DROs: Distant Retrograde Orbits

Der Mars und der Vollmond am Morgen des 8.12.2022, kurz vor Beginn der Bedeckung des roten Planeten, hier simuliert für den 8.12.2022 um 06:00 MEZ am Standort Darmstadt / Quelle: Michael Khan via Stellarium

Unlängst erlebte ich eine Zeit der Euphorie, während der ich meinte, ich sei die erste Entität im Universum, die jemals “Distant Retrograde Orbits” (abgekürzt DROs – was das ist, erkläre ich gleich) um den Saturnmond Enceladus berechnet hat. Ein wenig Literaturrecherche belehrte mich jedoch gleich darauf eines besseren. Nathan Strange und drei andere waren mir um sechzehn Jahre zuvorgekommen. Mein euphorischer Moment hatte etwa fünf Minuten gedauert. 

"Distant Retrograde Orbit" um den Saturnmond Enceladus, dargestellt in einem synodischen Koordinatensystem, dessen x-Achse konstant in die Richtung des Bahnradius von Enceladus zeigt und deswegen mit Enceladus rotiert / Credit: Michael Khan, ESA
“Distant Retrograde Orbit” um den Saturnmond Enceladus, dargestellt in einem synodischen Koordinatensystem, dessen x-Achse konstant in die Richtung des Bahnradius von Enceladus zeigt und deswegen mit Enceladus rotiert / Credit: Michael Khan, ESA

Enceladus ist ein etwa 500 km großer Eismond, der den Ringplaneten Saturn mit einem Bahnradius von 238,000 km umkreist. Enceladus ist in gebundener Rotation; ein Umlauf wie auch eine Umdrehung dauern 32.9 Stunden. Mit Daten der NASA-Mission Cassini wurde festgestellt, dass sich in der Nähe des Südpols langgezogene Eisspalten befinden, durch die Eisgeysire Wasser ausstoßen. Es muss unter dem Eispanzer also einen Ozean aus flüssigem Wasser geben, und dazu auch eine Wärmequelle. 

Während der nahen Überflüge wurde mit dem Instrument “Cosmic Dust Analyzer” die Zusammensetzung des ausgestoßenes Materials untersucht. Dabei stellte man darin auch silikatische Materie fest. Also hat Enceladus einen Gesteinskern, der mit dem Ozean in Kontakt steht. Flüssiges Wasser, Wärme, Mineralien – da horchen die Exobiologen sofort auf …

DROs: Ungeeignet zu Enceladus-Beobachtung

Ich war erst einmal geknickt, als ich feststellen musste, dass DROs sich nicht für die wissenschaftliche Beobachtung von Enceladus eignen.  Der Vorteil der DROs ist, dass man Treibstoff spart, weil man keinen Einschuss in die Bahn um den beobachteten Körper machen muss und trotzdem permanent in seiner Nähe bleiben kann.

Aber immerhin hatten Strange et al. alles bestätigt, was ich bis dahin selbst herausgefunden hatte, nämlich:

  • niedrige, polare Bahnen um Enceladus sind extrem instabil und führen innerhalb weniger Tage zum Absturz
  • Bei Inklinationen unter 50 Grad (meine Ergebnisse sagten: 48 Grad) wird ausreichende Bahnstabilität erreicht. Diese Inklination eignet sich aber nicht mehr zur globalen Charakterisierung des Enceladus, weil man die Polargebiete dann nicht mehr sehr gut sieht
  • DROs können zwar auch eine Inklination aufweisen. Im Saturn-Enceladus-System muss diese aber so gering sein, dass man die Polregionen gar nicht sieht. Ansonsten werden die DROs instabil

Kurz darauf fand ich dann auch noch weitere Papers, in denen es um eine andere Klasse von periodischen Bahnen im Dreikörperproblem Saturn-Encladus geht, die genau das machen, was gebraucht wird. 

Und dann fand ich auch noch diese Webseite von NASA/JPL, mit der sich periodische Bahnen aller Art im Dreikörperproblem diverser Kombinationen simulieren lassen. Zwar nur in vereinfachter Form (Annahme kreisförmiger Bahnen und Vernachlässigung der weiteren relevanten Körper), aber gut genug, um schon mal die generelle Machbarkeit zu untersuchen. 

