notmanöver, die am Apozentrum stattfinden sollen, fänden womöglich gar nicht mehr genau dort statt und wären damit weniger effizient.

Das kann man alles lösen, aber wenn ohnehin noch genug Treibstoff übrig ist – viel mehr, als man braucht, selbst um eine deutlich verlängerte wissenschaftliche Mission zu fliegen – dann erscheint es durchaus angeraten, schon vorher Schluss zu machen und das damit verbundene Mehr an Treibstoffverbrauch zu akzeptieren.

Warum ist noch so viel Treibstoff da? Nun, für alle Manöver und die Navigation bis hin zur Aerobrakingphase war vorsichtigerweise mehr Treibstoff veranschlagt worden als notwendig, wenn alles klar geht. Damit hätte man noch eine gewisse Reserve, um mit Problemen fertig zu werden. Diese Reserve musste aber kaum in Anspruch genommen werden. Also war noch ordentlich was übrig. Ein Teil davon fließt jetzt in die Verkürzung der Aerobrakingphase.

Wie geht es nun weiter?

In den nächste Wochen werden stückweise das Apozentrum weiter abgesenkt und das Perizentrum angehobe. Dazwischen wird immer wieder die Bahn bestimmt, um die Zielbahn, ein “frozen orbit” mit einer Inklination von 74 Grad und einer Synchronizität mit der Marsrotation von 373 Umläufen per 30 Mars-Tagen zu erreichen.

Danach müssen die Instrumente in Betrieb genommen werden, und dann kann die wissenschaftliche Phase beginnen.

Und noch was

Die korrekte Schreibung ist “Aerobraking“. Braking. Abgeleitet vom Verb “to brake” = bremsen. Nicht Aerobreaking.

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

8 Kommentare

  1. “[…]zumindest wenn der zuständige Missionsanalytiker seinen Job ordentlich gemacht hat (wovon man bei dem aber nicht ausgehen kann).”

    Ich verfolge Ihre Kolumne mit Interesse, kann mich allerdings nicht an jede Veröffentlichung erinnern (mea culpa)… Ist das “nicht” ein Tippfehler, oder trauen Sie dem Missionsanalytiker wirklich nichts zu? 🙂

  2. Und noch was
    Die korrekte Schreibung ist “Aerobraking“. Braking. Abgeleitet vom Verb “to brake” = bremsen. Nicht Aerobreaking.

    Welche Schreibweise die richtige ist, zeigt sich immer erst nach dem Manöver…

  3. [Die Lage] ist so, dass der TGO mit der Oberseite nach vorn in die Atmosphäre taucht. Die “Oberseite” […] ist die, auf der während des Transfers der Landedemonstrator Schiaparelli saß.

    Das heißt, diese von der ESA veröffentlichte Darstellung ist verkehrt? Wenn die Lage so ist wie sie sagen, dann befinden sich die beiden Spektrometer und Sternsensoren voll in Anströmrichtung, was ich mir aber aus mehreren Gründen nicht so ideal vorstelle.

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