Wissenschaftler stimmen über eine mögliche Typlokalität für das Anthropozän ab

Kunstinstallation in 2013 von Robyn Woolston in der Nähe von Liverpool.

„Ob es nun ein geologischer Begriff wird oder nicht: Wir verändern die Welt.“

Erle C. Ellis

Im Jahr 1783 schlug der italienische Geologe Antonio Stoppani den Begriff “Antropozoico” vor, um das Zeitalter des Menschen zu bezeichnen. Die damaligen Geologen gingen davon aus, dass die Schöpfung zielgerichtet ist. Nach dem Zeitalter der unbelebten Erde – der Geosphäre – folgte demnach die Biosphäre – das Zeitalter des Lebens – und schließlich das Zeitalter des Menschen.

220 Jahre später greift der Chemiker Paul Crutzen die Idee auf, kehrt sie aber um – es ist nämlich der Mensch, der zielgerichtet die Geschichte der Erde beeinflusst. Laut Crutzen haben menschenverursachte Emissionen die chemischen Stoffkreisläufe der Erde derart verändert, das Spuren der menschlichen Aktivität nun auch in geologischen Zeiträumen nachweisbar sind.

Der Einfluss des Menschen auf das System Erde ist tatsächlich in den letzten 100 Jahren exponentiell gewachsen.

Die meisten Ökosysteme der Erde wurden durch den Menschen inzwischen so stark verändert, dass der Biologe Erle C. Ellis von einem regelrechten „Anthrom“ spricht – einen menschengemachten Lebensraum, an den sich andere Lebensformen anpassen müssen. Nur 23 Prozent der Erdoberfläche, zumeist unfruchtbare Regionen, sind vom Menschen verschont geblieben. Allerdings ist der menschliche Einfluss auch an den entlegensten Orten nachweisbar. Der Mensch hat Elemente wie Aluminium und Plutonium, die natürlich zumeist in Mineralien gebunden sind, in industriellen Mengen freigesetzt. Die Konzentration von Radioaktivität und Treibhausgasen in der Atmosphäre ist so schnell wie nie zuvor in der Geschichte der Erde angestiegen, wie Ablagerungen in Eisbohrkernen der Antarktis beweisen. Große Mengen von Mikroplastik sind im Marianengraben, den tiefsten Punkt der Erde, gefunden worden. Plastikteile und Glasscherben in Sedimenten werden wohl noch einige Millionen Jahre lang als menschengemachte Produkte erkennbar sein. Menschen bewegen durch Bergbau und auf Baustellen bis zu 10 Mal mehr Sedimente als alle natürlichen Prozesse zusammen. Und die zukünftigen Fossilien von gezüchteten Nutz- und Haustieren dokumentieren den direkten Einfluss des Menschen auf die Evolution, während zeitgleich viele Arten aussterben.

In den letzten 20 Jahren haben deshalb immer mehr Wissenschaftler vorgeschlagen, das „Anthropozän“ offiziell als neuen Abschnitt in die geologische Zeitskala einzuführen.

Um das Anthropozän als eine geologische Serie zu ratifizieren, muss allerdings zunächst eine Typlokalität definiert werden – eine Referenzstelle, an der die Gesteinsabfolge einen vollständigen Übergang von einem geologischen Abschnitt zum nächsten abdeckt.

Im Dezember letzten Jahres hat die Anthropocene Working Group (AWG) eine vorläufige Liste von 12 möglichen Typlokalitäten für das Anthropzän vorgestellt und ihre Vor- und Nachteile diskutiert.

Ablagerungen in Seen, Mooren oder anderen geschlossenen Becken haben den Vorteil einer zeitlich hohen Auflösung. In einem See lagert sich jedes Jahr eine dünne Schicht ab, die je nach Jahreszeit entweder aus Algenresten, chemisch ausgefällten Sedimenten oder eingeschwemmte Sand- und Tonpartikeln besteht. Diese Rhythmite können Veränderungen der Erosionsrate und der Umwelt im Einzugsgebiet eines Sees dokumentieren.
Wenn ein See verlandet, kann sich daraus ein Moor entwickeln. Spaghnum-Moose und andere Moor-Pflanzen wachsen das ganze Jahr lang und bilden im Laufe der Zeit dicke Torflager. In dem sauren und sauerstoffarmen Milieu können organische Reste besonders gut erhalten bleiben. Konservierte Pflanzenreste zeigen die Veränderung der Landschaft an, und vom Wind herangetragene Pollenkörner können die Ausbreitung von Kulturpflanzen durch den Menschen anzeigen.