Für die Enceladus-Langzeitbeobachtung geeignet sind Halo-Bahnen, insbesonders solche, deren Perizentrum sehr nah am Nord- oder Südpol des Saturnmonds liegt. Die entsprechen der Bahn für die geplante Mondstation “Gateway”, dem so genannten Near Rectilinear Halo Orbit (NRHO). Ihrer Nutzung am Enceladus werde ich in naher Zukunft einen eigenen Artikel widmen. 

DROs im Erde-Mond-System

Wer die aktuell laufende Mondmission Artemis 1 verfolgt, wird gesehen haben, dass das Raumschiff in einem DRO im Erde-Mond-System geparkt war. Zunächst ein paar Takte zum Thema DRO: DROs gehören zu den “Quasi-Satellite Orbits”. Stellen sie sich einen Himmelskörper und eine Raumsonde vor, die den gleichen Himmelskörper umlaufen. Beide mit derselben Umlaufperiode, also auf synchronen Bahnen. Die Bahn der Raumsonde sei exzentrisch. Was dann passiert, sieht man hier am Beispiel von Mars/Phobos (weil ich zufällig eine animierte Grafik für diesen Fall zur Hand habe):

Vereinfachte Darstellung eines "Quasi-Satellite Orbit" (auch bekannt als "Distant retrograde Orbit"), hier am Beispiel von Mars und Phobos, Quelle: Julia Schwartz, ESA
Vereinfachte Darstellung eines “Quasi-Satellite Orbit” (auch bekannt als “Distant retrograde Orbit”), hier am Beispiel von Mars und Phobos, Quelle: Julia Schwartz, ESA

Die Grafik ist natürlich nicht maßstabsgetreu und soll nur der Veranschaulichung dienen. Wenn die Raumsonde (grün) nahe dem Perizentrum ihrer Bahn ist, ist sie schneller als Phobos (hellblau) und überholt diesen auf der Innenbahn. Nahe am Apozentrum ist es umgekehrt; da wird sie innen von Phobos überholt.

Wenn man das ganze von Phobos aus betrachtet, dann erscheint es so, als würde die Raumsonde den Marsmond retrograd (d.h., im Uhrzeigersinn) umkreisen. Zudem ist die Raumsonde zu allen Zeiten außerhalb der Einflußsphäre des scheinbar umkreisten Mondes. Das erklärt den Begriff “distant retrograde orbit”. 

Auch wenn der Abstand vom beobachteten Körper groß ist, “fühlt” die Bahn der Raumsonde seinen stetigen Schwerkrafteinfluss. Dies kann dazu genutzt werden, die relative Bahn trotz der Störung durch die Schwerkraft anderer Himmelskörper zu stabilisieren. 

Im Fall des Erde-Mond-Systems ist natürlich die Störung durch die Sonne erheblich. Dennoch lassen sich DROs finden, die über lange Zeit hinweg stabil bleiben. Wenn die DROs zu “distant” werden, dann ist irgendwann einmal die vereinfachte Betrachtung nicht mehr zutreffend, weil der stabilisierende Einfluss des Mondes zu gering wird. Da ist im Einzelfall die numerische Verifizierung unumgänglich. 

Beispiele für DROs mit dem NASA-Tool

Hier einige Beispiele, ich ich mit dem Online-Tool von NASA-JPL erstellt habe. Der blaue Fall wäre sogar immer noch unterhalb der L1/L2-Regionen, also eigentlich eine fast noch gebundene Mondbahn am Rande der Einflußsphäre. Die rote Bahn ist ein eindeutiger DRO, der auch einer numerischen Verifikation standhalten sollte. Beim grünen Fall mit seiner Amplitude von fast 200,000 km könnte ich mir vorstellen, dass es etwas wacklig wird, wenn man ein realistisches Störmodell ansetzt. 

