‚Drei Schritte vor, ein Schritt zurück?‘ – Apps zur digitalen Stressbewältigung

apps zur Stressbewaeltigung

(AutorInnen: Svenja Stein, Lisa Waldenburger & Jeffrey Wimmer – Universität Augsburg)

Empirische Studien dokumentieren ein hohes Maß an gewohnheitsmäßiger Nutzung der überall antreffbaren digitalen Medien, deren negative Folgen oftmals unreflektiert sind. Durch den alltäglichen Gebrauch digitaler Medien wie v.a. des Smartphones hat sich die Erforschung von digitalem Stress zusätzlich um Fragen der Grenzverschiebung zwischen Beruflichem und Privatem erweitert (→ https://gesund-digital-leben.de/forschungsfelder/cluster-a/). Paradebeispiel ist die Popularität des Smartphones und dessen spezifische Unterhaltungs- und Informationsanwendungen (die sogenannten Apps) nicht nur für technologieaffine und/oder junge Nutzer:innengruppen, den so genannten Mobilitätspionieren, sondern für alle Nutzer:innengruppen.

Der Erfolg von Smartphones ist scheinbar leicht geklärt, denn sie können fast alles: die weitreichenden Funktionen unseres digitalen Alltagsbegleiters gehen vom ständigen Kommunikationsmittel über Kamera, Wecker, Taschenrechner, Musikplayer bis hin zum digitalen Zahlungsmittel. Gerade deshalb halten wir es immer griffbereit und können uns ein Leben ohne Smartphone kaum noch vorstellen. Die ständige Nutzung des eigenen Handys bringt aber auch Phänomene mit sich, die weniger erfreulich sind, wie zum Beispiel das „phubbing“. Dies setzt sich aus den Wörtern „phone“ (Telefon) und „to snub“ (brüskieren) zusammen und beschreibt, dass sich zwei oder mehrere Leute gegenübersitzen, aber anstatt miteinander zu sprechen, nur auf ihre Smartphones schauen. Ein andauerndes verbunden und online sein kann Medienabhängigkeit(en) und Suchterscheinungen fördern. Ergebnisse aus qualitativen Interviews mit Personen aus verschiedenen Generationen verweisen auf Abhängigkeit, Ängste, unangenehme Gefühle und Sorgen, wenn das Smartphone vergessen wurde oder nicht funktioniert und den Drang, es andere sofort wissen zu lassen, wenn man einmal nicht erreichbar ist (Hofmann 2018). Die Jim-Studie (MPFS 2016: 52f.) zeigt aber auch, dass das Smartphone sowohl digitalen Stress erzeugt (Stressfaktor), als auch Selbstbestimmung ermöglicht (Bewältigungsfaktor).

Etwas widersinnig scheint das daher zunächst schon: eine App auf dem Smartphone, um digitalen Stress zu bewältigen und die eigene Handynutzung zu reduzieren. Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche Abnehmer:innen und eine Vielzahl von Apps, die verschiedene Methoden anbieten, um das digitale Fasten so leicht wie möglich zu machen und es dadurch ermöglichen sich besser auf andere Dinge zu konzentrieren.

Umgang mit Stress

Das Transaktionale Stressmodell von Lazarus (1999) versteht Stress als durch belastende Situationen ausgelöste subjektive Reaktion: „Stress existiert nicht per se – er ist nur das, was von einer Person als solcher bewertet wird. […] Der Stress wird umso größer sein, je mehr die Bewältigungsmöglichkeiten der Person beansprucht oder sogar überfordert werden.“ (Franzkowiak und Franke 2018, o.S.)

