JUICE: LEGA am 19/20 August 2024

Am 19. und 20. August absolviert die JUICE-Mission erstmals in der Raumfahrtgeschichte ein Manöver vom Typ LEGA. LEGA steht für Lunar-Earth Gravity Assist, also Swingbys am Mond und an der Erde in naher Abfolge (Gravity Assist ist synonym zu Swingby zu verstehen) . Ein Swingby ist ein gezielter Vorbeiflug einer Raumsonde an einem Himmelskörper, der zu einer gewünschten Umlenkung der Bahn der Raumsonde führt.
Was war nochmal ein Swingby?
Eine Raumsonde befinde sich auf einer elliptischen Bahn um die Sonne. Wenn die Bahn der Sonde einem Planeten oder Mond nahe kommt, dann kann man diese Bahn auch relativ zu diesem Himmelskörper ausdrücken. Die relative Bahn wäre eine Hyperbel, weil die Geschwinigkeit zu hoch für eine Ellipse ist. Das ist einleuchtend- schließlich fliegt die Sonde ja schon auf einer heliozentrischen Bahn.
Für eine gewisse Zeit, solange die Raumsonde sich deutlich innerhalb der Einflusssphäre des Himmelskörpers befindet, kann man sogar den Einfluss der Schwerkraft der Sonne vernachlässigen und so tun, als habe man es nur mit einem Zweikörperproblem zu tun. Auf einer Hyperbel nähert sich die Sonde dem Körper mit einer gewissen Geschwindigkeit, die bei großem Abstand noch annähernd konstant ist. Wenn sie dem Körper nahe kommt, wird sie schneller, weil die potenzielle Energie mehr und mehr in kinetische umgewandelt wird. Am Perizentrum der Hyperbel ist die Geschwindigkeit maximal. Sie nimmt mit steigender Entfernung wieder ab, bis in großem Abstand dieselbe Geschwindigkeit wie bei der Annäherung erreicht wird. Das ist die hyperbolische Geschwindigkeit.
Die Anziehungskraft des Himmelskörpers hat allerdings die Bahn umgelenkt. Der Betrag der ankommende hyperbolische Geschwindigkeit relativ zum Himmelskörper ist zwar derselbe wie die ausgehende. Die Richtungen sind aber unterschiedlich.
Wir haben ja eben schon eine Vereinfachung vorgenommen, indem wir bei der Betrachtung der Hyperbel nur das Zweikörperproblem angenommen haben. Nehmen wir jetzt noch eine Vereinfachung vor, indem wir die Dauer des hyperbolischen Vorbeiflugs am Himmelskörper als sehr kurz, also instantan betrachten. Der heliozentrische Geschwindigkeitsvektor der Raumsondenbahn ist vor und nach dem Vorbeiflug gleich der Summe aus dem Geschwindigkeitsverktor des Himmelskörpers plus dem jeweiligen relativen Geschwindigkeitsvektor (vor bzw. nach dem Vorbeiflug) der Raumsonde. Wenn sich nun aber die Richtung der relativen Geschwindigkeit durch den Vorbeiflug verändert hat, muss sich auch der Geschwindigkeitsvektor relativ zur Sonne verändern – und damit die heliozentrische Bahn.
Ein Swingby kann die Bahnenergie verändern (erhöhen oder verringern), oder er kann die Bahnebene drehen. Es kann auch eine Kombination aus Änderung der Bahnenergie und Drehung der Bahnebene oder Apsidenlinie bewirkt werden. Swingbys sind sehr wirkungsvolle Werkzeuge des Missionsanalytikers.
Der Transfer von JUICE
Was bewirken Swingbys beim Transfer von JUICE? Das lässt sich ganz einfach beantworten: Beim Start wog die Raumsonde JUICE etwas über 6 Tonnen. Die Ariane 5 ECA kann eine Nutzlast dieser Masse in eine hyperbolische Erdfluchtgeschwindigkeit von 2.5 km/s einschießen. Um den Jupiter zu erreichen, braucht man aber an der Erde eine hyperbolische Geschwindigkeit von mindestens rund 9 km/s – im Fall von JUICE sind es sogar hast 11 km/s. Das ist viel zu hoch für die Ariane 5 und auch für die meisten anderen Raketen. Selbst ohne Nutzlast wäre eine solche Erdfluchtgeschwindigkeit beim Start unerreichbar.
Die gesamte Transfersequenz mit einem großen Manöver im November 2023, dem LEGA vom August 2024 und den geplanten Swingbys an der Venus (2025) und der Erde (2026) dienen dazu dazu, dass bei den folgenden Swingbys an der Erde im Januar 2029 die hyperbolische Geschwindigkeit knapp 11 km/s beträgt. Die Sequenz packt also noch 8.5 km/s auf die von der Ariane verabreichten 2.5 km/s drauf. Dann klappt’s auch mit dem Transfer.