Die AWG hat vier Lokalitäten dieses Typs vorgeschlagen: Seeablagerungen der Crawford Lake (Ontario, Kanada), Seeablagerungen des Searsville Reservoir (Kalifornien), Seeablagerungen der Sihailongwan Lake (Jilin Provinz, China) und Moorablagerungen auf der Schneekoppe in den Sudeten (Polen).

Meeresablagerungen werden zumeist mit einer kontinuierlichen Sedimentationsrate abgelagert und sind weniger der Erosion ausgesetzt als Sedimente am Land.

Das Gotlandbecken ist eines der Hauptbecken der Ostsee und ist eine von drei vorgeschlagenen Typlokalitäten im Tiefwasserereich. Über 200 künstliche Plattformen fördern Öl und Gas aus ihrem Untergrund und an den Küsten hat sich die Schwerindustrie – zusammen mit der dazu gehörigen Umweltverschmutzung – angesiedelt. Seit dem II. Weltkrieg dokumentieren hier die Zunahme an Kohlenwasserstoffe, Fragmente von metallenen Speziallegierungen und Müll den Einfluss des Menschen auf die Meere. Ähnliche Überlegungen gelten für den Vorschlag der Typlokalität in der Beppu Bay (Kyushu, Japan) und San Franciso Bay (Kalifornien, Vereinigte Staaten).

Korallenstöcke, die durch kalkige Ausscheidungen von Meerespolypen im flachen Gewässern gebildet werden, bilden ähnlich wie Bäume saisonale Wachstumsringe aus. Diese dokumentieren den Chemismus des Meerwassers und Veränderungen in den Lebensbedingungen der Korallen. Meerespolypen leben in Symbiose mit Algen, sie reagieren daher sehr empfindlich auf Umweltverschmutzung und erhöhten Sedimenteintrag durch Bergbau und von bewirtschafteten Feldern. Die zwei vorgeschlagenen Typlokalitäten sind das Flinders Riff an der Ostküste Australiens und die Korallenstöcke des West Flower Garden Bank im Golf von Mexiko. Das Flinders Riff dokumentiert auch den Beginn des Atomzeitalters. Die nuklearen Tests im Pazifik zwischen 1950 und 1960 führten zu einem deutlichen Anstieg der radioaktiven Elemente im Kalkgerüst der Polypen.

Die Eiskerne von der Palmer Station in der Antarktis dokumentieren nicht nur die Veränderung des Chemismus der Erdatmosphäre durch den anthropogenen Eintrag von Treibhausgasen und Feinstaub, sondern auch Veränderungen im Isotopengehalt durch den Eintrag radioaktiver Stoffe – Erbe des Wettrüstens während des Kalten Krieges – und Temperaturveränderungen, die in den kalten Regionen besonders schnell ansteigen.

Tropfstein-Ablagerungen in der Ernesto Höhle, Italien, dokumentieren chemische Veränderungen im Boden und Grundwasser, sowie Klimaveränderungen. Verdunstendes Sickerwasser lagert einen dünnen Film aus Kalk an einem aktiven Tropfstein ab, in manchen Fällen können sogar täglich Schichten gebildet werden. Der Kalkstein (CaCO3) enthält neben Spuren radioaktiver Elemente, die eine absolute Altersdatierung mittels radiometrischer Methoden ermöglichen, auch unterschiedliche Sauerstoffisotope, die Veränderungen in der Niederschlagsmenge und Lufttemperatur außerhalb der Höhle widerspiegeln.

Die Zunahme an Plastik in einer Deponie in der Umgebung von Wien, Österreich, dokumentiert die Entwicklung der modernen Wegwerfgesellschaft seit dem II. Weltkrieg, der durch menschliche Überreste stratigraphisch festgelegt werden kann.