Abbildung 1: Transaktionales Stressmodell (aus: Franke 2012, S. 122)

In diesem Sinne lässt sich Stress zum einen vorbeugen, wenn man die Situation erst gar nicht als stresshaft bewertet bzw. die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten ausschöpfen kann – umso entspannter man ist, umso weniger lässt man sich von potenziell stressigen Situationen beunruhigen. Da sich Stress aber nicht immer vorbeugen lässt und auch die Möglichkeiten zur Entspannung begrenzt sind, entwickeln wir zum anderen Bewältigungsstrategien, um mit diesem umzugehen. Die Stresstheorie nach Lazarus (1999) differenziert zwischen problemzentrierten (instrumentellen) und emotionalen Coping-Strategien. Das problemzentrierte Coping meint Strategien, die ein aktives Überwinden der Situation durch Handlungen wie Informationssuche, aktives Handeln, aber auch das Unterlassen von Handlungen anstrebt. Der Versuch, die entstandenen Emotionen des Stresses abzubauen, beispielsweise durch Entspannungstechniken oder soziale Unterstützung, heißt emotionales Coping. So lassen sich für die Stressbewältigung drei Gruppen von Strategien ausmachen, die sich auch in den Angeboten zum Umgang mit digitalem Stress durch Apps wiederfinden lassen.

Tracking Apps

Einer der Ansätze zur digitalen Stressbewältigung ist das Tracking und Monitoring der Zeiten, in denen man bestimmte Apps benutzt. Diese werden beobachtet und analysiert und dem Nutzer grafisch dargestellt, um einen Überblick über die eigenen Nutzungszeiten zu schaffen. Zu diesen Apps gehören SPACE – Break Smartphone Addiction, Rescue Time, GoJUCE – Moments well spent und viele andere. Bei einigen Apps gibt es außerdem die Möglichkeit nicht nur die eigenen Nutzungszeiten zu beobachten, sondern die der gesamten Familie, wie zum Beispiel Moment – Cut Screen Time, RealizD – Screen Time Tracker oder Stay Focused. Dieser Ansatz greift am wenigsten in das eigene Nutzungsverhalten ein, sondern zeigt viel mehr einen Spiegel dessen, was man selbst womöglich nicht wahrnehmen würde. Die Apps haben also den Sinn, das eigene Bewusstsein zu strukturieren und womöglich zu steigern und sich so gar nicht erst von potenziellen Stresssituationen stressen zu lassen (→Vorbeugen).

Blocking-Apps

Eine andere Methode, die den digitalen Stress reduzieren soll, verbindet das Beobachten der Nutzungszeiten mit dem Blockieren einiger Apps, Nachrichten oder Anrufe, was in Richtung von einem Digital Detox geht. Dabei kann man selbst einstellen, welche Apps und Funktionen blockiert werden sollen und außerdem, nach wie viel Minuten oder Stunden dies geschehen soll. So kann man beispielsweise eine Stunde Nutzungszeit pro Tag für die sozialen Medien einstellen und wenn diese Stunde um ist, werden die Apps automatisch blockiert, samt den Benachrichtigungen. Block Site – Take Control of Your Time und Freedom – Block Distractions funktionieren nach diesem Prinzip. Auch One sec – 1x tief durchatmen blockiert Apps, jedoch wird hier bei dem Öffnen einer App eine beruhigende Atemübung zwischengeschaltet, um darüber reflektieren zu können, ob die Aktion wirklich eine bewusste Handlung war oder nur aus Langeweile und Konzentrationsschwäche geschehen ist. Hier werden Handlungen unterlassen, die die stressige Situation ursprünglich ausgelöst haben und beschreiben so Formen des → problemzentrierten Copings.

Reward-Apps

Ein dritter Ansatz ist der, der nach dem Prinzip „Belohnung oder Bestrafung“ funktioniert. Je nach Nichtbenutzung gibt es virtuelle Belohnungen und je nach Benutzung Sanktionen. Diese motivieren den Nutzer dazu, so wenig wie möglich auf das eigene Handy zu schauen. Viele der Ideen sind sehr einfallsreich: ein Samen, der zu einem Baum heranwachsen oder nicht keimen kann (z.B. Forest – Bleib fokussiert), ein Raumschiff, das das Universum nach neuen Planeten und Außerirdischen absucht (Workspace – Bleib fokussiert), Fische, die man züchten kann (FishCure: stay focused) oder ein Avatar, den man füttert oder verhungern lässt (Cleverest: Fokus Digital Detox). Eine weniger virtuelle, sondern vielmehr reale Belohnung wird von der App Hold – make it happen angeboten. Hierbei sammelt man Punkte, die im Laufe der Zeit zu Gutscheinen (z.B. für Popcorn) umgewandelt und daraufhin eingelöst werden können – bis jetzt jedoch nur in Großbritannien und Norwegen. Auch hier wird die stressauslösende Situation – der ständige Blick auf das Handy – sanktioniert, je nach Situation handelt es sich so um ein → Vorbeugen von Stress oder bereits →problemzentriertes Coping.

