Into the wild – vom Labor hinein in den Alltag: Möglichkeiten der automatischen Stresserkennung

Alexander Heimerl, Stefanie Lahmer, Linda Becker, Elisabeth André, Henner Gimpel & Nicolas Rohleder

Das heutige Arbeits- und Privatleben wird immer stressiger. Die Menschen leiden unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die durch akuten oder chronischen Stress verursacht werden, oft als Folge von ungesundem Verhalten in der beschleunigten modernen Welt und Lebensweise. Ausgelöst durch akuten oder chronischen Stress leiden viele Menschen zum Beispiel unter psychischer Erschöpfung und Burnout. Hier kann die zuverlässige automatische Erkennung von Stress ein wichtiger Pfeiler zur Abschwächung der negativen Auswirkungen sein, da sie dazu genutzt werden kann, das Bewusstsein der Menschen für stressige Situationen in ihrem Alltag zu schärfen. Die Sensibilisierung kann es ermöglichen, über den Grund für Stress und potenziell stressauslösende Umgebungen nachzudenken.

In diesem Beitrag wollen wir uns speziell mit der Frage beschäftigen, welche Möglichkeiten es gibt, um Stress im Alltag automatisch zu erkennen. Damit stresserkennende Systeme praktikabel sind, sollten sie möglichst unaufdringlich sein und die Personen so wenig wie möglich in ihrem Leben beeinträchtigen. Darüber hinaus sollten sie auch ohne die Anschaffung von teurer Hardware funktionieren, am besten mit Geräten, die bereits in vielen Haushalten oder Arbeitsplätzen verfügbar sind.

Wie lässt sich Stress automatisch im Alltag erkennen?

Nach der Konfrontation mit einem Stressor (als Stressoren werden alle inneren und äußeren Reize bezeichnet, die Stress verursachen) wird eine Reihe von physiologischen Prozessen in unseren Körpern losgetreten. Die Atmung wird schneller, Blutdruck und Puls steigen und wir werden aufmerksamer [1]. Diese physiologischen Veränderungen lassen sich messen und können somit Anhaltspunkte für das Erleben von Stress sein. Vor allem die Veränderung des Puls wurde in vielen bestehenden Anwendungen erfolgreich verwendet, um Stress automatisch zu erkennen. Üblicherweise werden dafür Elektrokardiogrammdaten (EKG) verwendet. Darüber hinaus eignen sich aber auch Blutvolumenpulsdaten, die vor allem über optische Sensoren erfasst werden, oder Daten zur Leitfähigkeit der Haut, die sich durch Stress und dem einhergehenden Schwitzen verändert [2, 4]. Beide Modalitäten lassen sich mit gängigen Smartwatches und Fitnesstrackern (Wearables) erfassen. Dadurch, dass solche Wearables mittlerweile in der Bevölkerung weit verbreitet sind, ist es prinzipiell möglich, mit Hilfe dieser selbst in Alltagssituationen automatisch Stress zu erkennen. Allerdings muss hierbei betont werden, dass natürlich nicht jeder Anstieg der Herzrate oder Schwitzen bedeutet, dass die Person gestresst ist. Diese Modalitäten können durch verschiedenste Faktoren, wie körperliche Betätigung oder Außentemperatur beeinflusst werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, bei der automatischen Stresserkennung auch immer Kontextinformationen zu berücksichtigen. Befindet sich die Person gerade im Büro oder ist sie auf dem Weg zur Arbeit? Erst durch die Berücksichtigung von Kontext ist es möglich, verlässliche Aussagen über das individuelle Stresserleben zu treffen.

Welche Alternativen zu physiologischen Daten gibt es?