Die Arbeitsgruppe hat bereits mehrere Vorschläge verworfen. Bei der Typlokalität in der Ernesto Höhle besteht das Problem, dass Veränderungen an der Oberfläche nur mit einer gewissen Verzögerung in Untergrund wirksam werden. Ein ähnliches Problem wurde bei Korallen beobachtet. Hier hinkt die Zunahme an radioaktiven Elementen den nuklearen Test um bis zu 5 Jahren hinterher, und Korallen in der südlichen Hemisphäre werden später radioaktiv als die in anderen Meeresgebieten, da Wind und Strömungen den radioaktiven Fallout der Nukleartests unterschiedlich schnell verbreiten. Bei Lokalitäten auf dem Land sind die Ablagerungen nicht vollständig genug um als Referenz zu dienen, wie zum Beispiel in der Umgebung von Wien oder San Francisco, wo die Sedimentation erst vor 70 Jahren beginnt.

Es bleiben noch 9 Lokalitäten im Rennen. Die AWG wird im kommenden Jahr die Auswahl weiter einschränken. Sollte man sich einig werden, werden die Vorschläge an die Kommission für Quartärstratigraphie weitergeleitet. Diese überwacht die stratigraphische Einteilung und Nomenklatur der letzten 2 Millionen Jahre Erdgeschichte. Der endgültigen Beschluss steht dann dem Internationalen Stratigraphischen Komitee zu, das Geologen aller Länder vereint und für die klassische geologische Zeitskala verantwortlich ist. Eine endgültige Entscheidung ist daher nicht vor 2024 zu erwarten.

Veröffentlicht von

David Bressan ist freiberuflicher Geologe hauptsächlich in oder, wenn wieder mal ein Tunnel gegraben wird unter den Alpen unterwegs. Während des Studiums der Erdwissenschaften in Innsbruck, bei dem es auch um Gletscherschwankungen in den vergangen Jahrhunderten ging, kam das Interesse für Geschichte dazu. Hobbymäßig begann er daher über die Geschichte der Geologie zu bloggen.

3 Kommentare

  1. Die vorgeschlagenen Typlokalitäten beruhen also alle auf zusätzlichen Stoffen/Isotopen, die ab einer bestimmten Zeitmarke in erhöhter Konzentration auftauchen.

    Das Anthropozän wirkt sich aber nicht nur additiv aus, sondern auch subtraktiv: bestimmte Tiere, unter anderem Grosssäuger, werden sehr viel seltener oder sterben aus. Wobei wir natürlich noch mitten in diesem Prozess sind. Es werden noch mehr Arten aussterben. Mir scheint aber, dass auch die Art und Anzahl der Fossilien das Anthropozän anzeigt.

    Vorausgesagt wird ja auch, dass schon an 1.5 Celsius Temperaturanstieg fast alle Korallenriffe – also etwa das Great Barrier Reef – absterben. Mir scheint, solch eine Änderung könnte man auch zu den mit dem Anthropozän verbundenen Typlokalitäten zählen.

  2. David Bressan schrieb (04. Jan 2023):
    > Wissenschaftler stimmen über […] Typlokalität für das Anthropozän ab

    Soviel zur Illusion, wenigstens Wissenschaft würde nicht durch Mehrheits- (oder Quorums-) Beschluss betrieben … (?).

    > […] Um das Anthropozän als eine geologische Serie zu ratifizieren, muss allerdings zunächst eine Typlokalität definiert werden – eine Referenzstelle, an der die Gesteinsabfolge einen vollständigen Übergang von einem geologischen Abschnitt zum nächsten abdeckt.

    Oh weh! — diese Artefakt-versessenen *ologen bzw. *ologinnen! …
    (Einschl. zumindest einiger *onomen bzw. *onominnen! …)

    > […] das[s] Spuren der menschlichen Aktivität nun auch in geologischen Zeiträumen nachweisbar sind.

    Ausgehend von der (so weit sachdienlichen) Bemerkung von Martin Holzherr (04.01.2023, 23:13 Uhr), dass »[auch geologisch] subtraktiv[e Veränderungen für Spuren gehalten]« werden könnten, bleibt abzuwarten, ob und ggf. wann die (demnächst per Beschluss identifizierte) “Typlokalität für das Anthropozän” in sub-geologischer Dauer weggebaggert bzw. -saniert wird;
    und ob das (insbesondere) eine Aktivität wäre, Spuren menschlicher Aktivität, die (bisher) auch noch in geologischen Zeiträumen nachweisbar gewesen wären, stattdessen (neuerdings) wesentlich schneller zu beseitigen.

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