Eine ähnliche Differenzierung der Apps zur digitalen Stressbewältigung schlägt Larissa Krainer in ihrem Blogpost „Digital Detox – Wenn Apps (!) helfen sollen die Handynutzung zu reduzieren“ (2019) vor. Auch hier wird die erste Gruppe aus Apps gebildet, die die eigene Nutzung tracken. Die zweite Gruppe dagegen ist nicht auf Digitales beschränkt und daher in unserer Erhebung zunächst ausgeklammert wurden – die allgemeine Stressbewältigung mithilfe von Entspannungs-Apps wie 5 Minute Mediations oder Smiling Mind. Diese Apps zielen auf eine Unterstützung des →emotionalen Copings ab, dienen aber gleichzeitig auch zum →Vorbeugen von Stress. In der dritten Kategorie werden sowohl die Apps, die Anwendungen blockieren, als auch die Apps mit Belohnungen unter dem Begriff der Apps für Digital Detox oder Fasten zusammengefasst.

Krainer hat 30 dieser Apps in einer Studie mit Studierenden der Universität Klagenfurt getestet. Die Apps zum Tracking der eigenen Handynutzung werden dabei kritisiert, da die gesammelten Daten oft an Dritte weitergegeben werden, teilweise sogar an die Krankenkassen. Dazu kommt, dass viele Betriebssysteme der Handys schon eine Protokollierung der eigenen Handynutzung von Grund auf besitzen und man sich nicht zwingend eine App dazu herunterladen muss. Nichtsdestotrotz schnitten die Tracking-Apps in der Wirksamkeit besser ab als die Detox-Apps. Das liegt daran, dass die Detox-Apps zwar einige Anwendungen blockieren, jedoch auch leicht wieder entsperrt werden können und daher laut der Studierenden der Nutzen dieser Apps hinterfragt werden muss. Die Entspannungs-Apps hingegen zielen oft darauf ab die Premiumversionen zu verkaufen. Außerdem hängt hier die Wirksamkeit von sehr subjektiven Faktoren, wie der persönlichen Motivation und der Wahrnehmung der Stimme ab. Dies ist jedoch bei all diesen Apps der Fall.

Fazit

Die Auswahl ist also da. Nun muss man als Nutzer:in nur noch die richtige App auswählen, die einem persönlich bei der digitalen Stressbewältigung helfen kann. Die Qual der Wahl also. Und das nicht nur in akuten Stresssituationen – viele der Apps zielen gleichzeitig auf die Hilfe bei der Bewältigung von Stress wie auch auf das aktive Vorbeugen von Stress durch Entspannung oder Monitoring der eigenen Gewohnheiten. Und sicher ist es interessant einmal die eigenen Gewohnheiten in Bezug auf das Smartphone festzuhalten und zu beobachten. Vielleicht führt die Selbstreflexion und das Konzentrieren auf das eigene Verhalten sogar wirklich zu einer Veränderung der Nutzungspraktiken und damit zu einer Reduzierung von digitalem Stress – dies scheint der Reiz dieser Apps zu sein.

Sollten Sie bereits Erfahrungen mit einer konkreten Stress-App gemacht haben oder durch diesen Artikel motiviert sein, dies mal auszuprobieren, würden wir uns über einen kurzen Erfahrungsbericht (siehe Umfrage) freuen. Weitere Informationen zu unserem Projekt “Digitaler Stress im Medienalltag” finden Sie hier.

Bitte zitieren als: Stein, Svenja; Waldenburger, Lisa; Wimmer, Jeffrey (2021). Drei Schritte vor, ein Schritt zurück? – Apps zur digitalen Stressbewältigung 19.03.2021. Online verfügbar unter: https://scilogs.spektrum.de/gesund-digital-leben/apps-zur-digitalen-stressbewaltigung/

Literaturverzeichnis

Franke, Alexa (2012): Modelle von Gesundheit und Krankheit. 3., überarb. Aufl. Bern: Huber.