Beispiele für DROs im Erde-Mond-System, generiert mit dem Online-Tool "Three Body Periodic Orbits", Quelle: NASA/JPL
Beispiele für DROs im Erde-Mond-System, generiert mit dem Online-Tool “Three Body Periodic Orbits”, Quelle: NASA/JPL

Nochmals zur Erinnerung: Das Koordinatensystem ist selenozentrisch und synodisch. Es rotiert also mit dem Mond um die Erde. Die genauen Umlaufperioden der einzelnen Beispielbahnen werden vom online-Tool mit ausgegeben, ebenso wie eine Folge von Koordinaten im synodischen System entlang der Bahn. Damit können Sie also zu jedem Zeitpunkt den Subsatellitenpunkt auf der Mondoberfläche berechnen, falls Sie beispielsweise die Kommunikation von den DROs zu Mondbasen untersuchen wollen. 

Und nun spricht der Syzygienkönig

Der Syzygienkönig tut hiermit kund, dass der Mond am kommenden Donnerstag um kurz nach 06:00 MEZ den Mars bedecken wird. Folgende Karte dient als Aufsuchhilfe, falls Sie den Vollmond am Morgenhimmel nicht finden. 

Der Mars und der Vollmond am Morgen des 8.12.2022, kurz vor Beginn der Bedeckung des roten Planeten, hier simuliert für den 8.12.2022 um 06:00 MEZ am Standort Darmstadt / Quelle: Michael Khan via Stellarium
Der Mars und der Vollmond am Morgen des 8.12.2022, kurz vor Beginn der Bedeckung des roten Planeten, hier simuliert für den 8.12.2022 um 06:00 MEZ am Standort Darmstadt / Quelle: Michael Khan via Stellarium

Avatar-Foto

Ich bin Luft- und Raumfahrtingenieur und arbeite bei einer Raumfahrtagentur als Missionsanalytiker. Alle in meinen Artikeln geäußerten Meinungen sind aber meine eigenen und geben nicht notwendigerweise die Sichtweise meines Arbeitgebers wieder.

7 Kommentare

  1. Die Idee des Distant Retrograde Orbit gefällt mir, denn solche langzeitstabilen Bahnen wären ideal um bleibende Infrastruktur im Sonnensystem einzurichten. Satelliten in DROs könnten, so stelle ich mir vor, Jahrzehnte aktiv bleiben und dauerhaft Aufgaben übernehmen wie etwa die Verstärkung und Weiterleitung von Radiosignalen, die etwa von einem Schwarm von Mikrosatelliten oder Minisatelliten stammen könnten.
    Das würde zu einer Zukunftsvision passen, in der das ganze Sonnensystemen eine Art Backbone von Infrastruktursatelliten besitzt und wo die aktuellen Missionen jederzeit auf die Dienstleistungen zurückgreifen können, die diese Infrastruktur anbietet. Dazu könnte neben der Weiterleitung und Verstärkung von Kommunikationssignalen auch eine Art interplanetares GPS gehören, welches im Idealfall Lokalisierungen auf den Kilometer genau ermöglichen könnte.

    Soviel ich der Wikipedia entnehmen kann stammt die Stabilität von DRO-Bahnen daher, dass dabei zwei Lagrange-Punkte ihre Stabilität quasi auf die DRO-Bahn übertragen, sie ihr ausleihen. Inzwischen spielt ja der Lagrange Punkt L2 des Erde-Sonne Systems bereits eine sehr wichtige Rolle bei astronomischen Langzeitmissionen. Doch über lange Zeit stabile Bahnen können auch bei nicht-astronomischen Missionen wertvoll sein.

    • Echte DROs sind ja nach wie vor heliozentrisch, d.h., am Beispiel von Mars, man spart den Aufwand für den Bahneinschuss um den roten Planeten. Der Nachteil ist dann allerdings die immer noch erhebliche Entfernung vom Mars, denn die Raumsonde muss sich ja deutlich außerhalb der Hill-Sphäre aufhalten, also beim Mars immer noch im Abstand von 800,000 km oder mehr. Ein Mikrosatellit würde ein UHF-Funksystem haben und keinen großen Antennenreflektor. Da ist so eine Entfernung wahrscheinlich schon unüberbrückbar.

      Sinnvoller fände ich da die Installation von Übertragungsanlagen auf Phobos und Deimos unter Nutzung der dort vorhandenen Ressourcen.

      Beim Erde-Mond-System sieht es anders aus, da wurden DROs als Lagerungsort für eingefangene Asteroiden vorgeschlagen. Man könnte dort Produktionskapazitäten aufbauen und Komponenten für große Strukturen im Erdorbit oder für interplanetare Schiffe mit den aus Asteroiden abgebauten Rohstoffen bauen und sie dann dorthin manövrieren, wo sie gebraucht werden.