Der LEGA
Der LEGA vom August 2024 wird so ablaufen, dass zunächst am 19. August ein naher Vorbeiflug am Mond durchgeführt wird. Die größte Annäherung von 750 km über der Mondoberfläche wird um 21:16 UTC erreicht. Der Mond-Swingby lenkt die Sonde so um, dass einen Tag später, am 20. August um 21:57 UTC, die größte Annäherung an der Erde von etwa 6800 km über der Oberfläche erreicht wird. Natürlich hätte man die Sonde auch gleich in diese Vorbeiflugbedingungen zielen können.
Das Vorschalten des Mondswingbys erhöht aber die hyperbolische Geschwindigkeit an der Erde um etwa 0.3 km/s, von etwas über 3 km/s auf etwas über 3.3 km/s. Um ohne den Mondswingby diese hyperbolische Geschwindigkeit zu erreichen, hätte das Triebswerksmanöver vom vergangenen November statt 200 m/s mehr als 300 m/s betragen müssen. Kurz gesagt: Der LEGA hat mehr als 200 kg Treibstoff gespart … naja, nicht ganz, denn man muss auch berücksichtigen, dass für einen LEGA deutlich größere Korrekturmanöver anzunehmen sind als für einen einfachen Erdswingby. Das kostet dann wieder Treibstoff. Wieviel genau, das werden wir in ein paar Tagen wissen.
Viele Leute haben mich gefragt, welches Delta-v der gesamte LEGA erbracht hat. Das ist eigentlich keine besonders aussagekräftige Zahl. Wie gesagt, nach dem LEGA haben wir eine hyperbolische Geschwindigkeit an der Erde von 3.3 km/s, aber JUICE braucht rund 11 km/s. Dazu muss jetzt erst mal ein Venus-Swingby ran. Der LEGA hatte die Hauptaufgabe, die Bahn von JUICE zur Venus hin zu zielen.
Will man aber trotzdem wissen, was genau der LEGA an Delta-v bewirkt hat, kann man sich die Positions- und Geschwindigkeitsvektoren der Raumsonde einige Tage vor und nach dem LEGA beschaffen und vergleichen. Diese Daten gibt es bei JPL Horizons. Das ergibt ein Delta-v von etwa 4 km/s.
Der LEGA: Mondswingby am 19.8.
Am 19.8. wird JUICE sich eine knappe Stunde lang, von 20:49 bis 21:43 UTC weniger als 5000 km und rund zehn Minuten lang, von 21:11 bis 21:21 UTC weniger als 1000 km von der Mondoberfläche entfernt befinden. Wie schon erwähnt, findet die größte Annäherung um 21:16 UTC in 750 km Höhe statt, und zwar über der selenographischen Länge und Breite von 106.8 Grad Ost und 12.5 Grad Süd.
Der LEGA: Erdswingby am 20.8.
Die größte Annäherung an die Erde am 20. August um 21:57 UTC vollzieht sich über dem pazifischen Ozean. In der folgenden Abbildung ist die Flughöhe von JUICE farbkodiert: die rote Linie korrespondiert mit einer Bahnhöhe von weniger als 8000 km. Das geschieht fernab von Mitteleuropa und zudem zum größten Teil über Gebiet, in dem die Sonne aufgegangen und der Himmel hell sein wird. Nur während der Annäherung an das Perigäum der Vorbeiflughyperbel könnten Beobachter in Südostasien vielleicht Glück haben und in den frühen Morgenstunden einen Blick auf JUICE erhaschen.

Wenn Sie sich gerade dort aufhalten, verwenden Sie bitte JPL Horizons (der Link ist weiter oben angegeben), um die Sichtbedingungen für Ihren Standort berechnen zu lassen.
“Die größte Annäherung von 750 km über der Mondoberfläche” – bei der ESA (auf mehreren Webseiten) und dem MPS sind es 700 km: angesichts der zu Recht beschworenen präzisen Navigation am Mond eine durchaus irritierende Diskrepanz.
Ich habe mich auf die Bahndaten verlassen, die ich frisch von JPL Horizons heruntergeladen habe. Normalerweise schickt die ESA denen bei jeder Änderung ein Update. Muss mal nachfragen, was da Sache ist.
Ich habe gerade die Bestätigung erhalten, dass der Wert von 750 km der richtige ist. Der wird mit der tatsächlich erwarteten Trajektorie auch ziemlich genau getroffen.
Ja, das DLR hat mir 754 km genannt, aus Horizons folgt 753 km, und selbst mit Astrometrie von optischen Amateur-Aufnahmen kann man 770 +/- 50 km ermitteln: https://groups.io/g/mpml/message/39767 – wobei unbedingt der Strahlungsdruck der Sonne berücksichtigt werden muss: Die großen Solarzellenflächen machen viel aus.
Es ist besser, man gibt den Periseleniumsradius an, nicht die Höhe. Die Vorhersage der ESA von gestern war 2489.4 km.