Neben diesen physiologischen Signalen ist es möglich, Stress mit Hilfe von Audioaufzeichnungen zu erkennen [4]. Hierfür wird entweder auf spezielle Merkmale in der gesprochenen Sprache geachtet, wie z.B. Tonhöhe oder Lautstärke oder es wird direkt das Rohsignal verwendet. Dabei kommen oft sogenannte Spektrogramme zum Einsatz, die den zeitlichen Verlauf des Frequenzspektrums eines Signals abbilden.

Abb. 1: Beispiel für ein Spektrogramm eines Audiosignals

Für eine erfolgreiche Stresserkennung mit der Hilfe von Audiosignalen ist keineswegs hochwertiges Studioequipment vonnöten, vielmehr lassen sich selbst mit den in Smartphones eingebauten Mikrofonen gute Ergebnisse erzielen [3]. Dadurch dass die meisten Personen ihr Smartphone zu fast jeder Zeit griffbereit haben, lässt sich somit unkompliziert eine Aussage über das individuelle Stresserleben treffen. Allerdings sind Audiosignale unserer gesprochenen Sprache sehr viel intimer als z.B. der Hautleitwert einer Person. Darüber hinaus muss ein solches System fast ununterbrochen unsere Sprache aufzeichnen, um Aussagen über den erlebten Stress zu treffen. Hier stellt sich immer die individuell zu beantwortende Frage, ob man diesen Eingriff in die Privatsphäre möchte oder nicht. Dazu kommt der Umstand, dass man eigentlich nur Stress erkennen kann, wenn auch gesprochen wird.

Abb. 2: Beispiel für extrahierte Merkmale des Bewegungsapparats und des Gesichts.

Auch anhand von Videoaufzeichnungen lässt sich eine Aussage über das Stresserleben von Personen treffen [4]. Videoaufzeichnungen von Personen enthalten wertvolle Informationen über ihr nonverbales Verhalten. Während wir gestresst sind, verändert sich nicht nur unser Herzschlag oder unsere Stimmlage, sondern auch unsere Mimik und Gestik. Diese Merkmale können aus Videoaufzeichnungen extrahiert werden und als Grundlage für die automatische Stresserkennung verwendet werden. Allerdings ist unklar, wie viele Menschen sich wohlfühlen würden, wenn ständig eine Kamera auf sie gerichtet ist. Jedoch würde sich dieses Verfahren hervorragend eignen, um Stress während der Arbeit vor dem Computer festzustellen. Gerade in Zeiten von Homeoffice sind viele Leute mit einer Webcam ausgestattet.

Darauf aufbauend existieren auch neue Ansätze, die lediglich anhand von Videoaufzeichnungen der Augen versuchen Stress zu erkennen [5]. Hierbei ist besonders vielversprechend die Veränderung des Pupillendurchmessers zu betrachten. Pupillenerweiterungen können ein Indikator für emotionale Erregung sein, da sie mit negativen Emotionen wie Angst sowie mit der menschlichen Stressreaktion in Verbindung stehen. Selbst durch die Häufigkeit von Augenblinzeln lassen sich Rückschlüsse auf das Erleben von Stress ziehen [4]. Die oben aufgeführten Verfahren sind keineswegs die einzigen Techniken, um Stress automatisch zu erkennen. Allerdings benötigen viele der Alternativen, wie z.B. die Erkennung von Stress mit Hilfe von Hirnströmen (z.B. anhand von Elektroenzephalopgraphie [EEG]), spezielle Gerätschaften und lassen sich somit schwierig in alltäglichen Situationen einsetzen.

Long Story Short:

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bereits vielversprechende Möglichkeiten zur Stresserkennung im Alltag existieren Je nach IT-Ausstattung (Webcam, Wearables, etc.) und Wohlbefinden in Bezug auf Datenschutzbedenken können verschiedene Stresserkennungssysteme individuellen Einsatz finden.