      Aktuell wird die ESA-Mission “HENON” geplant, die in einem DRO im Erde-Sonne-System platziert werden soll. Aufgabe von Henon ist die Untersuchung des Sonnenwinds und die Warnung vor Sonnenstürmen, bevor die hohen Flussdichten geladener Teilchen die Erde erreichen.

  2. Wer wissen will, wo er am Donnerstag kurz vor 6 Uhr hin schauen muss, der kann beispielsweise das da aufrufen.

    https://heavens-above.com/

    Erst mal sollte man seinen Beobachtungsstandort eingeben und dann die interaktive Sternkarte aufrufen. Hat man Datum und Uhrzeit eingestellt, bewegt man den Mauszeiger zu Mars(Mond). Speziell für Nürnberg kann man ablesen:

    Azimut 285,8° Höhe 19° 41′

    Wer mit der ersten Zahl gar nichts anfangen kann, der richte seinen Blick nach Westen, und drehe sich dann um 15,8° im Uhrzeigersinn.

    Ab 7 Uhr sollte dann Mars wieder rechts von Mond auftauchen.

  3. Was ich nicht begreife, was ist das Besondere an “retrograd” im Gengsatz zu “anterograd” ? Was ändert sich, wenn die Sonde den Phobos links herum umkreist ??

    • Das Gegenteil von retrograd ist in der Astronomie prograd. In der Psychologie mag es anders sein. Der scheinbar retrograde Umlauf folgt zwingend aus den Keplerschen Gesetzen, nach denen die Bahngeschwindigkeit bei geringerem Bahnradius höher, bei größerem Radius dagegen geringer ist. Man sieht das schön an der animierten Grafik, kann es sich bei Bedarf aber auch hinzeichnen.

      Wenn jemand eine Lösung findet, die mit den Keplerschen Gesetzen vereinbar ist, aber zu einem scheinbar prograden Umlauf führt, dann bitte ich darum, diese zu präsentieren.

  4. Retrograder Orbit um Phoebe
    Der Saturnmond Phoebe hat einen retrograden Orbit, läuft also andersrum als es zu erwarten wäre.
    Frage: Ein DRO eines künstlichen Satelliten um Phoebe sollte gemäss meinen Erwartungen im Gegenuhrzeigersinn (vom Nordpol der Ekliptik aus gesehen) um den Planeten herumführen. Ist das richtig?

    • Ja, in der Tat, wenn die Bahn des Zweitkörpers wie auch des Raumfahrzeugs um den Hauptkörper retrograd sind, dann wird der Quasi-Satellite Orbit des Satelliten bezüglich des Zweitkörpers prograd sein.

      Gratuliere, da haben Sie tatsächlich eine Möglichkeit für einen prograden QSO gefunden. Die Bezeichnung DRO ist da ja nicht mehr angemessen.

      Die verlinkte Periodic Orbits-Webseite der NASA listet übrigens auch Distant Prograde Orbits auf, wobei ich die Beispiele dafür etwas für an den Haaren herbeigezogen halte. Einen praktischen Nutzwert sehe ich in ihnen nicht, anders als bei den DROs.

      Anmerkung: Phoebe ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein eingefangener Zentaur. Zentauren sind Objekte aus dem Kuipergürtel, deren Bahnen vorwiegend zwischen denen von Saturn und denen von Uranus und Neptun verlaufen. Dafür spricht die weite exzentrische Bahn sowie sein retrograder Umlauf ebenso wie die Tatsache, dass seine Bahnebene nahe der Ekliptik liegt.

      Der größte Mond in einer retrograden Umlaufbahn ist der Neptunmond Triton. Viele der äußeren Monde von Jupiter und Saturn sind auch retrograd, der größte davon ist Phoebe. Sie sind wahrscheinlich alle von ihren Planeten eingefangen worden, was bedingt, dass ihre Bahnen im Sonnensystem der des jeweiligen Planeten ähnlich waren, sodass sie sich vor dem Einfang dem Planeten mit niedriger Geschwindigkeit näherten.

Schreibe einen Kommentar