Franzkowiak, Peter; Franke, Alexa (2018): Stress und Stressbewältigung. Zugriff unter https://www.leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/stress-und-stressbewaeltigung/

Hofmann, Jana (2018): Medienstress durch Smartphones? Eine quantitative und qualitative Analyse. Köln: Halem.

Krainer, Larissa (2019): Digital Detox: Wenn Apps (!) helfen sollen, die Handynutzung zu reduzieren. Blogpost im Der Standard, Rubrik: Fall für die Wissenschaft. 28. Oktober 2020, Zugriff unter: https://www.derstandard.de/story/2000110277950/digital-detox-wenn-apps-helfen-sollen-die-handynutzung-zu-reduzieren.

Lazarus, Richard S. (1999): Stress and emotion. A new synthesis. New York: Springer.

MPFS (2016): Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: Jim Studie 2016. Jugend, Information, (Multi-) Media. Zugriff unter https://www.mpfs.de/studien/jim-studie/2016/

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lisa.waldenburger

Veröffentlicht von

Lisa Waldenburger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Medienrealität der Universität Augsburg. Sie forscht und bloggt zum Thema „Digitaler Stress im Medienalltag“ im Rahmen des bayerischen Verbundprojekts „Gesunder Umgang mit digitalen Technologien und Medien“ (ForDigitHealth).

5 Kommentare

    • Dies ist eine hervorragende Frage – und wie im Beitrag deutlich werden sollte – sind Apps zur digitalen Stressbewältigung nicht unkritisch zu sehen. Doch gerade bei digitalem Stress ausgelöst durch die ständige Angst, etwas zu verpassen und das routinemäßige „aufs Handy schauen“ bieten die Apps verschiedene Möglichkeiten, dass eigene Handeln zu hinterfragen und zu verändern. In diesem Sinne haben wir für den vorliegenden Beitrag uns das Angebot an Apps zur Stressbewältigung angeschaut und klassifiziert. Inwieweit die aufgelisteten Apps wirklich helfen können und welche anderen Maßnahmen (auch nicht digitaler Art) zur Reduzierung von digitalem Stress wirksam sind, werden wir in den kommenden Monaten vertiefend untersuchen. Schauen Sie doch dazu gerne regelmäßig auf unserer Webseite http://www.gesunddigitalleben.de vorbei!

      Und die einfache Antwort ist natürlich – die App nicht nutzen, wenn Sie mehr “neuen” Stress auslöst, als sie beheben könnte 😉

  1. Vielleicht kann man da Lazarus widersprechen. Die kognitive Bewertung kommt ja aus deinem bereits bestehenden Muster also man hat uns bereits so erzogen dass wir sooo und nicht anders reagieren. Diese Personen haben also “gelernt” dass Geduld und Ruhe kein Normalfall ist. Apps werden sie deswegen wahrscheinlich auch nur im Moment runterfahren., die Ursachen aber nicht beseitigen. Die eigentlich belastende Situation (Lazarus) verbirgt sich also hinter der zur Zeit belastenden Situation…

    • Vielen Dank für Ihr Kommentar. Wenn ich Sie richtig verstehe, müssen wir dazu nicht Lazarus widersprechen – in Anlehnung an Lazarus ist Stress ein akuter Zustand der aus den Anforderungen der Umwelt und der eignen Person und den Kompetenzen zur Bewältigung dieser Anforderungen besteht. Sind die Anforderungen höher als die subjektive Kompetenz diese zu bewältigen entsteht Stress. Die Apps können dabei zum einen helfen, die akuten Anforderungen an die Person zu reduzieren (kurzfristig) oder auch Handlungsroutinen, die häufig Stress auslösen, zu durchbrechen (langfristig). Das gesellschaftliche Prägungen eine wesentliche Rolle spielen, was wir als stressig empfinden, beziehungsweise als “normale” Arbeitslast verstehen, da stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu. Aber vielleicht eröffnen die Apps für manche NutzerInnen das Tor, um über das eigene Verhalten und die eigenen Muster nachzudenken und diese zumindest mal kritisch zu hinterfragen.

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