Bitte zitieren als: Heimerl, Alexander; Lahmer, Stefanie; Becker, Linda; André, Elisabeth; Gimpel, Henner; Rohleder, Nicolas (2022). Into the wild – vom Labor hinein in den Alltag: Möglichkeiten der automatischen Stresserkennung. 05.12.2022. Online verfügbar unter https://scilogs.spektrum.de/gesund-digital-leben/?p=966 Beitragsbild ist selbst erstellt mit www.canva.com

Literatur

[1] Russell, G., Lightman, S. The human stress response. Nat Rev Endocrinol 15, 525–534 (2019). https://doi.org/10.1038/s41574-019-0228-0

[2] Can YS, Chalabianloo N, Ekiz D, Ersoy C. Continuous Stress Detection Using Wearable Sensors in Real Life: Algorithmic Programming Contest Case Study. Sensors (Basel). 2019 Apr 18;19(8):1849. doi: 10.3390/s19081849. PMID: 31003456; PMCID: PMC6515276.

[3] lu, Hong & Frauendorfer, Denise & Rabbi, Mashfiqui & Mast, Marianne & Chittaranjan, Gokul & Campbell, Andrew & Gatica-Perez, Daniel & Choudhury, Tanzeem. (2012). StressSense: Detecting stress in unconstrained acoustic environments using smartphones. UbiComp’12 – Proceedings of the 2012 ACM Conference on Ubiquitous Computing. 351-360. 10.1145/2370216.2370270.

[4] S. Elzeiny and M. Qaraqe, “Machine Learning Approaches to Automatic Stress Detection: A Review,” 2018 IEEE/ACS 15th International Conference on Computer Systems and Applications (AICCSA), 2018, pp. 1-6, doi: 10.1109/AICCSA.2018.8612825.

[5] Alexander Heimerl, Linda Becker, Dominik Schiller, Tobias Baur, Fabian Wildgrube, Nicolas Rohleder, and Elisabeth Andre. 2022. We’ve never been eye to eye: A Pupillometry Pipeline for the Detection of Stress and Negative Affect in Remote Working Scenarios. In Proceedings of the 15th International Conference on PErvasive Technologies Related to Assistive Environments (PETRA ’22). Association for Computing Machinery, New York, NY, USA, 486–493. https://doi.org/10.1145/3529190.3534729

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Alexander Heimerl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl „Human Centered Multimedia“ des Institut für Informatik der Universität Augsburg. Er forscht und bloggt zum Thema „Aufmerksame, stresssensible und gesundheitsförderliche KI-Komponenten“ im Rahmen des bayerischen Verbundprojekts „Gesunder Umgang mit digitalen Technologien und Medien“ (ForDigitHealth).

2 Kommentare

  1. Danke für die umfassende Darstellung all der Möglichkeiten wie sich Stress mit den heute verbreiteten digitalen Geräten aus Körperreaktionen ablesen lässt.

    Mir scheint, der nächste Schritt wäre es, bei Versuchspersonen längere Aufzeichnungen zu machen. Gut geeignet wären etwa Lehrerinnen und Lehrer, denn nach meiner Erfahrung sind sie sehr häufig von Stress bis zum Burning Out betroffen. Warum nicht etwa Schulstunden per Video aufzeichnen? Natürlich mit Zustimmung des Lehrers und der Klasse. Nur einmal zur Validierung dieser Art der Messung von Stress.

    Wie aber bestimmt man den Stresslevel etwa aus Videoaufzeichnungen? Die manuelle Auswertung wäre wohl zu zeitaufwendig. Es bräuchte vielmehr ein Programm der künstlichen Intelligenz, das solche Aufzeichnungen automatisch auswerten und das Stress-Szenen markieren würde. Scheint mir eine interessante interdisziplinäre Aufgabe zu sein. Gut geeignet auch für eine Publikation.

  2. Lügendetektoren funktionieren nach solchen Verfahren. Und da bei einem Laptop immer eine Kamera auf den Benutzer gerichtet ist, ist diese Entwicklung auch bedenklich. Der gläserne Mensch rückt immer näher.

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