Die Tektonik der Alpen: Von Doppel-Falten und Schubmassen

Lange Zeit rätselten die Geologen darüber, wie ein Gebirge eigentlich entsteht. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten stratigrafischen Profile erstellt, hauptsächlich in Ländern wie England, Frankreich und Deutschland. Hier ist die horizontale Schichtabfolge der Sedimente relativ ungestört erhalten. Für die Alpen wurde zunächst ein ähnlicher Aufbau angenommen. Die äußeren südlichen und nördlichen Zonen bilden die Sedimente des Erdmittelalters, die wiederum auf einen Kern aus umgewandelten magmatischen Gesteinen des Erdaltertums liegen.

Die Alpen, Ausschnitt aus der ersten geologischen Karte Mitteleuropas, 1821. Hellblaue Signatur im Norden und Süden=Alpen-Kalk (Sedimente), Grüne Signatur im Norden und Süden=Schiefer, Hellgelbe Signatur am Alpenhauptkamm=Granit-Gneis Formation.

Laut “vulkanischer Erhebungshypothese” entstehen Berge, wenn Sedimentschichten durch lokale magmatische Aktivität emporgehoben werden. Dabei werden die zunächst horizontalen Schichten verfaltet und umschließen wie bei einer Zwiebel den erkalteten magmatischen Kern. Mit der Zeit und neuen geologischen Karten wurde allerdings rasch klar, dass die angeblich symmetrische Gesteinsabfolge der Alpen wesentlich komplexer ist. Teilweise liegen hier ältere Gesteine auf jüngere Gesteine. Diese Geometrie war durch die Erhebungshypothese allein nicht erklärbar.

Geologischer Schnitt durch die “Tiroler Alpen” bzw. Dolomiten. Die Sedimentschichten werden hier durch magmatische Basalt- und Porphyrintrusionen verkippt und verstellt (Zeichnung der amerikanischen Illustratorin Orra White Hitchcock, 1796-1863).

Eine Weiterentwicklung war der “Nappismus oder Überfaltungslehre.” Nach dieser Hypothese bestehen die Alpen aus einer Anzahl von riesigen umgekippten Falten, die bei der Herauspressung der Sedimente aus dem Untergrund entstanden waren. Die Herauspressung wurde durch die ungleichmäßige Kontraktion des Erdballs erklärt. Da sich die Erde langsam aber stetig abkühlt, nehmen das Volumen und auch die Kugeloberfläche langsam ab. Um sich an den geänderten Durchmesser anzupassen, zerbricht die starre Erdkruste zunächst in große Schollen. Da der Erddurchmesser weiter abnimmt, werden diese Schollen gegeneinander gepresst. Sedimente, die in den Zwischenräumen abgelagert werden, werden zusammengepresst bis der Platz nicht mehr ausreicht. Es kommt zur Auffaltung, Heraushebung und schließlich zur Gebirgsbildung. Diese Hypothese ist nicht ganz abwegig. Kleinere Himmelkörper, wie der Mond, zeigen tatsächlich große Bruchlinien die auf Kontraktion hinweisen.

In 1878 veröffentlichte der Schweizer Geologe und Anhänger der Überfaltungslehre Albert Heim ein Profil der östlichen Glarner Alpen, wo er ein berühmtes geologisches Problem der Zentralalpen gelöst zu haben glaubte. Hier liegen nämlich ältere Sedimente des Perms (290 bis 252 Millionen Jahre) auf einer jüngeren Abfolge von Trias bis Alttertiär (252 bis 65 Millionen Jahre), in genau der umgekehrten Abfolge, in der diese Sedimente einst in einem Meeresbecken abgelagert wurden. Heim erklärte die umgekehrte Sedimentabfolge als zwei überkippte Falten, deren Scharniere sich am 2.223 Meter hoch gelegenen Foopass gegenüberliegen. Durch Erosion wurden anschließend die jüngeren Sedimente (gelb in der folgenden Abbildung) einseitig abgetragen. Schließlich wurden die älteren Sedimente (orange), die den Kern der Falten bilden, freigelegt.

Die “Glarner Doppel-Falte” sollte laut Albert Heim die seltsame Stratigraphie der Glarner Alpen erklären, setzte allerdings eine sehr komplexe Geometrie und Verformungsgeschichte der Alpen voraus (von einer 1894 Ausgabe der “Guide Géologique”).

Allerdings setzte die Überfaltungslehre eine sehr komplexe Geometrie und Verformungsgeschichte der Alpen voraus. Im Jahre 1884 interpretiert der junge französische Geologe Marcel Bertrand die “Schwyzer Doppel-Falte” völlig neu. Es handelte sich um einzelne Schubmassen, besser noch Decken, die um bis zu 40 Kilometer gegeneinander verschoben wurden. Dabei wurden ältere Gesteine von ihrem Untergrund abgeschert und über jüngere Gesteine geschoben. Leider wurde Bertrands Erklärung zu seiner Zeit weitgehend ignoriert. Erst die Arbeiten des Schweizer Geologen Hans Schardt, die zwischen 1893 und 1898 veröffentlicht wurden, machen das Konzept von tektonischen Decken populär und erst um 1904 wendet der französische Geologe Pierre-Marie Termier das Konzept auf die gesamte Gesteinsabfolge der Alpen an.

Das Schichteinfallen in den Zentralpen zeichnet die Richtung nach, in der die tektonischen Einheiten durch die Alpidische Orogenese, vor ungefähr 65 Millionen Jahre, verschoben wurden.

Die Idee der Alpen als eine Übereinanderstapelung von tektonischen Decken erhielt einen neuen Impuls mit der Veröffentlichung der “Kontinentaldrifthypothese” durch den deutschen Meteorologen Alfred Wegener. Laut Wegener zerbrach vor 65 Millionen Jahre der Großkontinent Pangaea, dessen verdriftete Bruchstücke die modernen Kontinente bilden. Der österreichische Geologe Otto Ampferer war der wegenerschen Hypothese sehr aufgeschlossen. Er selber hatte mit seiner “Unterströmungshypothese”, wobei tektonische Einheiten durch Magmaaufpressung auf der einen Seite und Aufschmelzung an der anderen Seite verschoben wurden, einen sehr ähnlichen Mechanismus bereits um 1906 auf die Alpen angewendet. Laut Kontinentaldrift kam es zur Kollision der einzelnen Kontinente untereinander. Dabei wurde der ehemalige Meeresarm zwischen Europa und Afrika zusammengeschoben. Je mehr sich Afrika den europäischen Kontinent annäherte, desto mehr wurden die Kalkalpen herausgehoben und auf die metamorphen Schiefer und Gneise der Zentralalpen geschoben. Aber wieder wurde diese Erklärung von der Fachwelt weitgehend ignoriert. Es sollte noch 60 Jahre dauern, bis die Weiterentwicklung der Kontinentaldrift, die moderne Plattentektonik, die Geologie der Alpen revolutionieren sollte (Fortsetzung folgt).

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David Bressan ist freiberuflicher Geologe hauptsächlich in oder, wenn wieder mal ein Tunnel gegraben wird unter den Alpen unterwegs. Während des Studiums der Erdwissenschaften in Innsbruck, bei dem es auch um Gletscherschwankungen in den vergangen Jahrhunderten ging, kam das Interesse für Geschichte dazu. Hobbymäßig begann er daher über die Geschichte der Geologie zu bloggen.

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