Lieber Dimitri Anatoljewitsch ….

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Raumfahrt aus der Froschperspektive
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Offener Brief an den Präsidenten der russischen Föderation, Dimitri Anatoljewitsch Medwedew

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Mit tiefer Genugtuung habe ich den Nachrichten entnommen, dass Sie sich nun höchstpersönlich des Problems des Niedergangs der russischen Raumfahrt annehmen wollen und die dafür Verantwortlichen mit drakonischen Strafen belegen werden.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Ich habe vollstes Verständnis für Ihre Verärgerung und halte Ihre Schlussfolgerung, dass an dieser Stelle nichts als die Bloßstellung und harte Bestrafung der Schuldigen zielführend ist, für vollkommen angebracht.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Die russische Raumfahrt war historisch gesehen diejenige Aktivität der Sowjetunion, die weltweit Anerkennung fand – auch in Nationen des anderen politischen Lagers. Sowjetische Weltraumwissenschaftler und Raumfahrtingenieure waren als erstklassig bekannt und geschätzt. Die sowjetische Weltraumfahrt hat bemerkenswerte Leistungen geschafft, viele davon als Erste überhaupt. Die Qualität der gefundenen technischen Lösungen ist allein schon daran ersichtlich, dass vieles davon noch Jahrzehnte später im Einsatz steht. Dies ist umso bemerkenswerter vor dem Hintergrund der kurzen Zeit, die sowjetische Spitzenkräfte brauchen, um die Technik vom Reißbrett auf die Startrampe und von dort aus dem Weltraum zu bringen. Zudem war die sowjetische – und ist die davon abgeleitete russische – Technik dafür bekannt, auch bei widrigen Bedingungen immer noch zu funktionieren. Etliche Astronauten verdanken ihr Leben der Robustheit dieser Technik, und damit dem Können der Entwickler.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, In den letzten zwei Jahrzehnten hat die russische Nation nichts unternommen, um in dieser Domäne, in der sie einst tonangebend war, weiter voranzukommen. Die Ausbildung jungen technischen Personals wurde vernachlässigt. Die Mehrzahl der Experten nähert sich nun dem Rentenalter. Es ist bereits viel Know-How unwiederbringlich verloren gegangen, und es wird nichts getan, um diesen Verlust aufzuhalten. Neue Mitarbeiter erhalten nicht die Gelegenheit, ihre Fähigkeiten in neuen, anspruchsvollen Missionen zu beweisen. In den letzten 25 Jahren ist Russland nur vier interplanetare Raumsondenmissionen angegangen. Drei waren Fehlschläge1, die vierte steht kurz vor dem endgültigen Aus.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Zwar ist Russland auch heute noch insbesondere dank des Beitrags zu Aufbau und Betrieb der ISS eine führende Raumfahrtnation. Bei Licht betrachtet handelt es sich hierbei aber vorwiegend um die Nutzung von Technik, die im Wesentlichen bereits in der Sowjetära entwickelt wurde und heute nur noch in kleinen Schritten modernisiert wird. Überall dort, wo ein radikaler Schnitt und eine deutliche Kraftanstrengung notwendig wären, beispielsweise beim Bau eines flexiblen, standardisierten Startsystems und eines leistungsfähigen, deutlich größeren bemannten Raumschiffs, herrscht seit Jahren de facto Stillstand.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Die russische Raumfahrt leidet unter Ressourcenmangel und Perspektivlosigkeit2. Dort, wo es notwendig wäre, Gas zu geben, wird auf die Bremse getreten oder zumindest der Leerlauf eingelegt. Genau dort, wo Investitionen dringend vonnöten wären, fehlen sie.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Bei allen großen Projekten, und besonders bei Raumfahrtprojekten, gibt es so etwas wie eine kritische Masse an Ressourcen. Es gibt harte Grenzen, unter die die bereitgestellten Mittel lieber nicht reduziert werden sollten. Dann stellt man nämlich fest, dass die unvermeidlichen Einsparungen an der Qualität der verwendeten Komponenten, an den Detail- und Systemtests und an Ausbildung und Training des Personals dazu führt, dass die Fehlerquote steil ansteigt und damit auch das Risiko, die gesamte Mission zu verlieren3. Ein so anspruchsvolles Unterfangen wie die Rückführung von Proben vom Marsmond Phobos kann realistischerweise nicht in einem finanziellen Rahmen durchgeführt werden, der den Missionskosten eines geostationären Nachrichtensatelliten entspricht. Wer nicht bereit ist, komplexe Technik auch ausreichend zu finanzieren, der riskiert nicht nur in unverantwortlicher Weise das Scheitern, sondern demotiviert auch gerade die Mitarbeiter, die zu den Besten ihrer Branche gehören und dies in der Vergangenheit immer wieder demonstriert haben.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Sie haben vollkommen Recht: Die Verantwortlichen für den Scherbenhaufen, vor dem die russische Raumfahrt steht, gehören bestraft. Zumindest aber müssen sie schnellstens aus Positionen entfernt werden, in denen sie weiter solch verheerenden Schaden anrichten können. Die Schuldigen sitzen hoch oben in der russischen Politik und Verwaltung. Ich hoffe, dass Sie Ihrer Ankündigung nun Taten folgen lassen und energisch durchgreifen.

Lieber Dimitri Anatoljewitsch, Ich bitte Sie um Eines: Sie dürfen nicht weiter zulassen, dass den russischen Technikern und Ingenieuren weiterhin Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. Geben Sie den klügsten Köpfen Ihres Landes Aufgaben, an denen sie sich messen können. Entheben Sie alle diejenigen ihres Amtes, die den Fortschritt kaputt gespart haben. Der Erfolg wird Ihnen Recht geben, und nicht den Erbsenzählern.


Fußnoten:

1 Phobos-1 wurde im Juli 1988 gestartet. Missionsziel war die Probenrückführung vom Marsmond Phobos, genau wie bei Phobos-Grunt. Die Mission scheiterte zwei Monate nach dem Start, weil ein fehlerhaftes Kommando die Lageregelungstriebwerke deaktivierte, woraufhin die Ausrichtung zur Sonne verlorenging und die Batterien entladen wurde. Üblicherwiese springt in solchen Fällen ein automatisches Notfallprogramm ein, das einen sogenannten Safe-Mode einleitet, in dem auf jeden Fall die Solargeneratoren zur Sonne ausgerichtet sind. Das Steuerungssystem von Phobos-1 sah dies offenbar nicht vor. Phobos-2, das Schwesterschiff von Phobos-1 mit gleichen Missionszielen, schaffte den Einschuss in die Bahn um den Mars und erreichte sogar die Zielbahn kurz vor dem Absetzen von zwei Landesonden auf dem Marsmond, als der Bordrechner ausfiel. Die im November 1996 gestartete Sonde Mars 96 basierte auf dem technischen Konzept der Phobos-Missionen, sollte aber nicht Phobos, sondern den Mars untersuchten. Sie umfasste einen Orbiter, einen Mars-Lander und zwei Penetratoren. Diese Mission erreichte im Gegensatz zu Phobos-Grunt noch nicht einmal ein stabiles Erdorbit, weil die Oberstufe der Rakete versagte und ein geplantes Manöver nicht stattfand.

2 Kosmologs-Artikel vom 11.10.2011 zur Konzeptlosigkeit in der russischen Raumfahrt hier

3 Zur Historie einer japanischen Asteroidenmission, die ebenfalls nicht ausreichend finanziert war, deren Bediener aber am Ende Glück hatten, hier

 

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Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

6 Kommentare

  1. Sehr treffend formuliert

    Auch hierzulande gäbe es im Bereich der Bildungs- und Forschungspolitik würdige Adressaten.

    Allerdings sind unsere Kaputtsparer auch noch zu dröge, sich über die Resultate
    ernsthaft aufzuregen.

  2. Brief an den Präsidenten der russischen

    Ich sehe die Sache ganz anders. Im Gegenteil ist durch das russische Projekt “Mars 500” eine Steigerung innerhalb der Russischen Raumfahrt vollzogen worden. Ebenso was das Projekt der russischen Biosphäre 3 angeht. Während die amerikanische B. Nr. 2 in erster Linie aus finanziellen und zu großflächigen Gründen gescheitert ist, funktioniert die in Russland betriebene kleinere Biosphäre 3 immer noch für Forschungszwecke und steht der Wissenschaft zur Verfügung. Siehe auch die Links von Wikipedia, Biosphäre 2: http://de.wikipedia.org/wiki/Biosph%C3%A4re_2
    Biosphäre 3: http://de.wikipedia.org/wiki/Biosph%C3%A4re_3

  3. Brief

    Ich bin durch die aktuelle Diskussion im Forum bei Raumfahrer.net auf diesen Brief gestoßen… und ich möchte Ihnen großen Dank aussprechen für diese überaus treffenden Worte und Betrachtungen. Besser, wahrer und genauer habe ich noch nie formuliert gelesen, was sich als bedauerliche Tendenz in der Raumfahrt entwickelt und abzeichnet – sicher in Russland, aber keineswegs nur dort.
    Die eine Nation entlässt ihr wissenschaftliches Wissen ins Altersheim, eine andere entlässt ihres auf die Straße, weil sie ihre Raumschiffe abschaffen, Europa muss Banken und Währung retten…naja, nicht nur Europa. Also friert man ein oder verübt Kahlschläge, kurzsichtig und nicht bedenkend, dass jeglicher Stillstand auch Verlust bedeutet, an Wissen, durchaus auch an Geld, an Arbeit, an Prestige. Dass die spätere Aufforstung eines Kahlschlages teuer ist und meistens nicht sehr effizient und man sich früher überlegen sollte wieviel Substanz man kaputtsparen will.
    Strafe stellt das Prestige nicht wieder her. Strafe ersetzt kein Bekenntnis, keine Unterstützung.
    Geiz ist mitnichten geil, denn scheitern und Projekte verwerfen ist teuer – und frustrierend außerdem.
    Ihr Brief enthält überaus unbequeme Wahrheiten. Aber es sind Wahrheiten und sie sollten von vielen Stellen gelesen werden.

  4. Putin / Raumfahrt / Offener Brief

    Sie haben den offenen Brief sehr gut und zugleich auch diplomatisch geschrieben .
    Selbst wenn ich die entsprechende Kompetenz hätte würde es mir schwer fallen einem solch geartetem System so zu entgegnen . Aber nun gut die Sache geht vor .
    Liegt mittlerweile ein irgendwie geartetes Feedback vor ? Ich hoffe man hat ihnen nicht einen abgeschnitten Finger eines unglücklichen Technikers geschickt . 😉

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